Logistik & Supply Chain

Logistik-Vorreiter Automobilbranche?

Wo sich die chemische Industrie ein Beispiel nehmen sollte und wo nicht

31.07.2012 -

Wo sich die chemische Industrie ein Beispiel nehmen sollte und wo nichtDie Schlagworte „Lean Management", „Just-in-Time" und „Kanban" sind Schlagworte, die in der Automobilindustrie groß geworden sind und die auf viele andere Branchen ausstrahlen. Auch durch die Management­ebenen der chemischen Industrie geistern die Begriffe immer wieder. Das Kalkül: Von den erheblichen Kostensenkungen in der Automobilindustrie müsste doch etwas abzuschauen sein. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass auch diese Methoden ihren Preis haben und nur schwer auf die chemische Industrie anwendbar sind. Mit einer Ausnahme.

Hinter dem in der Automobilindustrie entwickelten Just-in-Time-Konzept steht die Idee, alle Prozesse in der Lieferkette zu synchronisieren und so die Durchlaufzeiten zu beschleunigen und Bestände möglichst ganz zu eliminieren. Das angestrebte Szenario sieht so aus: Die Lieferkette ist von allen zeitvernichtenden Puffern und nicht wertschöpfenden Aktivitäten bereinigt; jeder Prozess wird von dem aktuellen Bedarf des jeweils vorangehenden Prozessschritts angestoßen. Das heißt, im Endergebnis werden alle Aktivitäten vom Kundenbedarf ausgelöst („Pull-Prinzip").

Die Automobilindustrie: weniger „lean" als angenommen
Viele Automobilhersteller mussten die leidvolle Erfahrung machen, dass dieses „Kanban-Modell" zwar auf dem Papier nach „Wertschöpfung pur" klingt, dass es aber auch schädliche Nebenwirkungen haben kann. Das gilt v. a. für die Auslastung der Produktionskapazitäten, denn Schwankungen eingehender Kundenaufträge schlagen sofort auf die Kapazitäten durch: Bei Nachfrage­spitzen können die Waren gar nicht schnell genug produziert werden, während Auftragsflauten sofort dazu führen, dass die Produktion gedrosselt wird und so die teuren Maschinen schlecht ausgelastet sind. Wer Lagerreserven allein als Kostenfaktor sieht, die es zu eliminieren gilt, der beraubt sich aller Anpassungsreserven. Das macht die gesamte „schlanke" Lieferkette deutlich störanfälliger. Produktionsausfälle wegen nicht vorhandener Zwischenprodukte werden häufiger und machen die erhofften Kostenvorteile zunichte.
Die Automobilindustrie schützt sich gegen diese Auslastungsprobleme großteils durch wartende Kunden: Die Unternehmen schieben permanent größere Auftragsbestände vor sich her. Sie huldigen dem Just-in-Time-Gedanken also nur in den Bereichen Produktion und Beschaffung. An der Schnittstelle zum Markt nutzt die Automobilbranche ihre Kunden als Puffer und verstößt damit grob gegen die Leitidee des Lean Management. Wartezeiten von mehreren Monaten sind keine Seltenheit - in anderen Branchen schlicht undenkbar. Die Vorreiterrolle der Automobilindustrie im Lean Management ist also in Teilen ein gut gepflegter Mythos.

Die Chemieindustrie: „Just in Case" statt „Just in Time"
In der Automobilindustrie mag der Lean-Management-Gedanke nicht voll entwickelt sein - in der chemischen Industrie ist er praktisch nicht vorhanden. Dies liegt vor allem an den ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen: Die hohen Rüstkosten in der Chemie zwingen meist zu hohen Losgrößen in der Produktion und damit zu einer starken Entkopplung von Produktion und Absatz. Das Risiko ist deshalb systemimmanent, dass Bestände aufgebaut werden, die der später eintreffenden Nachfrage nach Art und Menge nur eingeschränkt entsprechen. Die chemische Industrie ist aufgrund technologisch bedingter Sachzwänge genötigt, im Zweifel auf Reserve zu produzieren. Sie folgt deshalb in der Regel dem Gegenteil der „Just in Time"-Logik, man könnte es das „Just in Case"-Modell nennen. Der weitgehende Ersatz von Planung durch Reaktion und Anpassung funktioniert in der chemischen Industrie einfach nicht, jedenfalls nicht zu vertretbaren Kosten.
Diese Orientierung der chemischen Industrie am „Push-Prinzip" ist aufgrund der meist wesentlich geringeren Variantenvielfalt weniger schädlich. Im Verhältnis zu Lieferanten kann sie sogar hilfreich sein, da man diesen auf der Basis der eigenen Produktionspläne gegebenenfalls längere Vorlaufzeiten einräumen kann.

Mehr Pull ins Push-Modell: Integration von Lieferanten und Kunden
Um den mit dem „Push-Prinzip" einhergehenden Risiken entgegenzuwirken, kann die chemische Indus­trie allerdings Konzepte aufgreifen, die unter dem Schlagwort „Supply Chain Management" entwickelt worden sind und die vor allem in der Automobilindustrie Verwendung finden. Dabei geht es in erster Linie um die unternehmensübergreifende Abstimmung mit Kunden und Lieferanten über Bestände, Produktionskapazitäten und Nachfrage. Ziel ist es, den Bedarf des Kunden mit der eigenen Lieferbereitschaft in Einklang zu bringen, die auf den eigenen Beständen und Produktionsplänen fußt.
Gegebenenfalls kann man diesen permanent betriebenen und aktualisierten Informationsaustausch für einzelne Kunden auch mit der Reservierung von Beständen oder mit der Belegung von noch nicht verkaufter laufender Produktion verbinden, um deren Planungssicherheit zu verbessern. Insgesamt lässt sich so zum Vorteil beider Seiten Unsicherheit aus der Lieferkette nehmen. Die Prozesse werden stärker miteinander verzahnt, und die Produktion rückt trotz Push-Prinzip dichter an den Markt. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Und ein Weg, dem die chemische Industrie trotz aller unterschiedlichen Voraussetzungen folgen sollte - in den Fußstapfen der Automobilbranche.

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