Strategie & Management

Naher Osten – mehr Chancen als Risiken für die Chemieindustrie

Saudi-Arabien bietet günstige Energie und Grundstoffe, der Iran diversifizierte Strukturen und qualifiziertes Personal

22.05.2017 -

Die Chemieindustrie im Nahen Osten verdient gut mit Basischemikalien, produziert aus lokalem Erdöl oder Erdgas. Zahlreiche Großinvestitionen der Branche in den vergangenen Jahren sollen den Weg zu Produkten mit höherer Wertschöpfung ebnen. Doch der durchschlagende Erfolg bleibt aus. Dr. Andrea Gruß sprach mit Martin Erharter, Senior Partner und Global Head Chemicals & Pharma, und Heiko Ammermann, Senior Partner, bei Roland Berger, über die unterschiedlichen Voraussetzungen und Hürden der Chemienationen im Nahen Osten.

CHEManager: Herr Erharter, welches sind die wichtigsten Chemienationen in der Region Naher Osten?

Martin Erharter: Als erstes sind hier die Staaten des Gulf Cooperation Council, kurz GCC, zu nennen – an erster Stelle Saudi-Arabien, dann die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait, Katar und Oman. Hinzu kommt der Iran. Im Libanon gibt es Gasförderung, aber die chemische Industrie dort ist weniger relevant.

Und wer sind die größten Player im Chemiemarkt?

Heiko Ammermann: Der größte ist mit Abstand SABIC. Des Weiteren gibt es die saudi-arabische Erdölgesellschaft Saudi Aramco, die künftig auch als Produzent von Basischemikalien agieren will, oder Adnoc in Abu Dhabi. Dann folgen schon die großen staatlichen Gesellschaften im Iran, die gerade alle stark restrukturieren. Sie sind teilweise von der Exploration von Öl und Gas über die Raffination bis hin zur Feinchemikalienproduktion aktiv. Auch in Kuwait und dem Oman gibt es nationale Ölgesellschaften. Die meisten privatwirtschaftlichen Chemieunternehmen in der Region spielen klar ein, zwei Ligen unter diesen großen Playern.

Wo liegen die wesentlichen Herausforderungen für diese Unternehmen?

Martin Erharter: Viele der Unternehmen richten gerade ihre Geschäftsmodelle ‚downstream‘ entlang der Wertschöpfungskette aus und tätigen hohe Investitionen, wie zum Beispiel Aramco, das gemeinsam mit Dow im Rahmen des Joint Venture Sadara 20 Mrd. USD in den größten integrierten Chemiekomplex der Region investiert. Das geschieht in einer Zeit, in der die Wettbewerbsfähigkeit der Chemieindustrie im Mittleren Osten sich nicht gerade verbessert. Denn auf der einen Seite sinkt der Ölpreis und damit die Einnahmen der erdölfördernden Unternehmen. Auf der anderen Seite steigt der Preis für Gas, das immerhin 70 % des Rohstoffs für die Chemieproduktion in dieser Region ausmacht. Zudem sind speziell Unternehmen in Saudi-Arabien aufgrund nationaler Vorschriften gezwungen, die Wertschöpfung im eigenen Land zu belassen, um die Beschäftigung dort zu fördern.

Heiko Ammermann: Es gibt zwar erste Erfolge in Bezug auf die Downstream-Aktivitäten im Nahen Osten, so werden dort zum Beispiel Standardkunststoffe und Dünger produziert, doch viele Unternehmen agieren noch in ihren alten Geschäftsmodellen und betreiben riesige Anlagen mit hohem Investment und wenig Personal. Sie sind noch weit weg von den hochmargigen Produkten, wie sie die deutsche Fein- und Spezialchemie produziert. Einen Grund dafür sehe ich in den fehlenden Kundenindustrien, in deren Supply Chain sich die Chemieindustrie im Nahen Osten integrieren könnte.

Gilt das auch für Saudi-Arabien?

Martin Erharter: Ja, Saudi-Arabiens Chemie fehlen vergleichbare Abnehmermärkte, wie sie zum Beispiel die Automobilindustrie für die deutsche Chemieindustrie darstellt. Zwar redet man in Saudi-Arabien viel über Smart Mobility, aber hier träumt man vom dritten Schritt, bevor man den zweiten gegangen ist. Denn neben Kundenindustrien fehlt es meines Erachtens auch an Innovationsgeist. Anders als zum Beispiel im nahe gelegenen Israel, hier gibt es einen stark ausgeprägten Willen zu nachhaltigen Entwicklungsprozessen. Wer sich heute mit Elektromobilität beschäftigt, kommt an den Hightech-Unternehmen Israels nicht mehr vorbei.

Heiko Ammermann: Richtig. Denn dort gibt es auch eine erfolgreiche Start-up-Szene mit einer Finanzierungslandschaft, die der in den USA vergleichbar ist. Was in Israel jedoch fehlt, ist eine starke Produktionsbasis, wie die der deutschen Automobilindustrie.

Eingangs nannten Sie auch den Iran als Chemienation im Nahen Osten. Was zeichnet die Struktur der iranischen Chemieindustrie aus, zum Beispiel im Vergleich zu der Saudi-Arabiens?

Heiko Ammermann: Im Gegensatz zu Saudi-Arabien hatte der Iran bereits vor 30 Jahren eine sehr ausdifferenzierte Wirtschaft. Um beim Beispiel der Automobilindustrie zu bleiben: Es gab dort Lizenzfertigungen für Peugeot und Renault. Auch die Chemieindustrie war voll ausdifferenziert mit Farben- und Lackherstellern oder Produzenten von Pharmawirkstoffen. Durch die Sanktionsjahre sind die Unternehmen heute technisch im Rückstand und haben einen riesigen Nachholbedarf an Investments.
Der Iran verfügt jedoch nach wie vor über wichtige kulturelle Faktoren, wie eine gewachsene Universitätsstruktur und gut ausgebildete Ingenieure. Und Iraner wissen wie ein Supplier-Netzwerk funktioniert. Deshalb denke ich, dass wir im Iran schneller eine ausdifferenzierte Chemielandschaft sehen werden als in Saudi-Arabien.

Martin Erharter: Die Situation der Chemie im Iran nach Ende der Sanktionen ist vergleichbar der Ostdeutschlands nach der Wende, nur dass die Finanzierungsfrage im Iran noch nicht geklärt ist. Dagegen ist Saudi-Arabiens Chemieindustrie vergleichbar einem Schwellenland, wo gewisse Infrastrukturen und kulturelle Standards erst generiert werden müssen. Allerdings hat das Land den Vorteil, auf einen riesigen Staatsfonds zurückgreifen zu können.

Wie stehen die Chancen für den Iran, notwendige Investoren zu gewinnen?

Heiko Ammermann: Zwischen europäischen – insbesondere deutschen – und iranischen Firmen gibt es inzwischen sehr viele positive Absichtserklärungen. Faktisch hat jedoch noch kaum ein nennenswertes Foreign Direct Investment stattgefunden. Das wird sich absehbar nur sehr langsam verbessern. Zum einen aufgrund der politischen Unsicherheit in der Region: Wer im Iran aktiv wird, riskiert Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait und Katar als Markt zu verlieren. Zum anderen schrecken westliche Banken aufgrund möglicher Sanktionen der USA vor Investitionen zurück. Und nicht nur Investitionen sind betroffen, schon langfristige Lieferbeziehungen sind schwer aufzubauen, wenn die heimische Hausbank mit der Beendigung der Geschäftsbeziehung droht. Der Markt für bankenfinanzierte Investments im Iran ist derzeit komplett tot.

Wer bleibt da noch als möglicher Investor?

Heiko Ammermann: Möglich sind Private-Equity-Investments aus Europa, China oder Russland. Auch Exil-Iraner investieren in ihr Heimatland, so dass es nach unseren Einschätzungen in den nächsten 12 bis 18 Monaten etwas vorangehen wird. Denn der Iran ist ein interessanter Markt, der nach Ende des Embargos überproportionale Wachstumschancen im Vergleich zu anderen Märkten in der Region bietet.

Was raten Sie deutschen Unternehmen, die sich im Nahen Osten engagieren wollen?

Heiko Ammermann: In Saudi-Arabien bieten sich Chancen für Unternehmen, die auf günstige Grundstoffe angewiesen sind und einen hohen Energiekonsum haben. Für Mittelständler ist es jedoch ein schwieriger Markt. Einheimische Unternehmen suchen hier vor allem Großunternehmen, wie BASF und Linde, als Partner.

Für ein mittelständisches Unternehmen, das nicht auf die Finanzierung von Banken angewiesen und nicht im US-Markt aktiv ist, kann ein Engagement im Iran interessant sein. Hier gibt es viele privatwirtschaftliche, mittelgroße Unternehmen, die als Geschäftspartner in Frage kommen. Zudem gibt es qualifiziertes Personal vor Ort.

Martin Erharter: Die Marktchancen in dieser Region sind deutlich höher als die Risiken. Deutsche Unternehmen, die – anders als viele angelsächsische Firmen – der Region über Jahrzehnte zuverlässige Partner waren, sind gut aufgestellt, um von diesem Potenzial zu profitieren.

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