Führung on demand
Lars Vollmer im Interview: Wie Wertschöpfung in komplexen Märkten gelingt
Die Zeiten ändern sich und die Menschen und Märkte mit ihnen. Klassische Führung durch Anweisung und Kontrolle funktioniert daher heute in vielen Unternehmen nicht mehr. Doch welche Alternativen gibt es? Dr. Andrea Gruß sprach darüber mit Wirtschaftsautor und Unternehmer Prof. Lars Vollmer.
CHEManager: Herr Professor Vollmer, Sie vertreten die These, in Unternehmen wird zu wenig gearbeitet. Was bedeutet Arbeit für Sie?
Prof. L. Vollmer: Auf den Punkt gebracht: Arbeit ist Wertschöpfung. Oder wie es Reinhard Sprenger einmal ausgedrückte: Arbeit ist immer Arbeit für andere, sonst ist es Beschäftigung. Wenn wir heute mit diesem Maßstab auf alle Tätigkeiten in einem Unternehmen schauen, muss uns speiübel werden. Statt mit Arbeit verbringen Mitarbeiter und ihre Chefs häufig mehr als die Hälfte ihrer Zeit mit Tätigkeiten, die zwar wie Arbeit aussehen, aber keine Arbeit sind: Meetings, Jahresgespräche, Budgetverhandlungen, Reports, Genehmigungsprozeduren, Powerpoint-Basteleien, Unternehmensleitbildern, Organigramm-Malereien und vieles andere mehr – reines Business-Theater, das keine Wertschöpfung erzeugt, nicht dem Kunden dient und damit nur eines ist: Verschwendung!
Wer oder was hindert Mitarbeiter daran, wertschöpfend zu arbeiten?
Prof. L. Vollmer: Der klassische Reflex ist, aufeinander zu schimpfen. Der Chef auf die verantwortungslosen Mitarbeiter. Die Human-Resources-Abteilung auf die drögen Mittelmanager. Die Mitarbeiter auf die machtbesessenen Chefs. Und weil dann das neunte Change-Führungsleitbild-Werte-Organigramm-Projekt wieder nicht hilft, müssen wohl oder übel die handelnden Personen ausgetauscht werden und das Spiel beginnt von vorne. Das ist alles sehr leidvoll, wirkungslos und teuer.
Dabei blenden alle aus, dass nicht etwa die Spieler das Problem sind, sondern das Spiel selbst – also die Organisation der Arbeit, konkret das Konzept aus dem Industriezeitalter, Denken und Handeln in Hierarchien voneinander zu trennen, Unternehmen funktional zu zerstückeln und fast schon okkulten Planungsriten anzuhängen. Sie können es auch so ausdrücken: Die Organisation hält sich selbst von der Arbeit ab und wird infolge immer langsamer, argwöhnischer, unwirtschaftlicher oder auch sklerotisch, wie ich es gerne nenne. Die Organisation leidet unter sich selbst und die Mitarbeiter mit ihr.
Warum funktionieren die von Ihnen zitierten und über viele Jahre bewährten Managementmethoden heute nicht mehr?
Prof. L. Vollmer: Sie funktionieren noch. Aber eben nur da, wo es routiniert zugeht. Wo kaum Überraschungen lauern, wo es vollständiges Wissen über die zu lösenden Probleme gibt. Ich nenne das die „Wertschöpfung der Norm“. Hier kann die altväterliche tayloristische Organisation weiterhin ihre Stärke ausspielen, nämlich durch Prozesse und Regeln für Effizienz sorgen.
Nur mit Effizienz allein lässt sich heute auf kaum einem Markt noch ein Blumentopf gewinnen. Dafür sind die Märkte zu eng geworden und sie entwickeln sich viel zu schnell. Es gibt Überraschungen von Kunden oder Wettbewerbern im Wochentakt, nicht selten täglich oder gar stündlich. Und hier kollabiert die klassische Organisation. Es braucht etwas anderes, ein neues Konzept, eine „Wertschöpfung der Ausnahme“.
Welchen Prinzipien folgt die „Wertschöpfung der Ausnahme“?
Prof. L. Vollmer: Wertschöpfung der Ausnahme gesteht sich ein, dass es Probleme gibt, für deren Lösung kein ausreichendes Wissen existiert, eben weil die Situation komplex und kontingent ist. Das technisch und kommerziell anspruchsvolle Angebot an Kunden ist so ein Problem, aber auch die richtige Absatz-Dimensionierung von Produktionsmitteln, die Rekrutierung von Mitarbeitern, Innovation, Projektabwicklung und vieles mehr.
Doch wenn das Wissen für einen sicheren Erfolg fehlt, kann es folglich keine wirksamen Regeln und Prozesse geben. Die Steuerung durch Anweisung oder Policies läuft plötzlich ins Leere. Genau sie erzeugen dann das Business-Theater. Der organisationale Modus muss sich für diese Art der Wertschöpfung ändern. Die Struktur der Arbeit entsteht nicht mehr aus zentralen Anweisungen, sondern sie entwickelt sich aus sich selbst heraus als Reaktion auf die Anforderungen des Markts.
Blaupausen dafür gibt es nicht, aber es gibt wirksame Gestaltungsprinzipien: So braucht es beispielsweise machtbefreite Mannschaften von Könnern, die ohne Management-Firlefanz wie Jour fixes, Zielvorgaben oder Meilensteinen am echten Problem arbeiten dürfen, mit voller Transparenz und voller Verantwortung! Denn die Enthaftung zum entscheidungsbevollmächtigten Vorgesetzten ist nicht mehr möglich, eben weil es diesen im Team nicht mehr gibt.
Welche Art der Führung brauchen diese Teams, um erfolgreich zu sein?
Prof. L. Vollmer: Führung im strengen Sinne entsteht immer dann, wenn Menschen einer Person freiwillig folgen. Zum Beispiel weil sie Ansehen genießt und in einer bestimmten Situation eine plausible Idee formuliert. Der gute Vorschlag ist das was zählt. Und da Teams immer unterschiedlichen Situationen ausgesetzt sind, ist es zumeist nie nur eine Person, die plausible Ideen hat und der Führung zugesprochen wird. Führung in einem nichthierarchischen Umfeld entsteht spontan und wandert, sie ist temporär. Ich nenne das „Führung on demand“. Das ist kein neues Konzept, sondern vielmehr das natürlichste, was sich in sozialen Systemen beobachten lässt.
Diese Art der Führung muss daher in echten Teams auch nicht hergestellt werden, sie ist schon da. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, echte Führung zu verhindern, nämlich indem man eine Person mit formaler Macht ausstattet und sie Führungskraft nennt. Plötzlich kann der Vorschlag dieser Person nicht abgelehnt werden, ohne dass man mögliche Konsequenzen mitdenkt. Und schwupp, richtet sich der kollektive Blick nicht mehr ausschließlich auf das zu lösende Problem, also nach außen, sondern zunehmend nach innen, auf den Chef. Um es zuzuspitzen: Das Konzept des Industriezeitalters, die Rolle von Führung zu einer Stelle im Organigramm zu institutionalisieren, war ein gigantischer und folgenschwerer Denkfehler.
Ein Denkfehler, auf dem heute viele Unternehmensstrukturen basieren. Lassen sich denn die Strukturen eines etablierten Großkonzerns oder Familienunternehmens dahingehend ändern, dass „Führung on demand“ gelingt?
Prof. L. Vollmer: Selbstverständlich. Es ist ein moderner Mythos, dass Faktoren wie Größe oder Unternehmensalter eine Transformation signifikant beeinträchtigen. Denn wirksame Organisationsentwicklung geschieht nicht durch die Veränderung der Menschen im Einzelnen, sondern durch die Transformation von Wertschöpfungsorganisation, Teams, Arbeitszeitmodellen, Entgeltsystemen, Wissenszugang, Räumen und dem Weglassen höchst schädlicher Praktiken, wie 360-Grad-Feedbacks, Assessment Center, leistungsabhängige Vergütung, Meetingregeln, Kulturentwicklung, Mitarbeitergespräche, Absatzziele, Meilensteine, um nur einige zu nennen. Es geht also um die Arbeit am Führungs- und Organisationssystem, nicht um das Herumdoktern an Menschen.
Welche Rolle kann die Gewerkschaft als Sozialpartner in diesem Transformationsprozess spielen?
Prof. L. Vollmer: Unternehmen brauchen Widerstand, um sich weiterzuentwickeln. Für ihre Produkte und Dienstleistungen finden sie diesen Widerstand ausschließlich im Markt – der zeigt ihnen, ob sie gut sind oder einer Schnapsidee aufgesessen sind. Auch für die Organisationsstruktur ist der wesentliche Maßstab die Eignung zur Wettbewerbsfähigkeit. Und gleichzeitig muss die Struktur zu den Menschen passen, die in ihr tätig sind – in aller Individualität der einzelnen Lebensmodelle. Genau hier übernehmen die Sozialpartner seit je her eine moderierende Rolle.
Wenn aber zunehmend Selbstorganisation zur Lösung komplexer Marktprobleme gefordert ist, fehlt die Klassen-Unterscheidung, auf die die Gewerkschaften so dringend angewiesen sind. Die Klassen verschwinden nicht, aber sie verschwimmen. Wir werden daher aus meiner Sicht in den kommenden Jahren einen signifikanten Wandel der Sozialpartnerschaft erleben – und zum Wohle der Menschen auch erleben müssen.
Gilt dies, die Notwendigkeit eines signifikanten Wandels, auch für das deutsche Arbeitsrecht?
Prof. L. Vollmer: Man kann das deutsche Arbeitsrecht sicher begründet kritisieren, ich tue das auch immer wieder mal. Gleichzeitig kann ich nicht erkennen, warum es einen Unternehmer darin hindern sollte, schädliche Praktiken hinter sich zu lassen oder seine Organisation auf dynamische Märkte anzupassen. Dafür sprechen auch die bereits zahlreichen Beispiele für geglückte und offensichtlich gesetzeskonforme Transformationen.
An welche Beispiele denken Sie hier?
Prof. L. Vollmer: Ich habe dabei eine stark wachsende Beratungsgesellschaft vor Augen, die bei knapp 400 Fahrzeugen völlig gesetzeskonform ohne Dienstwagenregelung auskommt. Oder einen höchst erfolgreichen Maschinenbauer, der sein ganzes Unternehmen in selbstorganisierte Teams – ohne formalen Chef – strukturiert hat, die selbstständig alle Aufgaben von der Beschaffung bis zum Versand organisieren, inklusive der Arbeitszeiten, Entlohnung und Rekrutierung.
Sind selbstorganisierte Teams für Sie der Schlüssel zum Erfolg in zunehmend komplexen und sich schnell wandelnden Märkten?
Prof. L. Vollmer: Ja, Unternehmen brauchen ein Team-Prinzip, das an die Stelle des Herden-Prinzips des Industriezeitalters tritt. Das selbstorganisierte Team ist für mich der Gegenbegriff zur Herde. In vielen sehr erfolgreichen Unternehmen beobachten wir schon heute, dass die Organisation aus sich spontan bildenden, temporären und hierarchiefreien, hochkompetenten Teams bestehen, die im Blick auf bestimmte, von außen angelieferte Probleme entstehen und nach deren Lösung wieder auseinandergehen. Für diese Teams gilt keine übergreifende, vorgegebene Struktur. Entscheidend ist alleine die Passung zur Aufgabe.
Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Staat und Unternehmen sehe ich darin auch eine bemerkenswerte gesellschaftlich Utopie.