Anwendung von Normen in der Gasanalytik
Teil 4 – Messunsicherheit und Rückführbarkeit von Messergebnissen
Zusammen mit der Genauigkeit von Messungen ist die ihnen zugeordnete Messunsicherheit Ausdruck und Maß von Vergleichbarkeit und Richtigkeit.
Mit der Veröffentlichung des Guide to the Expression of Measurement Uncertainty (GUM) im Jahr 1993 (leicht verändert 1995, jetzt [1]) wurden die bislang bestehenden Ansätze zur Angabe der Schwankungsgrenzen eines ermittelten Messergebnisses auf eine einheitliche Grundlage gestellt und im Sinne der immer globaleren Wirtschaft harmonisiert.
Kernaussage des GUM ist, dass die Angabe eines Wertes für das Ergebnis einer Messung unzureichend ist, solange nicht auch eine zuverlässige Schätzung des Bereiches angegeben wird, dessen Grenzen der Wert mit einer definierten, hohen Wahrscheinlichkeit nicht unter- oder überschreitet. Dies ist die zum Wert gehörende Messunsicherheit, nach dem International Vocabulary of Metrology (VIM) [2] definiert als „nichtnegativer Parameter, der die Streuung der Werte kennzeichnet, die der Messgröße auf der Grundlage der benutzten Information beigeordnet ist“.
Nach dieser Definition bleibt eine Messunsicherheitsangabe stets ein Schätzer, der jedoch in jedem Labor so fundiert und zuverlässig sein sollte, wie dies das Verfahren zur Bestimmung des Wertes, die Matrix und ggf. Modellbildungen zur Ermittlung des Wertes zulassen.
Grundsätze der Messunsicherheitsermittlung
Um ein Messunsicherheitsbudget für ein bestimmtes Verfahren zu erstellen, bedarf es dem Grunde nach folgender Schritte:
Erstellen des Modells, d. h. einer funktionale Beziehung zwischen der Messgröße Y und allen (relevanten) Einflussgrößen Xi in der Form Y = f (X1, ..., Xn)
- Bestimmen der Unsicherheit u(Xi) aller Einflussgrößen als Typ-A- oder Typ-B-Evaluierung. Dabei stellt eine Typ-A-Ermittlung auf die Gewinnung experimenteller Daten mit nachfolgend klassischer statistischer Auswertung, die Typ-B-Ermittlung auf Nutzung anderer Informationsquellen (Min-Max-Abschätzung, Expertenwissen u. ä.) ab.
- Bestimmen evtl. Kovarianzen der Eingangsgrößen oder Sicherstellen statistischer Unabhängigkeit
- Bestimmen der kombinierten Unsicherheit uc(Y) mittels Unsicherheitsfortpflanzung
- Ermittlung (Schätzung) des Erweiterungsfaktors k und Angabe der erweiterten Unsicherheit
In der stoff- und matrixgebundenen Analytik stellt die Forderung nach Aufstellung eines vollständigen Messmodells oftmals eine (unüberwindliche) Hürde dar. Dies gilt (eingeschränkt) auch für die Gasanalytik.
Dort lässt sich bspw. die Frage, ob alle in eine Flasche eingefüllten Gase auch bei der Messung aus der Flasche wieder richtig erscheinen, nur in Abhängigkeit von den chemisch-physikalischen Eigenschaften des jeweiligen Gases (kondensierbar, potentielle Reaktionen mit der Flaschenwand, etc.) beantworten.
Ein pragmatischer, vom Eurachem/Citac Guide [3] inspirierter Ansatz ist [4], in dem man feststellt, dass die Gesamtunsicherheit aus Faktoren Fl herrührt, die analytisch bekannte und experimentell ermittelbare Einflussfaktoren wie Wiederholpräzision, Homogenität, Wiederfindung oder Verdampfungsrate in sich aufnehmen. Beiträge der direkt gemessenen Parameter wie z. B. die Unsicherheiten volumetrischer oder gravimetrischer Arbeitsschritte sind ggf. dagegen vernachlässigbar. Für die Unsicherheitsermittlung genügt eine Messgleichung der denkbar einfachsten Form
in der Ῡ ein geeigneter Schätzer, meist der Mittelwert, einer bestimmten Anzahl von Einzelergebnissen ist. Für die Zusammenfassung der einzelnen Unsicherheitsbeiträge zu einer kombinierten Unsicherheit bereitet dieser Ansatz keine mathematischen Probleme.
Gravimetrische Gasnormale
In der Gasanalytik stehen an der Spitze der Rückführungskette die Primärnormale, auch Kalibriergase 1. Ordnung und in der Diktion der aktuellen Fassung der ISO 6142 [5] Gemische der Klasse I genannt. Die internationale Norm ISO 6142-1:2015 (vormals DIN EN ISO 6142:2006, [5]) spezifiziert die zu berücksichtigenden Unsicherheitsbeiträge als
- Massenbestimmung
- Molare Massen und deren Unsicherheit
- Reinheit der Ausgangsgase
- Homogenität
- Stabilität
Zertifizierte Gasnormale nach ISO 6142 sind insoweit also als normenkonform und akkreditierungsfähig zu betrachten, da sie die Anforderungen des internationalen Normenwerkes erfüllen. Rückführungen auf diese Normale sind von Zulassungs- und Akkreditierungsstellen anerkannt.
Abgeleitete Gasnormale, Bestimmung unbekannter Proben
Soweit von den Primärnormalen sekundäre Normale und davon direkt oder indirekt Arbeitsnormale abgeleitet werden sollen, bietet die DIN EN ISO 6143 [6] die Arbeitsanleitung. Sie nutzt das Generalised Least Squares (GLS) Verfahren zur Schätzung der besten Kalibrierfunktion und berücksichtigt die Messunsicherheitsschätzer für sowohl den Gehalt der Bezugsnormale als auch der gemessenen Signalwerte. Beide werden in der Messunsicherheitsschätzung jedes des sich aus der Kalibrierung ergebenden Bestimmungswertes berücksichtigt.
Der Ansatz der ISO 6143 (Kalibrierung gegen Referenzgase, Berücksichtigung aller Unsicherheiten) ist auch und insbesondere für die Bestimmung unbekannter Proben geeignet: Eine Kalibrierung gegen Gasnormale akzeptabler Vertrauenswürdigkeit unter Berücksichtigung aller in den Normalen enthaltenen Unsicherheiten entbindet den Anwender von der Suche nach weiteren Unsicherheitsbeiträgen.
Für Gasnormale und Messwertbestimmungen, die mit anderen als den bereits genannten Verfahren durchgeführt werden sollen, beschreibt die Normenreihe DIN EN ISO 6145-1 bis 11 [7], einschließend dynamisch-volumetrische sowie Verfahren der Introduktion (Einspritzung, Permeation, etc.), sowohl die Vorgehensweise als auch die Zuweisung entsprechender Messunsicherheiten. Speziell für die Erdgasanalytik findet man dazu umfassende Anleitung in den ISO 6974 (2 Teile, [8, 9]) sowie ISO 6976 [10].
Rückführbarkeit
Endpunkt einer Rückführung ist idealerweise eine SI-Einheit. Jede Angabe eines Messergebnisses in z. B. ppm (Volumen oder Masse) würde eine Rückführung auf die zugehörige (Meter oder Kilogramm) SI-Einheit erfordern. In verschiedenen Fällen ist es möglich, in ungebrochenen Ketten (Beispiel: die Waage im Supermarkt), Rückführung herzustellen.
Von der direkten Realisierung der Einheit können dann für verschiedenste Anwendungsfelder geeignete Referenzstandards, i. d. R. zertifizierte Referenzmaterialien, abgeleitet und an Nutzer disseminiert werden (siehe Abb. 1).
Ringvergleiche zwischen den Nationalen Metrologischen (NMI) sowie den Designierten Instituten (DI) erhalten die Messfähigkeit und Vergleichbarkeit für sowohl die Basiseinheiten als auch alle herausgegebenen Referenzstandards.
Für die Gasanalytik treffen sich Experten aller 55 der Meter-Konvention angehörenden Länder in regelmäßigen Abständen, um die Ergebnisse ihrer Arbeit abzugleichen und in öffentlich publizierten Ringversuchen [11] zu harmonisieren. Ankerpunkt für die Rückführbarkeit von Gasmessungen in Deutschland sind die Primärnormale der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung.
Ausblick
Der GUM befindet sich z. Zt. als JCGM 100 und 110 (Committee Draft) in der Überarbeitung und Anpassung an in den letzten Jahren entstandenen, modernen Herausforderungen. Es ist abzusehen, dass die neuen Konzepte der Behandlung der Messunsicherheit nach dem Bayes’schen Ansatz nicht sämtlich kurzfristig umsetzbar sein werden, einige davon werden längerfristig zu diskutieren sein.
Für die Gasanalytik besteht mit dem in unserer Serie diskutierten Normenwerk von ISO 6141 bis 6145 sowie ISO 6974 bis 6976 (zzgl. einiger Technical Specifications und Technical Reports) ein verlässliches, zukunftsträchtiges Fundament für sowohl die analytische Behandlung der Messaufgaben als auch die Ermittlung von den Messergebnissen zuzuordnenden Messunsicherheiten sowie dem Aufbau einer verlässlichen Rückführbarkeitskette. In der Praxis sollte eine Rückführung aus verlässlichen Referenzgasen und einer sicheren Schätzung der darauf beruhenden Messunsicherheiten bestehen.
Dr. Wolfram Bremser, Dr. Michael Maiwald und Dr. Heinrich Kipphardt, BAM.
Die Autoren sind Mitglieder des DIN-Normenausschusses sowie weiterer Gremien der ISO und IEC.
Beispiel der einfachen Form (1) der Messunsicherheitsermittlung:
Analyse: NO in Stickstoff N2
Methode: nicht-dispersive IR-Absorption.
Herausgegebener Wert: Mittelwert Ῡ aus 3 Wiederholbestimmungen
Unsicherheitsbeiträge:
Wiederholpräzision: Faktor F1, aus der Validierung des Verfahrens, relative Standardabweichung
sr = 1.0 %
Kalibrierung: Faktor F2, aus der Verfahrensvalidierung, Coefficient of variation (mittlerer Schätzer der Unsicherheit der Kalibrierung),
CV = 3 %
Unsicherheit der Kalibrierstandards: Faktor F3, aus der Angabe des Herstellers; im Mittel über den Kalibrierbereich 1.5 %
Mittels Unsicherheitsfortpflanzung nach Gl. 1 ergibt sich die relative Gesamtunsicherheit des herausgegebenen Wertes zu
uc,r2= ur2(F1) + ur2(F2) + ur2(F3)
also (nach Ziehung der Wurzel) 3.5 % relativ auf den herausgegeben Wert.
Literatur
[1] ISO/IEC Guide 98-3:2008, Uncertainty of measurement – Part 3: Guide to the expression of uncertainty in measurement (GUM:1995)
[2] ISO/IEC Guide 99:2007, International vocabulary of metrology – Basic and general concepts and associated terms (VIM), auch JCGM 200:2008
[3] EURACHEM/CITAC Guide: Quantifying Uncertainty in Analytical Measurement, 3rd Edition (2012)
[4] Handbuch Validierung in der Analytik, 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Kapitel 30 „Ermittlung und Angabe der Messunsicherheit“. Hrsg. S. Kromidas, Wiley-VCH 2011, ISBN 978-3-527-32938-0.
[5] ISO 6142-1:2015 „Gasanalyse – Herstellung von Kalibriergasen – Wägeverfahren für Gemische der Klasse I“ (vormals DIN EN ISO 6142:2006 und prEN ISO 6142:2014)
[6] DIN EN ISO 6143:2006 „Gasanalyse – Vergleichsverfahren zur Bestimmung und Überprüfung der Zusammensetzung von Kalibriergasgemischen“
[7] Normenreihe DIN EN ISO 6145-1 bis 11 (Deutsche Ausgaben 2008-2011) verschiedene Verfahren, „Gasanalyse – Herstellung von Kalibriergasgemischen mit Hilfe dynamisch-volumetrischer Verfahren“
[8] DIN EN ISO 6974-1:2012 „Erdgas – Bestimmung der Zusammensetzung und der zugehörigen Unsicherheit durch Gaschromatographie – Teil 1: Allgemeine Leitlinien und Berechnung der Zusammensetzung“
[9] DIN EN ISO 6974-2:2012 „Erdgas – Bestimmung der Zusammensetzung und der zugehörigen Unsicherheit durch Gaschromatographie – Teil 2: Unsicherheitsberechnungen“
[10] DIN EN ISO 6976:2005 „Erdgas – Berechnung von Brenn- und Heizwert, Dichte, relative Dichte und Wobbeindex aus der Zusammensetzung“ (jetzt aktuelle Fassung als prEN ISO 6976:2015)
[11] http://kcdb.bipm.org
Die komplette Artikelserie lesen in unseren Printausgaben:
Anwendung von Normen bei der Gasanalyse
Teil 1 – Vom Abgas zum Erdgas – Wie genau sind Sondergase? (CITplus 5/2015, S. 6 f.)
Teil 2 – Probenahme bei der Gasanalyse (CITplus 6/2015, S. 66 f.)
Teil 3 – Gasanalyse „von ppb bis Online“ (CITplus 7-8/2015, S. 38 f.)
Teil 4 – Messunsicherheit und Rückführbarkeit von Messergebnissen (CITplus 12/2015, S. 29 ff.)