In Echtzeit vernetzt: Eine Positionsbestimmung in der Chemielogistik
BVL Forum Chemielogistik beleuchtet das Thema Digitalisierung und Vernetzung
In der Chemieindustrie hält die Digitalisierung ebenso rasant Einzug wie in allen anderen Lebens- und Arbeitsbereichen. Sie eröffnet Potenziale, die zuvor nicht denkbar gewesen wären, wie eine bislang ungekannte Transparenz und Flexibilität in den Wertschöpfungsketten oder eine deutlich höhere Planungssicherheit. Die umfassende und leistungsfähige digitale Vernetzung ist Voraussetzung, um diese Möglichkeiten nutzen zu können. Henning Bosch, Chief Operating Officer (COO) der Division Imperial Supply Chain Solutions bei Imperial Logistics International, äußert sich hierzu aus der Sicht des Logistik-Experten und Frauke Heistermann, Mitglied der Geschäftsleitung bei Axit, aus Sicht des IT-Anbieters. Die Fragen stellten Anja Stubbe, Bundesvereinigung Logistik, und Dr. Sonja Andres, CHEManager.
CHEManager: „In Echtzeit vernetzt“ – das scheint nicht nur in der Chemieindustrie ein erstrebenswerter Zustand zu sein. Welchen Nutzen können Unternehmen denn konkret daraus ziehen?
H. Bosch: Mit der Echtzeitvernetzung können wir die Supply Chain transparent machen. Dank der gewonnenen Transparenz wissen wir immer, wo sich welche Waren befinden und in welchem Bearbeitungszustand ein Auftrag ist. Das versetzt uns in die Lage, Auftragsbearbeitungs- und Lieferzeiten zu reduzieren, gleichzeitig haben unsere Kunden den Vorteil optimierter Bestände. Auch der erforderliche Personaleinsatz kann dadurch frühzeitiger und genauer kalkuliert werden. Um Vorteile zu erreichen und Synergien zu heben, ist es jedoch entscheidend, dass alle an der Supply-Chain Beteiligten integriert sind.
Auch bei Tankfahrzeugen, die Chemieparks oder Chemiefabriken regelmäßig anfahren, kann die Echtzeitvernetzung die LKW-Abfertigung effizienter machen. Wenn sie funktioniert, können die Verlader ihre Standortkapazitäten besser auslasten, die Abfertigung automatisieren und Wartezeiten verringern. Gleichzeitig steigt die Termintreue. Aber auch dies funktioniert nur, wenn Kunden und Lieferanten gemeinsame Datenplattformen nutzen.
F. Heistermann: Das sehe ich ähnlich wie Henning Bosch - Kundenerwartungen steigen, Lieferketten und damit verbundene Laufzeiten werden immer schneller. Sind die Beteiligten in Echtzeit vernetzt, sind Informationen, die auf einer Seite des Globus entstehen, zum Beispiel in Asien, und auf der anderen Seite benötigt werden, beispielweise in Deutschland, für alle Beteiligten sofort verfügbar - ortsunabhängig. Das bedeutet konkret: keine Wartezeiten auf wichtige Informationen, keine Fehlentscheidungen aufgrund nicht verfügbarer Informationen, schnelle Reaktionszeiten bei Problemen, reibungslose Prozesse. Wissen, das in Echtzeit verfügbar ist, erlaubt eine reibungslose Zusammenarbeit aller Beteiligten. Und dies trägt wiederum dazu bei, Komplexität zu reduzieren, Kosten zu senken, Zuverlässigkeit zu erhöhen. Zudem schaffen besser verfügbare Informationen eine ideale Grundlage für Innovation.
Wo sehen Sie den Status Quo der digitalen Vernetzung in der Chemieindustrie? Wie weit ist man von einer umfassenden Vernetzung in Echtzeit entfernt?
F. Heistermann: Aus meiner Sicht zählt die Chemiebranche zu den Vorreitern bei der Digitalisierung. Die Vernetzung der Beteiligten entlang der Lieferkette ist oft schon relativ weit: Daten werden digital ausgetauscht, man findet unternehmensübergreifende Workflows und gemeinsame, standardisierte Prozesse, zum Beispiel zwischen dem Chemieversender und seinen Spediteuren. Daten werden strukturiert, vereinheitlicht, validiert und geteilt. Je globaler die Prozesse allerdings werden, desto weiter sind wir von einer Vernetzung in Echtzeit entfernt.
Zu den Hürden zählen die digitale Abbildung multimodaler Lieferketten oder auch die signifikant ansteigende Anzahl von IT-Systemen, Datenquellen und Teilnehmern. Die heutige Technologie und die darauf aufsetzenden IT–Lösungen könnten solche komplexen Lieferketten komplett digitalisieren – zum Beispiel über Cloud-Plattformen. Mit Logistik 4.0 können beispielweise intelligente Behälter direkt miteinander kommunizieren – ein weiterer Schritt Richtung Echtzeit-Kommunikation.
H. Bosch: Es freut mich, dass Frauke Heistermann die Chemiebranche hier in der Vorreiterrolle sieht. Nichtsdestotrotz stehen wir aktuell eher am Anfang der Entwicklung. Die weitere Entwicklung wird nur mit einem hohen Investitionsvolumen in Hard- und Softwarelösungen möglich sein. Von einer umfangreichen Vernetzung in Echtzeit sind wir in Deutschland noch mehr als fünf Jahre entfernt, in Europa geschätzt noch länger.
Was könnte für ein Unternehmen dagegen sprechen, auf eine Vernetzung in Echtzeit hinzuarbeiten? Welche Hindernisse gilt es zu überwinden?
H. Bosch: Die Harmonisierung und Verknüpfung der IT-Systeme ist in Deutschland und Europa noch eine echte Herausforderung und wird es erst einmal auch bleiben. Die Anzahl der Supply-Chain-Beteiligten ist immer noch sehr hoch. Zudem bestehen erhebliche rechtliche Herausforderungen, wie zum Beispiel der BDI zu diesem Thema in einem Paper treffend beschrieben hat. Kernbegriffe dieser Herausforderung sind zum Beispiel Standardisierung und Datenschutz, IT-Sicherheit, die Frage des Eigentums an den Daten sowie die Klärung der Nutzungsrechte der Daten. Hierbei müssen Verträge und AGB entsprechend gestaltet werden.
F. Heistermann: Eine Herausforderung ist nach unserer Erfahrung die Vernetzung mit den Beteiligten der Lieferkette, insbesondere, wenn dies externe Partner sind. Jeder nutzt eigene IT-Systeme. Wenn nun ein Chemieunternehmen versucht, allen anderen seinen eigenen Schnittstellen-Standard aufzuzwingen, führt dies in eine Sackgasse. Es drohen endlose Diskussionen, da Schnittstellen-Anpassungen meist hohe Kosten verursachen. Hier heißt die Lösung für mich: flexible Integrationsmöglichkeiten schaffen mit neutralen Plattformen, die sich auf die heterogenen Bedarfe der Beteiligten einstellen.
Auch die Abstimmung von Prozessen kann eine Hürde sein. Der Workflow muss mit den Beteiligten abgestimmt und definiert werden, Erwartungen und Aufgaben müssen formuliert sowie eine Ist-Aufnahme der anzubindenden Datenquellen erstellt werden. Dies erfordert eine umfassende Prozesskenntnis und eine genaue Abstimmung dazu, wie zukünftig gearbeitet werden soll. Dieser Prozess braucht Zeit.