Komplexität im Umgang mit Gefahrstoffen
CHEManager-Roundtable: Experten diskutieren zum Thema sichere Logistik
Wie lässt sich der Umgang mit chemischen Produkten - insbesondere Gefahrstoffen und Gefahrgütern - innerhalb von Logistiknetzen sicher gestalten? Dieser Frage ging eine Expertenrunde nach, zu der CHEManager nach Weinheim eingeladen hatte. An der Diskussion nahmen teil Manfred Fischer, Vice President Global Distribution Chemicals, Merck; Michael Kriegel, Prokurist und Leiter Chem-Logistics, Dachser; Prof. Thomas Krupp, Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften, FH Köln und Prof. Kathrin Hesse, Institut für Produktion, FH Köln. Die Diskussion leitete Dr. Sonja Andres.
CHEManager: Wo liegen aus Ihrer jeweiligen Sicht die größten Herausforderungen in der Lagerung, im Handling und im Transportmanagement von Gefahrstoffen bzw. -gütern?
M. Fischer: Neben dem eigenen Handling der Gefahrstoffe sehe ich die größte Herausforderung darin, geeignete Dienstleister zu finden, die den Umgang mit Komplexität beherrschen und das Know-how in Bezug auf Gefahrstoffe besitzen. Das ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Wichtig für uns ist es, geeignete, nachvollziehbare Auswahlverfahren zu haben, um am Ende den richtigen Partner zu finden. Allerdings, den richtigen Partner weltweit gibt es für mich nicht. Es gibt Dienstleister mit vielen Stärken, die meistens irgendwo auch Schwächen haben, zum Beispiel in anderen Regionen.
M. Kriegel: Wir stellen in der chemischen Industrie momentan eine starke Internationalisierung fest. Neue Standorte entstehen, neue Märkte werden erschlossen. Dadurch entsteht eine Vielzahl an neuen Schnittstellen. Andererseits nehmen die Anzahl unterschiedlicher Kundenwünsche und die Vielfalt der Produkte auf Verladerseite zu. Wir haben kleinere Sendungsgrößen und dadurch auch höhere oder schnellere Lieferzyklen. Dies alles sowie spezifische Herausforderungen an Sicherheit, Qualität und Umweltschutz gilt es für einen Logistikdienstleister in der chemischen Industrie zu beherrschen.
Prof. T. Krupp: Eine wesentliche Herausforderung sehe auch ich darin, auf Seiten des Verladers ein geeignetes Auswahlverfahren für Logistikdienstleister zu haben. Der Hauptpunkt liegt schlussendlich im Vertrauen zum Dienstleister. Sobald man eine Outsourcing-Beziehung unterhält, lässt sich nicht mehr alles kontrollieren. Denn sollte etwas schieflaufen, steht, auch wenn es vertraglich noch so abgesichert ist, der Verlader in der Verantwortung. Kosten sind sicher ein wichtiges Argument für Outsourcing, doch die Sicherheit kommt an allererster Stelle. Die chemische Industrie steht hierbei extrem im Rampenlicht.
Prof. K. Hesse: Die Besonderheit in der chemischen Industrie liegt nun mal darin, dass eben oftmals keine ungefährlichen Produkte, sondern z.T. kritische und gefährliche Stoffe Objekt dieser Logistik sind, auch wenn diese nur einen Teil der Gesamtmenge haben. Ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Verlader und Logistikdienstleister ist hier noch wichtiger als in anderen Branchen.
Welche gesetzlichen Vorgaben auf nationaler wie internationaler Ebene wirken sich besonders drastisch auf die logistischen Abläufe in Chemieunternehmen aus?
M. Fischer: Da der internationale Transport weitestgehend global geregelt ist, sehe ich hierbei eher die Lagerung im Fokus. Die Anforderungen für Gefahrstofflagerung sind global betrachtet jedoch sehr unterschiedlich. Es ist in einigen Ländern gar nicht so einfach, die lokalen gesetzlichen Regelungen in Erfahrung zu bringen.
Würden Sie hier auf Dienstleister vor Ort zurückgreifen?
M. Fischer: Sowohl als auch. Wenn wir eine Lagerausschreibung in Ländern Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas haben, sprechen wir natürlich immer unsere globalen Partner an. Wir informieren uns aber auch über lokale Partner mit entsprechender Expertise, die jedoch eine gewisse globale Ausrichtung haben müssen, sonst wird die Zusammenarbeit schwierig und wir hätten dieses Vertrauen nicht.
Wie findet man generell geeignete Dienstleister, wenn Teile der Supply Chain outgesourct werden sollen?
M. Fischer: Wir pflegen regelmäßigen Kontakt zu großen, global agierenden Dienstleistern und informieren uns über deren weltweite Aktivitäten und sondieren ständig Möglichkeiten einer weiteren Zusammenarbeit. Im Fall konkreter Ausschreibungen beschäftigen sich Mitarbeiter global mit dem Managen von Ausschreibungsprojekten für Lager und Transporten. Wir arbeiten hier eng mit unserem Einkauf zusammen. In einem Ausschreibungsprozess erhält der potenzielle Dienstleister möglichst viele Informationen. Er erhält auch die Möglichkeit sich bestehende Abläufe und das derzeitige Lager anzusehen, um sicherzustellen, dass der Dienstleister weiß, was er anbieten soll und worauf er sich einlässt.
Es ist durchaus nicht so, dass immer der günstigste Anbieter das Rennen macht. Viel wichtiger ist, dass wir überzeugt von der Kompetenz sind und den Erfahrungen des Dienstleistes im Handling chemischer Produkte. Fakten, die für uns am Ende mindestens genauso wichtig sind wie der Preis.
Wie sind die Erfahrungen mit Ausschreibungsunterlagen auf Dienstleisterseite?
M. Kriegel: Zunächst müssen Sie, um eine Ausschreibung für ein Chemiekonzern zu bedienen, mehr können als Paletten von A nach B fahren. Um die Sprache des Kunden zu verstehen, brauchen Sie neben dem standardisierten Logistik-Know-how natürlich individuelles Chemielogistik-Know-how. Es wurde eingangs gesagt, dass man sich mit Gefahrgut oder Gefahrstoff auskennen muss. Das sind Themen, die auch das Team oder eben die Expertengruppe im Unternehmen beherrschen sollte.
Prof. T. Krupp:: Was mir bei Merck gefällt: Sie schreiben die Abläufe aus. Das Stichwort heißt prozessorientiertes Ausschreibung. Der Dienstleister hat nämlich oft gar keine Chance, ein realistisches Angebot abzugeben, weil er eine Blackbox vorgesetzt bekommt.
M. Kriegel: In der chemischen Industrie ist nach wie vor SQAS die Eintrittskarte, um mit Großunternehmen ins Gespräch zu kommen.
Ein gutes Stichwort: Welchen Stellenwert in der Beurteilung der Qualität und Kompetenz von Logistikdienstleistern durch die chemische Industrie nehmen SQAS-Standards der CEFIC ein?
M. Fischer: Sie sind eine Voraussetzung, aber keine ausreichende. Wir haben eigene Expertise und prüfen dies zum Teil auch selbst. Nur ein „ich bin DIN ISO zertifiziert" oder „nach SQAS zertifiziert", das würde uns nicht ausreichen.
Prof. T. Krupp:: Ich würde auch sagen, Zertifizierung ist das Einstiegskriterium, reicht aber bei weitem nicht aus, um die anspruchsvollen Kundenwünsche in der chemischen Industrie zu treffen.
M. Fischer: Absolut, richtig. Eine Sache ist noch wichtig: Die Langfristigkeit der Zusammenarbeit. Transportverträge haben bei uns üblicherweise eine Laufzeit von zwei bis drei Jahren, Wechsel sind hier nicht ganz so komplex. Bei Lagerverträgen sind es eher 5-Jahres-Verträge, weil diese gerade in der Chemie auf der Dienstleisterseite oft mit Investitionen - auch in Personal - verbunden sind. Gut funktionierende Projekte führen wir sehr gerne weiter, wenn es finanziell passt. Gerade bei Lagerprojekten sind wir an einer sehr langfristigen Zusammenarbeit interessiert, um Konstanz im eigenen Geschäft sicherstellen zu können und Kundennutzen zu generieren.
Für die komplexe Logistik chemischer Produkte ist eine gut verzahnte IT-Struktur sowohl in der Lagerverwaltung als auch im Transportmanagement unerlässlich. Sind hier bereits Standards erkennbar?
Prof. T. Krupp:: Grundsätzlich hat sich SAP als eine Art Standard etabliert. Da ein Ende struktureller Veränderungen und lokaler Besonderheiten aber nicht in Sicht ist, bleibt ein allgemein durchgängiges System es eine immerwährende Herausforderung.
Wie sieht die Wirklichkeit in chemischen Unternehmen aus?
M. Fischer: Die meisten unserer eigenen Lager werden mit einem SAP Lagerplatzverwaltungssystem gemanagt. Mit Dienstleistern arbeiten wir normalerweise über Schnittstellen, das heißt, der Dienstleister verwendet sein eigenes Lagerverwaltungssystem. Dabei ist es für uns von Vorteil, wenn Logistikfirmen wie Dachser oder Kühne + Nagel mit einheitlichen Lagerverwaltungssystemen arbeiten, denn es erleichtert uns das Interfacing. Es gibt dann nur eine Schnittstelle zwischen unserem SAP und dem Lagerverwaltungssystem des Dienstleisters.
M. Kriegel: Stichworte sind Harmonisierung und standardisierte IT-Systeme in den Logistikketten. Wenn Sie mit einem Dienstleister wie Dachser zusammenarbeiten, der weltweit ein einheitliches System hat, bringt das erhebliche Vorteile. Wir haben kürzlich für einen Kunden in England einen neuen Standort im Copy-and-Paste-Verfahren realisiert. Aufgrund unserer einheitlichen und standardisierten Systeme konnten wir das ohne weitere Schnittstellen in der Supply Chain des Kunden umsetzen. Dies spart dem Kunden nicht nur Kosten, sondern verringert auch die Komplexität in seinem IT-System, da er eine Schnittstelle weniger zu pflegen hat.
Sehen Sie Vorteile in cloudbasierten Modellen?
M. Fischer: Letztendlich ist es nur ein Tool: Man kann in eigenen Datenbanken ablegen oder in der Cloud. Wichtiger aus meiner Sicht ist die Standardisierung der Prozesse, an der am Ende alle Verlader und Dienstleister ein Interesse haben. Wo ich Verbesserungsbedarf sehe, ist im eigenen Tracking und Tracing. Wir haben eine gute operative Schnittstelle mit den Dienstleistern. Wenn es darum geht, zu wissen, ob die Ware wirklich zum gewünschten Zeitpunkt beim Kunden angekommen ist, lässt sich das derzeit nur über das System des Dienstleisters nachvollziehen, zum Beispiel indem wir in das Dachser-System gehen. Mein Wunsch wäre eine eigene einheitliche Plattform
Prof. K. Hesse: Diese gibt es auch schon im Medical-Bereich. Wo laufend aufgezeichnet wird, wo sich ein Medikament gerade befindet und ob es über den Transport hinweg durchgehend der gleichen Temperatur ausgesetzt ist. Im Bedarfsfall lässt sich auch aktiv eingreifen.
M. Kriegel: Ich denke an das Schlagwort messbarer und transparenter Service, was es dem Kunden ermöglicht, sich am Weltmarkthandel abheben zu können. Messbare und transparente Wertschöpfungsketten führen zur Komplexitätsreduktion.
M. Fischer: Damit sind wir wieder beim Thema Standard.
M. Kriegel: Der Grund, eine Plattform zu nutzen oder einen Drittanbieter, ist eigentlich auch ein Ergebnis einer Nichtstandardisierung.
Was sind global betrachtet die wichtigsten Faktoren, um für Gefahrgüter und -stoffe eine sichere Logistikkette aufzubauen?
M. Kriegel: Ich benötige hierfür zwei Systeme, einmal das physische geschlossene System integriert und auf der anderen Seite natürlich auch ein integriertes, homogenes IT-System, um dieses physische System für den Kunden und mich selbst abzubilden.
Prof. K. Hesse: Aber nicht nur abzubilden, sondern auch nachverfolgen zu können. Es gilt nämlich beide Systemkomponenten, die physische als auch die informationstechnische sicher zu gestalten.
M. Fischer: Seefracht und Luftfracht sind vernünftig global reguliert. Früher dachte ich, das GHS Globally Harmonized Systems wäre wirklich eine globale Harmonisierung. Hier musste ich leider vor einigen Jahren dazulernen, dass es auch regionale GHS gibt, beispielsweise eine GHS China, eine GHS Europa und eine GHS USA. GHS ist der Weg zu einer globalen Harmonisierung, die wir vielleicht in 20, 30 Jahren erreichen. Das ist in der Tat aber für die Chemieindustrie ein Problem. Wir haben heute die Anforderungen zum Beispiel aus China, Produkte mit einem chinesischen GHS Etikett zu versehen. Dies haben wir natürlich so nicht auf Lager. Durch eine fehlende Harmonisierung in den Regularien müssen wir einen enormen Aufwand betreiben. Wir können nicht alles länderspezifisch produzieren und haben daher im Lager einen großen Aufwand.
Welchen Stellenwert haben in diesem ganzen Kontext Vertrauen und Partnerschaft zwischen Chemieunternehmen und Dienstleister, um Gefahrenpotenziale so gering wie möglich zu halten?
M. Kriegel: Sicher ist es in der chemischen Industrie aufgrund der spezifischen Anforderungen schwieriger, Vertrauen zu gewinnen als in anderen Branchen. Generell streben wir eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit unseren Kunden an. Wir stellen die Frage, wie die komplette Wertschöpfungskette, ausgehend von der Produktion, gestaltet sein muss, damit die Empfänger die Ware in der benötigten Form erhalten. Gemeinsam mit unseren Kunden gehen wir tief in die Prozesse. Je enger die Integration, desto größer ist der Nutzen für Verlader und Dienstleister. In der Chemielogistik sind Qualität und Service sehr wichtig. Sicher ist auch die persönliche Beziehung wichtig, um ein entsprechendes Vertrauensverhältnis zu schaffen.
M. Fischer: Vertrauen zwischen Verladern und Dienstleistern ist immer wichtig. denn letztendlich will man ja seinen Kunden bestmöglich versorgen. Darüber hinaus möchten wir alles tun, um Gefahren für Menschen und Umwelt zu vermeiden. In der Chemieindustrie kommt aber über die legale Verantwortung insbesondere noch dazu, dass, wenn etwas passiert, unser Name und unsere Reputation geschädigt werden. Das kann mitunter sehr, sehr teuer werden. Deswegen glaube ich, dass gerade beim Chemiedienstleister noch mehr als in allen anderen Dienstleistungsverhältnissen das Vertrauen eine große Rolle spielt.
Prof. T. Krupp:: Vertrauen entsteht, indem Zusagen eingehalten werden. Da sind wir genau beim Thema Transparenz und Verlässlichkeit. Dies führt in der Konsequenz - ich weiß, das ist ein Modewort - zu einer Wertschöpfungspartnerschaft, von der beide Parteien profitieren können.
Prof. K. Hesse: In der, der eine auch vom anderen partizipiert, was Wissen und Gewissen angeht. Denn das Wissen hat keine lange Haltbarkeit mehr. Und je nachdem, in welchem Land man gerade unterwegs ist, kommen neue Dinge hinzu. Je kürzer hierbei der Weg zwischen den miteinander arbeitenden und agierenden Personen entlang der Wertschöpfungskette ist, desto schneller verbreitet sich auch das neue Wissen. Das geht einher mit einer vertrauensvollen Zusammenarbeit.