Von der Natur inspiriert
Materialien aus der Chemischen Industrie in bionisch entwickelten Produkten und Verfahren
Bionik verbindet interdisziplinär Biologie und Technik mit dem Ziel, technische Fragestellungen zu lösen (VDI 6220, Blatt 1). Biologische Vorbilder in diesem Sinn sind „biologische Prozesse, Materialien, Strukturen, Funktionen, Organismen sowie der Prozess der Evolution“ (Biokon e.V.). Die in der belebten (und unbelebten) Natur gesuchten und gefundenen Prinzipien werden abstrahiert, in eine technische Lösung übertragen und in neuen Anwendungen genutzt.
Neben der Konstruktionsbionik, die bei Opel in Rüsselsheim etabliert ist oder der Organisationsbionik, die Malik bekannt gemacht hat, sind verfahrenstechnisch geprägte, bionische Entwicklungen unter dem Stichwort der molekularen Bionik zu finden. Sie ist definiert als Entwicklung biotechnologischer, biochemischer und polymerchemischer Verfahren mit dem Ziel, neuartige biomimetische Strukturen zu generieren und besagt, dass die bionisch entwickelten Produkte auch aus der Polymerchemie stammen können: Bestes Beispiel hierfür ist der von dem Schweizer George de Mestral 1941 entwickelte Klettverschluss, der „bottom up“ beim wiederholten Entfernen von Klettfrüchten aus der Mähne seines Hundes den „Velcro“ entwickelte.
Molekulare Strukturen lieferten Vorbilder für neue Materialien mit sehr speziellen Eigenschaften und Materialien, die zugleich konstruktive Anforderungen erfüllen. Spätestens seit den Erfolgen der Lotus-Fassadenfarbe ist der Lotuseffekt mindestens allen Farbenherstellern und -anwendern bekannt. Auf molekularer Ebene betrachtet werden neuartige Funktionsweisen erschlossen, um schneller, sicherer und nachhaltiger ein bestimmtes Ziel bottom-up zu erreichen, z.B. Werkstoffe miteinander zu verbinden oder top-down, wie der unten beschriebene, 1991 am IBV bionisch entwickelte biologische Entroster. Döhler et. al. (Chemie in unserer Zeit, 2015) berichten anschaulich ihre Suche nach biomimetischen Materialien und Vorbildern der Natur zum Thema „Selbstheilende Polymere“.
Top-down-Entwicklungen in der molekularen Bionik
Überwiegend haben die Bioniker bei den am Markt angekommenen Produkten und Verfahren top-down ein verfahrenstechnisches Problem gehabt, zu dem eine Analogie in der Natur gesucht wurde: Auf der Website des Kompetenznetzwerks Bionik finden sich viele Beispiele:
- Selbstheilende Risse für Langlebigkeit (Ficus-Pflanze → Auspuffaufhängung)
- Oberflächenstrukturen für giftfreies Antifouling (Haihaut → Schiffanstriche)
- Nanostrukturen für klebstofffreies Haften (Gecko → Klebefolie)
- Lufthaltende Schichten zur Reibungsreduktion (Schwimmfarn → Schiffsbeschichtung)
- Technische Textilien für vertikalen Flüssigkeitsferntransport (Liane → Bewässerungssysteme)
- Fruchtschalenstrukturen zur Stoßdämpfung (Pampelmuse → Motorradhelm)
- Naturprodukte für Hightech-Materialien (Spinnenseide → Filtermaterialien)
Die molekulare Bionik findet sich auch in speziellen Kategorien wieder, wie der Oberflächen-Bionik (z.B. enzymatische Oberflächen- und Riefen-Reiniger) oder der Material-Bionik: Lackner et al. berichten über eine bionisch entwickelte Beschichtung zum Verschleißschutz von chirurgischen Instrumenten oder aus der Energie-Bionik erläutern Diego Sampedro et al. einen UV-Filter, der den Sonnenschutzfaktor in hohe Höhe treibt und die Wärme unschädlich abführen kann.
Der biologische Entroster des IBV
Ausgang für eine bionische top-down Entwicklung ist es, das Problem auf den Kern zu bringen, um bspw. aus der meist komplexen Realität ein vereinfachtes Modell zu abstrahieren. Im vorliegenden Fall war es die Skizze eines Fachmanns auf die Frage: Wie sieht eigentlich eine Rostpustel aus? Mit dem Ergebnis, dass eine Rostpustel aus ganz diversen mehrwertigen Eisenverbindungen, vorwiegend aus rot und braun schimmernden drei-wertigen Eisenoxid-Hydroxiden, besteht.
Bei der Suche nach „dreiwertigem Eisen“ in der Natur weiß schon jedes Kind, dass z.B. die roten Blutkörperchen Eisen enthalten. Sie transportieren Sauerstoff (und CO2) aus der Lunge z.B. ins Gehirn und zu den Muskeln. „Da die Atmung, also der Sauerstofftransport, für uns Menschen überlebenswichtig ist, muss es beim Menschen und in der Natur doch Speichersysteme für Eisen geben?“, denkt der Bioniker, um im Falle eines Blutverlustes rasch diese essentiellen Blutkörperchen neu bilden zu können. Ein solches Molekül heißt Ferritin, es kann mehrere 1.000 Eisenatome speichern, schreibt Schlegel schon 1987 in seinem Lehrbuch „Allgemeine Mikrobiologie“.
Logischerweise folgert der Bioniker weiter, dass es in der Natur auch noch Transporter geben muss, die einerseits Eisen aus dem Speicher holen und dort hinbringen, wo eisenhaltige Moleküle zusammengebaut werden. Darüber hinaus muss es weiterhin Transporter geben, die Eisen auch aus der Umgebung einer Zelle in die Zelle bringen, da bis auf seltene Ausnahmen jede Zelle zum Wachsen Eisen benötigt. Solche findet man im Abschnitt „Transport von Eisen“ beim „Schlegel“: Dort steht sinngemäß: Siderophore sind natürliche Komplexbildner, von denen über 200 mit Komplexbildungskonstanten zwischen 1023 und 1052 für dreiwertiges Eisen bei pH 7 bekannt sind. Siderophore werden von Mikroorganismen und Pflanzen eisenfrei in die Umgebung quasi als Space-Shuttle ausgeschieden, um Eisen(III)-Ionen zu binden. Es entsteht ein Eisen-Siderophor-Komplex, der in den Organismus über spezifische Rezeptor- und Transportsysteme wieder hinein transportiert wird. Auf diversen Wegen wird das Eisen aus dem Komplex herausgelöst und der Zelle dann als Eisen(II)-Ion zur Verfügung gestellt. Eine Komplexbildungskonstante von 1052 besagt übrigens, dass das Siderophor in der Lage ist, aus Fensterglas Eisen herauszulösen. Ohne Siderophore gäbe es kein Klärschlammproblem, aber auch nicht die konventionelle, aerobe biologische Abwasserreinigung.
Am Markt gab es 1992 ein Medizinprodukt namens Desferal, das Hans Zähner an der Universität Tübingen in den 1970er Jahren zunächst als Antibiotikum erforscht und im Kilogramm-Maßstab fermentiert hatte. Heute wird es als Suffix vor der Dialyse (Nierenspülung) eingesetzt, um Eisen-Ausfällungen vor der Dialysemembran zu verhindern.
Damit war – auch wenn es sehr teuer war – ein Molekül gefunden, mit dem man die Flugrost-Pusteln von den Metalloberflächen biologisch entfernen können sollte. Was auch erfolgreich in einem Becherglas-Versuch gezeigt werden konnte (Grafik 1). Seit 1992 arbeiteten am Institut für Biologische Verfahrenstechnik der (Fach-)Hochschule Mannheim mehr als zwei Dutzend Biologen, Mineralogen, Biotechnologie-, Chemie- und Verfahrens-Ingenieure an den Grundlagen und deren Umsetzung, angefangen bei der Entrostung von Stahloberflächen bis hin zur Fermentation eines alternativen Siderophors, da das Medizinprodukt nicht verwendet werden durfte.
Eine erneute Herausforderung war die Entfernung von Anlauffarben von hochlegierten, nicht rostenden Stählen (Grafik 2), bei denen die spannende Aufgabe war, wie man die Chrom-verarmte Zone biologisch bzw. mit Naturprodukten entfernen kann. Mit ein paar Kilogramm Desferrioxamin B, gespendet von Novartis, Basel konnten die systematischen Untersuchungen fortgesetzt und eine Produktformulierung gefunden werden, die auch Anlauffarben und Rouging entfernen kann.
Seit 2000 forschten Dr. Arno Cordes, Geschäftsführer der ASA Spezialenzyme in Wolfenbüttel, und seine Mitarbeiter auf dem Thema mit und etablierten einige spezifische Produktformulierungen als Gel oder im Tauchbad – mit dem Ergebnis, dass die Firma heute biologische Entroster-Produkte anbieten kann, die – noch – bezahlbar sind. Bei Würth, Künzelsau heißt das Produkt schlicht „Rost-Ex-Gel“.
Bei der Entrostung werden die Tauchbäder auf den von der Haut her bekannten pH-Wert 5,5 eingestellt. Da die Inhaltsstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen fermentiert werden, sind sie auch biologisch abbaubar (und können bedenkenlos in biologischen Abwasseranlagen den dortigen Eisenstoffwechsel begünstigen). Sie sind aber noch besser als Substrat für Pflanzen einsetzbar, die an Eisenmangelkrankheiten leiden. Im Übrigen sind sie recyclierbar.
Grafik 3 zeigt eine sehr stark angerostete Nabe, von der in einer Behandlungszeit von 10 min der vorhandene Rost komplett entfernt werden konnte. Durch das nachfolgende Spülen, Aufbringen von Rostschutzmittel und Trocknen mit Heißluft konnte die für die Serienproduktion geforderte Qualität der Komponenten erreicht werden.