Prozessoptimierung und Wissensmanagement in der Pharmaindustrie
Hochwertige Pharmaproduktion gelingt nur mit gutem Knowledge-Management, sagt ISPE-Europamanager Dr. Thomas Zimmer
Mit rund 4.700 Mitgliedern in Europa und 20.000 weltweit vertritt die International Society for Pharmaceutical Engineering (ISPE) die Anliegen der Pharmaproduktion. Auf ihrer jährlichen Europakonferenz in Frankfurt diskutierten die Fachleute kürzlich nicht nur bekannte Themen wie Qualität, Compliance, Kosten oder Liefersicherheit. Zunehmend beschäftigen sich die ISPE-Mitglieder auch mit Wissensmanagement, Single-Use-Produktion und der digitalen Verknüpfung von Produktionsprozessen. Dr. Thomas Zimmer, Vice President of European Operations bei der ISPE, erläutert gegenüber CHEManager die aktuellen Herausforderungen der Pharmafertigung. Das Interview führte Thorsten Schüller.
CHEManager: Herr Dr. Zimmer, Industrie 4.0, also die digitale Verknüpfung aller Produktionseinheiten, verändert auch die Rolle des Menschen in der Industrie. Inwieweit hält diese Entwicklung in der Pharmaproduktion Einzug?
Dr. T. Zimmer: Bei neuen Arzneimitteln, die einen hohen Marktanteil haben und hohe Umsätze erzielen, hat die Industrie bereits in diese teuren Produktionsprozesse investiert. Insbesondere in der Biotechnologie sehen wir einen hohen Grad der Prozessautomatisierung. Die modernen, teuren und hochinvestiven biotechnologischen Produkte haben auch den Einsatz moderner Produktionstechnologien wie der Single-Use-Fertigung vorangetrieben, weil man damit einen erheblich geringeren Aufwand bei der Reinigung und Reinigungskontrolle hat und auch Produktionsrisiken senkt.
Welche grundsätzlichen Unterschiede gibt es zwischen der Produktion in der Biotechnologie und der Herstellung traditioneller, chemisch hergestellter Pharmazeutika?
Dr. T. Zimmer: In der Biotechnologie geht es um Groß- und Proteinmoleküle, während bei klassischen Pharmazeutika eindeutig definierte und normalerweise sehr kleine Moleküle vorherrschen. Das schlägt sich auch in der Produktion nieder. Die biotechnologische Fertigung verläuft überwiegend in vollautomatisierten Prozessen, wobei teilweise auch die erwähnten Einmal-Artikel verwendet werden. Das ist eine völlig andere Produktion als wir sie von den bisherigen Tabletten, Kapseln und Dragees kennen, die außerdem auf vollkommen anderen Maschinentypen hergestellt werden. Wir gehen davon aus, dass in zehn Jahren gut 30 bis 40 % aller Arzneimittel aus biotechnologischer Herkunft stammen werden. Das spiegelt sich wieder in einer steigenden Zahl innovativer Produkte und deren Nachahmerprodukten, den sogenannten Biosimilars.
Was bedeutet diese Entwicklung für das Personal in der Biotechnologie?
Dr. T. Zimmer: Die Anforderungen an die Beschäftigten werden sich ändern. Heute dominieren in der Pharmaproduktion klassische Naturwissenschaftler, Pharmazeuten und Chemiker. In Zukunft werden wir in der Fertigung mehr Biologen, Mikrobiologen und Virologen antreffen - also Fachleute, die sich in Mikroorganismen, Viren und Proteine auskennen.
Ein Dauerthema für Sie ist die Senkung der Produktionskosten. Wie weit lässt sich das treiben? Stoßen wir da nicht irgendwann an Grenzen?
Dr. T. Zimmer: Man wird bei Kosteneinsparungen eigentlich nie fertig. Die Optimierung eines Prozesses läuft über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts. Es gibt immer wieder neue Erkenntnisse, Einsichten und Optimierungsmöglichkeiten. Dabei wird zum Beispiel zunehmend das Data Modelling zur Hilfe genommen. Computeranalysen unterstützen bei der Arzneimittelentwicklung oder Optimierung von Produktionsprozessen. Man macht fünf, sechs Analysen und füttert mit dieser Ausgangsmenge den Computer. Der kann dann innerhalb von Sekunden mehrere hundert weitere Analysen nachschieben.
Immer wieder kommt es in der Pharmaindustrie zu Versorgungsengpässen bei Medikamenten, zum Beispiel aufgrund von Produktionsproblemen. Sieht sich die ISPE hier in der Pflicht?
Dr. T. Zimmer: Das ist eines unserer wichtigsten Themen der vergangenen Jahre. 2013 haben wir versucht, die Ursachen von Versorgungsengpässen in einer Umfrage zu ermitteln. Davon ausgehend hat unsere Organisation 2014 einen Drug Shortage Prevention Plan geschrieben. Darin sind Best-Practices-Beispiele zusammengefasst und Hinweise aufgelistet, wie Lieferengpässe vermieden werden können. Im vergangenen Jahr haben wir schließlich das sogenannte Gap Assessment Tool entwickelt. Dabei handelt es sich um Fragelisten, die die Hersteller zur Selbstbewertung einsetzen können. Auf diese Weise können sie herausfinden, ob und wo sie Schwachstellen haben. Wir sind auch schon von den Arzneimittel-Zulassungsbehörden FDA und EMA angesprochen worden, Einblicke in die Ursachen für Liefer- oder Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln zu geben.
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Dr. T. Zimmer: Die Ursachen von Produktionsproblemen und Lieferengpässen sind sehr komplex. Man spricht von „Root Causes“ und „Underlying Root Causes“, also den wahren Ursachen, die auf einer tieferen Ebene liegen. Schließlich gibt es noch die Trigger, also die „entfernten“ Auslöser von Produktionsschwierigkeiten, wie zum Beispiel rechtzeitiges Investieren in neue Maschinen, Prozesse und Räumlichkeiten auf dem aktuellsten Stand.
Welches sind denn typische Ursachen, die zu Produktions- beziehungsweise Lieferproblemen führen?
Dr. T. Zimmer: Die Ursachen können sehr vielfältig sein. Im Drug Shortage Prevention Plan haben wir sechs Hebel gegen die Hauptursachen für Lieferengpässe benannt. Dazu zählen die richtige Unternehmenskultur, ein stabiles Qualitätssystem, der sogenannte „Business Continuity“ Plan, eine effektive Kommunikation mit den Behörden sowie die Fähigkeiten der Mitarbeiter. Klar ist, es gibt keine einfachen Lösungen. Das ganze Thema ist multikausal. Es betrifft alle Technologien, jede Stufe der Wertschöpfungskette und die gesamte Versorgungskette. Wenn sie nicht mit operativer Exzellenz arbeiten, kein stabiles Qualitätssystem haben und die Kultur im Unternehmen nicht stimmt, kann es zu Problemen in der Produktion und dem Lieferservice kommen.
Dabei gibt es in der Pharmaproduktion häufige Kontrollen und Inspektionen durch Aufsichtsbehörden, die ja auch einen Blick auf die Einhaltung von Vorschriften werfen. Stellen diese eine Belastung für die Unternehmen dar?
Dr. T. Zimmer: Es gibt schon das Bestreben in der Industrie, dass man die Flut von Inspektionen ökonomisiert, also zusammenfasst. Wenn die Behörden ihre Inspektionssysteme verstärkt gegenseitig anerkennen und sich auf die Inspektionen der Nachbarbehörde oder des Nachbarlandes verlassen würden, wäre das für beide Seiten - also die Behörden selbst, aber auch die Industrie - eine Erleichterung. Es gibt zwar immer wieder Versuche das zu tun, wenn man aber genau hinschaut, muss man feststellen, dass das „Mutual Recognition Agreement“ zwischen den USA und Europa, also die gegenseitige Anerkennung von Inspektionsergebnissen, seit 20 Jahren auf Eis liegt. Um das zu ändern, müssten alle Beteiligten mitspielen.
Sie erwähnten den Begriff der operativen Exzellenz. Die basiert auch auf der Weitergabe von Wissen im Unternehmen. Wie steht es damit eigentlich in der Pharmaproduktion?
Dr. T. Zimmer: In Pharmaunternehmen sammelt sich ein reichhaltiges Wissen über Prozesse und Produkte an. Im Idealfall sollte das stets weitergegeben werden. Das wird mit dem Begriff Knowledge Management zusammengefasst. Dabei gibt es mehrere Szenarien: So findet zum Beispiel ein Know-how-Übertrag statt von der Entwicklung in die Produktion, von einer Produktionsstätte in die andere oder wenn Menschen, die lange in der Firma waren, in Rente gehen. Natürlich gilt das auch, wenn neue Mitarbeiter in die Firma eintreten.
All diese Szenarien müssen durch ein effizientes Knowledge Management erfasst werden. Das klingt selbstverständlich. Aber wenn man sieht, wie häufig in einem Unternehmen Jobrotationen stattfinden und wie hastig das oft gemacht wird, dann bleibt der Wissenstransfer häufig auf der Strecke. Es gibt zahllose Möglichkeiten, wie und wo Wissen verloren gehen kann. Das ist ein Risikofaktor für Unternehmen. Da muss mehr getan werden.
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