Das Berufsbild des Betriebsingenieurs wird sich in der Zukunft verändern
Aus dem „Schrauber“ wird der „Herr der Datenflut“
Um die Vorteile der Digitalisierung gewinnbringend nutzen zu können, wird der/die BetriebsingenieurIn der Zukunft, mehr ein Analytiker als ein „Schrauber“ sein.
Betriebsingenieure (männliche und zunehmend auch weibliche) sind die Garanten für reibungslose Produktionsabläufe und damit für den Produktionsstandort Deutschland von maßgeblicher Bedeutung. Zu ihren Verantwortungsbereichen gehören u. a. die Anlagenverfügbarkeit, die Instandhaltung sowie die Prozess- und die Anlagensicherheit von ganz unterschiedlichen Produktionsanlagen.
Ohne Sie läuft hier nichts
Im Unternehmen ist der Betriebsingenieur an zentraler Stelle tätig und vor allem verantwortlich für den sicheren Betrieb der Anlagen und die Instandhaltung. Sie vereinen drei wichtige Aufgaben in einer Person: das Assetmanagement, die Planung von Anlagen sowie deren Instandhaltung. Sie gewährleisten eine möglichst hohe Anlagenverfügbarkeit, eine reibungslose Projektabwicklung und verantworten zusätzlich die Dokumentation sowie die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben (Compliance). Betriebsingenieure sehen sich selber häufig noch als „Red Adair“ der Produktion, sind eigentlich unabkömmlich und im Notfall, d. h. Produktionsausfall, immer als erste vor Ort. Abwasser-Leckagen werden da auch schon mal mit „eingefetteten Socken“ behoben, bis der Fachbetrieb das neue Rohr geliefert hat (s. CITplus 6/2013, S. 6ff). Aus diesem Grund hatten die ursprünglich als zentrale VDI-Workshops geplanten Veranstaltungen keine Zukunft und das erfolgreiche Konzept der VDI-Regionalgruppen an den großen Chemiestandorten wurde entwickelt. Der Betriebsingenieur hat meist wenig Zeit, daher sind die kurzen Wege der unschlagbare Vorteil für die Regionalgruppen. Fortbildung direkt vor der eigenen Betriebs-Haustür – organisiert von seinesgleichen, so etwas findet man nicht häufig.
Die Bedeutung der Betriebsingenieure in der chemischen Industrie für den Produktionsstandort Deutschland wurde von den Führungspersönlichkeiten der VDI-Gesellschaft für Verfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen (VDI-GVC) schon früh erkannt. So wurde bereits 2005 auf Initiative von Dr. Ralf Goedecke, vormals Degussa, sowie Dr. Sebastian Zeck, vormals BASF, die sogenannte VDI-Informationsplattform für Ingenieure in der Produktion innerhalb der VDI-GVC gegründet. Diese wurde durch den damaligen Bayer-Vorstand Achim Noack maßgeblich unterstützt und kontinuierlich weiterentwickelt. Unter diesem Dach organisierten sich bis 2015 fünf Regionalgruppen vom „Bayerischen Chemiedreieck“ (Gerhard Bauer, Wacker Chemie) über „Rhein-Main-Neckar“ (Manfred Dammann, Bilfinger), „Rhein-Ruhr“ (Christian Poppe, Covestro) und „Mitteldeutschland“ (Arne Wasner, MinAscent Leuna) bis zur Gruppe „Westfalen“ (Jürgen Mosler, Otger Harks, Evonik). Im Februar 2015 kam die sechste und bislang letzte Gruppe „Nord“ unter der Leitung von Falk Beyer, HAW Hamburg, und Kai Freudenthal, DOW Chemicals, hinzu. Damit etablierten die engagierten Moderatoren der Regionalgruppen wichtige Netzwerktreffen an den großen Chemiestandorten Deutschlands – und das für eine Berufsgruppe, die nie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, aber ohne die eine Produktion nicht möglich ist. Diese beeindruckende Erfolgsgeschichte ist mit den derzeit sechs Regionalgruppen sicher noch nicht abgeschlossen: auch in anderen Regionen Deutschlands, wo es eine ausreichende Dichte an Produktionsstandorten der Prozessindustrie gibt, wird es eines Tages Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch geben.
Fachliche Heimat
Im Rahmen der Umstrukturierung der VDI-GVC im Jahr 2013 unter der Federführung der neuen Geschäftsführerin Dr. Ljuba Woppowa wurde der großen Bedeutung der Betriebsingenieure konsequent Rechnung getragen und ein eigenständiger Fachbereich GVC03 „Betrieb verfahrenstechnischer Anlagen“ gegründet. Ingenieure in der Produktion tragen eine hohe Arbeitsbelastung und müssen oft für Entscheidungen von großer Tragweite einstehen. Meist sind sie dabei allein verantwortlich und hatten bis dato fast keine Lobby. Mit dem neuen VDI-Fachbereich hat die Berufsgruppe der Betriebsingenieure erstmals und endlich eine fachliche Heimat gefunden.
Dipl.-Ing. Jens von Erden, BASF, und Dr. Christian Poppe, Covestro, wurden im Mai 2015 als Vorsitzende des neuen VDI-Fachbereichs gewählt und haben diesen seitdem zusammen mit dem GVC-Vorsitzenden Dr.-Ing. Claas-Jürgen Klasen, Evonik Industries, konsequent aufgebaut. Gemeinsames Ziel ist es, diese Berufsgruppe bestmöglich zu unterstützen und angepasste Fortbildungsmöglichkeiten zu schaffen, damit die Ingenieure ihre verantwortungsvolle Tätigkeit erfolgreich erfüllen können. Weiterhin sollen die Sichtbarkeit und damit verbunden auch das Ansehen der Betriebsingenieure als wichtige Berufsgruppe für den Erhalt des Produktionsstandorts Deutschland erhöht werden. Jens von Erden stellt klar den Mehrwert Maintenance anstelle des Kostentreibers Instandhaltung in seinen Fokus (s. CITplus 4/2016, S. 6ff).
Gemeinsam sind wir stärker
Die Betriebsingenieure schultern eine große Verantwortung und stehen oft unter zeitlichem Druck. In vielen Fällen sind die täglichen Herausforderungen in den Betrieben ähnlich und von neuen gesetzlichen Regelungen oder neuen Technologien getrieben. Beim unternehmensübergreifenden Austausch gewinnt jeder die Erkenntnis, „mir geht es nicht alleine so“. Das beruhigt und hilft, gemeinsam Lösungsansätze für aktuelle Aufgaben zu finden. Mit der Neugründung des VDI-Arbeitskreises „Regionalgruppe Nord“ geben sich seit 2015 die Betriebsingenieure im Großraum Hamburg, Schleswig-Holstein bis Niedersachsen gegenseitig praxisbezogene Hilfestellungen. Der Ausbau der Aktivitäten spiegelt sich auch in der Umorganisation der Regionalgruppen und der Aufnahme als VDI-Arbeitskreise in die VDI-Bezirksvereine wider. Alle regionalen Treffen richten sich an wichtige Mitglieder- und Interessengruppen und sprechen Teilnehmer aus den bedeutenden ansässigen, nationalen und internationalen Unternehmen an.
Die enge Verbindung zwischen regionalen VDI-Arbeitskreisen und zentraler VDI-Gesellschaft ist von großem Vorteil und erhöht die Sichtbarkeit und Strahlkraft der VDI-Aktivitäten in der jeweiligen Region. So werden regelmäßig Reportagen über die aktuellen Themen der Treffen in der Reihe „Ohne SIE läuft hier nichts“ exklusiv in dieser Fachzeitschrift veröffentlicht.
Neuer VDI-Zertifikatslehrgang
Wichtigster Baustein des VDI-Fachbereichs „Betrieb verfahrenstechnischer Anlagen“ sind auch heute noch die Treffen der Regionalgruppen bzw. der neuen VDI-Arbeitskreise – und werden es auf lange Zeit bleiben. Damit werden den Ingenieuren in der Region an den wichtigen Chemie-Standorten Deutschlands kostenlose Fortbildungsveranstaltungen angeboten. Ergänzt werden diese regionalen Aktivitäten durch die Jahrestreffen der Betriebsingenieure, die am 10. November 2017 bereits zum achten Mal in Frankfurt stattfinden. Regional und zentral werden aktuelle, praxisorientierte Themen aus dem betrieblichen Umfeld behandelt, die zur Gewährleistung einer sicheren und störungsfreien Produktion in der chemischen Industrie erforderlich sind. In den VDI-Regionalgruppen und den zentralen Jahrestreffen besteht nun dauerhaft Gelegenheit, Netzwerke zu knüpfen sowie den regionalen und überregionalen Informationsaustausch für die eigene Praxis zu nutzen.
Um dem anstehenden Generationenwechsel bei den Betriebsingenieuren und dem befürchteten Know-How-Verlust zu begegnen, wurde in Zusammenarbeit mit dem VDI Wissensforum ein ausgefeilter Zertifikatslehrgang als gezielte Weiterbildungsmaßnahme für Ingenieure in der Produktion konzipiert und Anfang 2016 gestartet. Junge Ingenieure übernehmen immer früher die Verantwortung für ihre Anlagen und können deren bestmögliche Verfügbarkeit mangels Erfahrung nicht immer garantieren. Viele Kompetenzen des Berufsbildes Betriebsingenieur werden im Studium nicht behandelt. Der neue Zertifikatslehrgang „Betriebsingenieur VDI“ besteht daher aus vier Pflichtmodulen, die von erfahrenen Industrievertretern betreut werden und wichtiges Basiswissen aus der Praxis vermitteln. Er umfasst in den Pflichtmodulen die Themen Grundlagen eines Betriebsingenieurs und Management von Betreiberpflichten, Assetmanagement, Instandhaltungsmanagement und Planung sowie Projektmanagement. Diese Pflichtmodule werden durch drei Wahlmodule ergänzt, die je nach Ausbildungsstand oder angestrebter Ausrichtung frei gewählt werden können. Hierfür steht aus dem umfangreichen Portfolio des VDI Wissensforums eine große Seminar-Auswahl zur Verfügung. Neben dem großen Wissensvorsprung für die Teilnehmer besteht der große Vorteil für die Unternehmen in einer deutlichen Reduktion der Ausbildungs- und Einarbeitungsdauer zum Betriebsingenieur. Durch die Expertise und jahrelange betriebliche Tätigkeit der Referenten erhalten die Teilnehmer in kompakter Form Zugang zu Wissen, das sie nirgends an einer Hochschule bzw. Universität so vermittelt bekommen.
Neues Richtlinienprojekt VDI 2770
Betriebsingenieure sind in ihren Betrieben für die Einhaltung von Gesetzen und technischen Regeln, d. h. für die Compliance verantwortlich. Im Frühjahr 2016 hat sich auf Initiative von Dipl.-Ing. Christoph-Attila Kun, BASF, erstmals ein VDI-Richtlinienausschuss gegründet, in dem die Betriebsingenieure ihre eigene technische Regel schreiben: VDI 2770 Mindestanforderungen an digitale technische Herstellerinformationen für die Prozessindustrie.
Die Unternehmen der produzierenden Industrie in Deutschland beschaffen jedes Jahr mehr als 5.000.000 technische Güter für die Instandhaltung, sowie die Erweiterung und den Neubau von Produktionsanlagen. Zu all diesen technischen Gütern gehören Herstellerunterlagen, die während des gesamten Lebenszyklus des technischen Gutes zwingend benötigt werden. Diese Herstellerunterlagen enthalten Informationen, die für die richtige Auslegung, Aufstellung, Inbetriebnahme, Ersatzteilbevorratung, Bedienung, Reinigung, Inspektion, Wartung und Instandsetzung erforderlich sind. Darüber hinaus gibt es gesetzliche Bestimmungen, die das Vorhandensein bestimmter Herstellerunterlagen, wie z. B. CE-Konformitätserklärungen, ATEX -Zertifikate oder Werkstoffzeugnisse, vorschreiben.
Die Übertragung dieser Informationen in die IT-Systeme der Anlagenbetreiber ist – aufgrund fehlender Standardisierung der Beschaffenheit der Herstellerinformationen – mit einem erheblichen und heute nicht mehr zeitgemäßen Aufwand für die Betreiber verbunden. Die geplante Richtlinie VDI 2770 Blatt 1 soll zukünftig die Beschaffenheit von Herstellerinformationen hinsichtlich der Eigenschaften: Struktur, Umfang, Inhalt und Datenformat vereinheitlichen.
Die Richtlinie VDI 2770 soll damit Betreibern und auch Herstellern eine große Erleichterung bringen und die Weichen für die Zukunft stellen: Denn mit der Konstituierung der VDI 2770 wird der Betriebsingenieur vom passiven Anwender zum aktiven Gestalter und Innovationstreiber für Industrie 4.0 in der chemischen Industrie.
Mehrwert Maintenance
Proaktive Instandhaltung gilt seit langem als die wirtschaftlichste und wirksamste Form, um die geforderte Verfügbarkeit prozessindustrieller Anlagen sicherzustellen. Sie bietet einen signifikanten Hebel, um den Mehrwert für das Gesamtunternehmen durch die kontinuierliche Optimierung der Anlagenzuverlässigkeit, die Steigerung der Instandhaltungseffizienz bis hin zur Sicherung der „License to Operate“ und dem Werterhalt der Anlagen nachhaltig zu steigern.
Der Instandhaltung kommt eine Schlüsselfunktion zu, die primär die Produktionsfähigkeit sicherstellt und darüber hinaus Freiheitsgrade für eine Flexibilisierung signifikanter Anteile der Herstellkosten in einem volatilen Geschäftsumfeld ermöglichen kann. Dabei baut sie auf jahrzehntelangen Erfahrungen auf. Strenge gesetzliche Regelungen schaffen die Basis für einen sicheren Betrieb. Asset und Maintenance Management Prozesse sowie eine auf Verfügbarkeit und Effizienz optimierte Serviceinfrastruktur zielen darüber hinaus auf eine optimierte Unterstützung der Produktion ab.
Blick in die Zukunft: 100 % digital?
„Digitale Instandhaltung“, „Augmented reality“, „Remote Condition Monitoring“: mit diesen Schlagworten und den damit verbundenen hohen Erwartungen sieht sich der Betriebsingenieur von heute konfrontiert.
Die Ausstattung von bestehenden Anlagen mit einer Vielzahl von Sensoren, die sofort erkennen, wenn es irgendwo „unrund“ läuft, hört sich einfach und plausibel an. In der Realität ist dies jedoch nicht so einfach, denn obwohl auch heute schon mit den vorhandenen Sensoren eine große Menge an Daten erzeugt wird, so ist doch die Interpretation dieser Daten die große Kunst. Wie wird man der Datenflut Herr? Wie werden Daten interpretiert, die sich herkömmlichen statistischen Methoden entziehen? Demzufolge kommt den Algorithmen, die aus den riesigen Datenmengen letztlich verwertbare Informationen machen (artificial intelligence) eine große Bedeutung zu. Für den Betriebsingenieur ist es derzeit fast unmöglich, diese Datenverarbeitung nachzuvollziehen. Diese Fähigkeiten müssen den Mitarbeitern zukünftig vermittelt werden. Plausibilitätsprüfung und Hinterfragen der Ergebnisse werden immer wichtiger, um blindes Vertrauen und vorschnelle Entscheidungen zu vermeiden. Der Betriebsingenieur wird in immer selteneren, dafür aber komplexeren und kritischeren Situationen richtige Entscheidungen treffen und Handlungen mit weitreichenden Konsequenzen ausführen müssen. Grundlage seines Handelns wird aber auch in der Zukunft das fundierte Wissen über Anlage und Technik sein. Die Digitalisierung wird den Arbeitsschwerpunkt vom Management einer ungeplanten Anlagenentstörung hin zum Management einer ursachengerechten Instandhaltungs- oder Erneuerungsmaßnahme zum optimalen Zeitpunkt verschieben. Hierzu ist Beurteilungs- und Beauftragungskompetenz auch weiterhin der Schlüssel zum Erfolg! Um die Vorteile der Digitalisierung und die damit einhergehende Transparenz über Vorgänge in den Anlagen gewinnbringend nutzen zu können, wird der Betriebsingenieur der Zukunft mehr ein Analytiker als ein „Schrauber“ sein. Sein Berufsbild wird somit durch die technologische Weiterentwicklung nicht in Frage gestellt aber es wird sich verändern.
Aus diesem Grund geht es nicht nur darum, die methodischen und technischen Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern, vielmehr müssen die Menschen in diesem Veränderungsprozess mitgenommen und von Beobachtern oder „Betroffenen“ zu Gestaltern der digitalen Zukunft werden.