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Eine Krise zu viel? - Deutschlands Spezialchemie wächst, doch die Unsicherheit in der Branche nimmt zu

Commerzbank-Branchenstudie Chemie

24.02.2016 -

Die Wachstumszentren der weltweiten Chemieindustrie verschieben sich von den Industriestaaten in die Schwellenländer. Dort steigt mit dem Wohlstand auch der Bedarf an Spezialchemikalien. Darüber hinaus profitiert die Sparte von weiteren Trends am Weltmarkt. Experten der Commerzbank erwarten ein Wachstum von 3% für die deutsche Spezialchemieproduktion im Jahr 2016, verglichen mit einem Plus von 0,5% in der Basischemie. Dr. Andrea Gruß sprach dazu mit Dr. Olaf Labitzke, Senior Analyst bei der Commerzbank und Autor der im Februar veröffentlichten Branchenstudie Chemie.

CHEManager: Herr Dr. Labitzke, in der aktuellen Studie untersuchen Sie unter anderem die Entwicklung der weltweiten Umsatzstruktur in der Chemie. Wo sehen Sie wesentliche Veränderungen?

Dr. O. Labitzke: Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklungen in China hat sich dessen Anteil am weltweiten Chemieumsatz dramatisch erhöht – von 10% im Jahr 2004 auf 37% 2014. Gleichzeitig sank der Anteil Europas am weltweiten Chemiemarkt von 32% auf 18%, während er in den USA von 22% auf 17% fiel (Anmerk. d. Red.: s. Grafiken letzte Seite). China ist heute der bedeutendste Chemiestandort weltweit – dort werden zum Beispiel 70% aller Chemiefasern produziert – und hat die westlichen Industrieländer auf die Plätze verwiesen.

Wie wirkt sich die Entwicklung auf die Struktur der deutschen Chemieindustrie aus?

Dr. O. Labitzke: Knapp zwei Drittel der deutschen Chemieproduktion entfallen auf Grundstoffchemikalien, ein Drittel auf Spezialchemikalien. Insgesamt ist diese Struktur der deutschen Chemie nicht sehr volatil. Betrachtet über die vergangenen zehn Jahre beobachten wir jedoch, dass die Grundstoffchemie im Vergleich zur Spezialchemie an Bedeutung verliert.

Ist diese Entwicklung einem überproportionalen Wachstum der Spezialchemie oder einem Rückgang der Basischemie geschuldet?

Dr. O. Labitzke: Wir gehen von beidem aus. Die Grundstoffchemie hatte aufgrund eines hohen Erdölpreises an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verloren – dies wird durch die aktuelle Ölpreisentwicklung wieder teilweise nivelliert. Mit ihren effizienten Verbundstrukturen hat sie auch weiterhin ihre Berechtigung am Standort Deutschland, aber die Ausfuhren an Grundstoffchemikalien gingen zurück. Teilweise, weil in den Abnahmeländern neue Kapazitäten von Wettbewerbern aufgebaut wurden und Marktanteile verloren gingen. Zum Teil, weil Unternehmen wie die BASF selbst Kapazitäten in China aufgebaut haben, so dass der Bedarf an Importen aus Deutschland zurückging. Dazu kam das schwache Wirtschaftswachstum in Europa, das zu einem geringerem Absatz an Grundstoffchemikalien führte.

Wie lässt sich das überproportionale Wachstum der Spezialchemie erklären?

Dr. O. Labitzke: Mit dem Wohlstand in den Schwellenländern steigt auch der Bedarf an Spezialchemikalien. Ein Beispiel: Vor 15 Jahren gab es in China noch sehr viele Fahrräder. Der Bedarf an Fahrradlacken, deren chemische Zusammensetzung vergleichsweise einfach ist, war hoch. Heute ist China der weltweit größte Automobilproduzent. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach hochwertigen Automobillacken, deren Produktion ein höheres chemisches Know-how erfordert. Auch der steigende Fleischkonsum in den Schwellenländern und der damit einhergehende zusätzliche Futterbedarf wirken sich positiv auf den Markt für Agrarchemikalien aus.

Inwieweit profitiert die deutsche Spezialchemie von dieser Entwicklung?

Dr. O. Labitzke: Das ist von Geschäftsfeld zu Geschäftsfeld unterschiedlich. Lacke werden Sie langfristig nur sehr schwer komplett in Deutschland produzieren und nach China ausführen können. Aber für bestimmte Zusätze, die zum Beispiel Lacke haltbarer machen oder UV-Schutz oder andere Funktionen bieten, sehen wir durchaus weiterhin Potenzial für den Produktionsstandort Deutschland. Die deutsche Chemie ist Meister im Herstellen von hochwertigen Spezialchemikalien.

Von welchen weiteren Trends profitiert die Spezialchemie?

Dr. O. Labitzke: Der Leichtbau in der Automobilindustrie oder die Energieeffizienz von elektrischen Geräten beleben den Markt für Spezialchemikalien und sind Innovationstreiber. Sie führen zum Beispiel zu einer verstärkten Nachfrage nach hochwertigen Speziallacken und einer fortschreitenden Substitution von Metall und Glas durch Hochleistungskunst- und Verbundwerkstoffe. Auch die Bauindustrie ist ein Treiber. Für diese Abnehmer entwickelt die Branche spezielle Kunststoffe für Türen, Fenster und den Innenausbau. Zudem werden chemische Erzeugnisse zur Wärmedämmung oder Isolierung in Neu- und Bestandsbauten eingesetzt.

Die europäische Chemikalienverordnung REACh sichert ein hohes Schutzniveau für Mensch und Umwelt. Sehen Sie hier eher einen Wettbewerbsvorteil oder -nachteil für die hier ansässige Chemie im Kontext zum Wachstum in China?

Dr. O. Labitzke: Umweltstandards der Automobilbranche, wie die Euro-5-Norm oder Euro-4-Norm, waren ein Exportmodell und wurden von China weitgehend übernommen, allein um Kosten zu sparen. Aber ich sehe darin keinen Automatismus. Allerdings wächst auch in China oder in anderen Schwellenländern das Umweltbewusstsein beziehungsweise die Kritik an der gesundheitsgefährdenden Verseuchung von Luft und Boden. Hier sind Lösungen gefragt. Ich bin davon überzeugt, dass die deutsche Chemieindustrie zu diesen Lösungen beitragen kann: zum einen durch umweltverträgliche Chemikalien, zum anderen durch Produkte und Technologien zur Reinigung von Luft, Wasser und Boden.

Welche konjunkturelle Entwicklung erwarten Sie für die deutsche Chemieindustrie?

Dr. O. Labitzke: In den vergangenen Jahren waren die Wachstumsraten der Branche aufgrund der eingangs erwähnten Entwicklung der Grundstoffchemie gering. Aktuell sehen wir leicht positive Signale. Die Chemieindustrie wird wachsen – sowohl die Grundstoff- als auch Spezialchemie. Das liegt vor allem an der wirtschaftlichen Belebung innerhalb Europas. Hiervon wird vor allem der Absatz konsumnaher Chemikalien, weniger der von Industriechemikalien, profitieren.

Sehen Sie auch Risiken?

Dr. O. Labitzke: Wo soll ich anfangen? Es gibt nicht ‚das‘ große Risiko, aber es besteht Gefahr, dass die Stimmung umschwenkt, weil es zu viele Krisen gibt. Vor einem dreiviertel Jahr war der Ukraine-Konflikt stark im Fokus. Heute stehen andere Themen im Vordergrund: Brasilien kommt nicht aus der Krise heraus. In China geht das Wachstum zurück. Russland leidet unter dem niedrigen Erdölpreis und stoppt Investitionen. Insgesamt nimmt die Unsicherheit zu. Und es ist nicht klar, woher der Einschlag kommen wird.

Die Europäische Union ist derzeit der einzige Markt, der zwar ein unaufgeregtes, aber stabiles Wachstum zeigt. Zwar ist die Wachstumsrate in China weitaus höher als beispielsweise in Großbritannien, aber die Basis der Briten bezogen auf das Pro-Kopf-Einkommen ist deutlich höher. Ein Prozentpunkt Wachstum in Großbritannien kann der deutschen Chemieindustrie wesentlich mehr bringen, als ein Wirtschaftswachstum von 7-9% in China.

Davon müsste insbesondere die mittelständische Chemie in Deutschland profitieren, die einen Großteil ihres Umsatzes in Europa erzielt.

Dr. O. Labitzke: Das ist richtig. Zwar kann die Großchemie ihr Risiko regional stärker streuen, aber wie schon gesagt, es brennt derzeit international an einigen Ecken. Europa ist dagegen eine Ecke, die wirtschaftlich gesehen ruhig ist. Und dennoch ist die geopolitische Unsicherheit auch Gift für den deutschen Mittelstand, denn dessen Abnehmer zögern aufgrund ungewisser konjunktureller Risiken.

Kurzfristig sehe ich für mittelständische Unternehmen auch die Gefahr, dass deren Kunden angesichts des niedrigen Erdölpreises ihre Lager leeren und mit den Bestellungen warten, um zu günstigeren Preisen zu kaufen.

Commerzbank-Studie

Der im Februar veröffentlichte Branchenbericht Chemie der Commerzbank analysiert die weltweiten Wachstumszentren und -trends der Chemieindustrie. Weitere Infos zu den Ergebnissen der Studie lesen Sie auf der letzten Seite dieser Ausgabe. Der vollständige Bericht kann im Internet heruntergeladen werden!

 

 

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