Synthetische Arzneimittel
Rückblick auf 100 Jahre Ullmann’s: Eine wichtige Phase der Entwicklung der Pharmaindustrie
Der erste Ullmann-Artikel über synthetische Arzneimittel ist ein interessantes Zeitdokument über eine wichtige Phase der Entwicklung der Pharmaindustrie als Zweig der chemischen Industrie. Der allererste Band von Ullmann´s „Enzyklopädie der technischen Chemie" erschien 1914, wenige Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieser Band enthält den Artikel „Arzneimittel, synthetische" (S. 588-608), in dem die Autoren die Entwicklung des noch recht jungen Industriezweiges aufzeigten.
Zu dieser Zeit hatte Deutschland aufgrund seiner aufstrebenden und starken chemischen Industrie, insbesondere der Teerfarbenindustrie mit der großen Zahl an Farbstoffzwischenprodukten, eindeutig eine führende Rolle bei der Erfindung bzw. Entdeckung und Entwicklung synthetischer Arzneistoffe, was sogar von US-Autoren selbst heute noch bestätigt wird. Mit ausschlaggebend dafür waren sowohl die intensive Kooperation zwischen der chemischen Industrie und den Hochschulinstituten, als auch die frühe Einbindung der ebenfalls noch jungen Disziplin Pharmakologie. Auch hatte sich bereits frühzeitig, etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die gewerbsmäßige Herstellung reiner Naturstoffe aus Pflanzenextrakten etabliert, womit ein gewisses Know-how vorhanden war. Beispiele sind Morphin, Chinin, Cocain, Atropin und viele andere. Diese Betriebe entwickelten sich vornehmlich aus Apotheken, wie z.B. im Fall von E. Merck in Darmstadt und Schering in Berlin.
1914 hatte die Pharmachemie noch längst nicht die Bedeutung erlangt wie ab dem mittleren Drittel des letzten Jahrhunderts, das oft zitierte „golden age of drug development". Die Zahl der reinen Arzneistoffe dürfte damals bei 200-300 gelegen haben, ein Großteil davon hat sich in der Folge aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen als obsolet erwiesen. Zum Vergleich: Heute sind weltweit deutlich über 3000 Arzneistoffe auf dem Markt, und jedes Jahr kommen etwa 30 neue hinzu, wovon die meisten in den USA entwickelt werden.
Es sei daran erinnert, dass noch kein Insulin, keine Sulfonamide und kein Penicillin entdeckt waren. Das Deutsche Arzneibuch, das erstmals 1872 aufgelegt wurde, existierte aber 1910 bereits in 5. Auflage (DAB 5). Es war die Zeit, als die durchschnittliche Lebenserwartung noch unter 50 Jahren lag und Infektionskrankheiten für fast die Hälfte aller Todesfälle verantwortlich waren. Neben den Alkaloiden waren es die Narkosemittel Äther und Chloroform, Antipyretika, Lokalanästhetika, Antiseptika, Quecksilber- und Silbersalze, Hypnotika, das Aspirin und das von Paul Ehrlich gegen Syphilis entwickelte Chemotherapeutikum Salvarsan (Ehrlich-Hata 606), aus denen das Arsenal der Therapeutika bestand. Wie aus dem 100 Jahre alten Ullmann-Beitrag hervorgeht, gab es damals bereits erste Überlegungen zu Struktur-Aktivitäts-Beziehungen.
Der erste industriell hergestellte synthetische Arzneistoff war die Salicylsäure, ein Inhaltsstoff der Weidenrinde, deren Extrakte seit zwei Jahrtausenden in Anwendung waren und sogar heute noch sind. Salicylsäure wurde seit 1874 nach einem von Kolbe und Schmidt entwickelten Verfahren von der Chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul bei Dresden in großem Umfang produziert und diente als Rohstoff für das 1899 von den Farbenfabriken Bayer in den Markt gebrachte „Jahrhundertmedikament" Aspirin, ein Antirheumatikum, das bis heute große Bedeutung besitzt.
Weitere bedeutende Marksteine waren Antipyretika, und zwar das von dem Chemiker Knorr und dem Pharmakologen Filehne 1883 entwickelte und von Hoechst vertriebene Antipyrin (Phenyldimethylpyrazolon), das daraus weiter entwickelte Pyramidon sowie das in den Labors von Bayer gefundene Phenacetin, die über viele Jahre den Markt dominierten. Als „Ersatzpräparate" für das teure Cocain wurde eine ganze Reihe von Lokalanästhetika entwickelt, von denen die Eucaine von Schering, vor allen aber das Novocain von Hoechst zu erwähnen ist. Letzteres kam 1905 in den Handel.
Ein Segen waren die Schlafmittel (Hypnotika). Dem bereits 1869 als Hypnotikum erkannten Chloralhydrat folgten das Sulfonal und Analoga und dann ab 1903 die Barbiturate, von denen das Veronal (Barbital) und später das Luminal (Phenobarbital) besonders häufige therapeutische Anwendung erreichten.
Bedeutsam waren auch die ersten Schritte der semisynthetischen Abwandlung von Alkaloiden, so die Herstellung von Codein und Heroin aus Morphin. Schließlich gelang es auch, die harntreibend (diuretisch) wirksamen Purinbasen Theophyllin, Theobromin und Coffein synthetisch zu gewinnen (E. Fischer; W. Traube).
Der erste Ullmann-Artikel über synthetische Arzneimittel ist ein interessantes Zeitdokument über eine wichtige Phase der Entwicklung der Pharmaindustrie als Zweig der chemischen Industrie. Es fällt auf, dass als Quellen vorwiegend Patente genannt sind. Das spricht dafür, dass die Autoren vornehmlich aus der Industrie kamen.
Bis jetzt hat der „Ullmann" die Entwicklung der Pharmaindustrie und ihrer Produkte in jeder Auflage aktiv begleitet und es ist zu hoffen, dass das auch in Zukunft der Fall sein wird. Heutzutage ist es allerdings schwierig geworden, Kollegen aus der (deutschen) Pharmaindustrie als Autoren zu gewinnen, und die Firmen fördern das leider auch nicht mehr.
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