Biotechnologie bahnt Chemie den Weg
27.09.2011 -
CITplus - Die moderne Biotechnologie ist dabei, zum wichtigsten Impulsgeber und Transformator der chemischen Industrie zu werden. Galt sie nach ihrer Erfindung in den 1970er Jahren hauptsächlich als Methode zur Herstellung rekombinanter Proteine, die die biologische Grundlagenforschung beflügelte und die Möglichkeiten der Medizin in Diagnostik und Therapie erweiterte, erweist sich die Biotechnologie seit der Jahrhundertwende zunehmend als Ausgangspunkt für den Weg in eine nachhaltige Zukunft, wie sie auf dem Gipfel von Rio de Janeiro 1992 als notwendiges Ziel der globalen Entwicklung formuliert wurde. In diesem Beitrag gibt die Geschäftsführerin Viola Bronsema der Biotechnologie-Industrie-Organisation BIO Deutschland einen Überblick über den Stand der weißen Biotechnologie, wie die industrielle Biotechnologie auch genannt wird.
Als industrielle Biotechnologie verhilft sie der Chemie zu neuen Produkten und umweltoptimierten Produktionsverfahren. Vor allem aber hat sie das Potenzial, nachwachsende Rohstoffe als natürliche Produktionsbasis verfügbar zu machen und damit eine Alternative zur Petrochemie aufzubauen. Je knapper das Erdöl wird, desto schneller wird sich dieses Potenzial erschließen - unter der Voraussetzung, dass die Integration biotechnologischer Verfahren in die chemische Verbundproduktion gelingt. In diesem Prozess, der jahrzehntelang dauern wird, kommt den kleinen und mittleren Biotechnologie-Unternehmen (KMU) in Kooperationen mit Großunternehmen und akademischen Partnern die Rolle eines Innovationstreibers zu, wie die Bundesregierung in ihrer jüngst verabschiedeten Forschungsstrategie Bioökonomie 2030 feststellt.
56 deutsche KMU konzentrierten sich 2010 auf die industrielle Biotechnologie, wie eine Branchenumfrage von biotechnologie.de im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ergab. Rund zwei Drittel dieser Unternehmen wurden erst seit 2000 gegründet, meist als spin-offs aus Forschungsinstituten. Zahlreiche Großunternehmen der deutschen Chemiebranche betreiben die industrielle Biotechnologie wegen deren Bedeutung für ihre Geschäftsfelder darüber hinaus in intensiven in-house-Aktivitäten. Die Bioindustrie-2021-Initiative des BMBF, die zur Herausbildung von fünf regionalen Clustern führte, unterstreicht die Bedeutung der industriellen Biotechnologie in Deutschland und dessen europäische Spitzenstellung auf diesem Gebiet.
Komplexe Synthesen und sanfte Verfahren
Die bisherigen Erfolge der industriellen Biotechnologie basieren auf der Bereitstellung von Enzymen, die entweder als Biokatalysatoren die Synthese komplexer organischer Moleküle erleichtern beziehungsweise erst ermöglichen oder die als aktive Komponenten in Endprodukte eingehen. Diese Enzyme werden meist fermentativ mittels gentechnisch veränderter Mikroorganismen produziert. Auch Pflanzen und Algen kommen für ihre Produktion in Frage. Die Auswahl der geeigneten Organismen ist entscheidend, um die biosynthetische Kreativität der Natur zu erschließen. Die Gensequenz der Enzyme wird gegebenenfalls durch Mutagenese und Rekombination verändert, um sie für industrielle Zwecke zu optimieren.
Aminosäuren, Antibiotika, Vitamine und Biopolymere zählen zum Beispiel zu den Substanzen, die durch den Einsatz von Biokatalysatoren bei relativ geringem Druck und niedriger Temperatur in wässrigen Lösungen synthetisiert werden können - mit einer hohen Selektivität und Spezifität. Das erhöht den Wirkungsgrad und die Ausbeute (etwa bei der Synthese reiner Enantiomere) und vermindert den Anfall von Neben- und Abfallprodukten sowie von Emissionen, was wiederum Material und Energiekosten spart. Insbesondere der Fein- und Spezialchemie, wo noch rund 80 % der Produkte ohne Katalysen irgendwelcher Art hergestellt werden, eröffnet die industrielle Biotechnologie die Chance, sich neue Synthesegebiete zu erobern und damit völlig neue Inhalts- und Wirkstoffe zu entwickeln.
Als aktive Komponenten sorgen maßgeschneiderte Enzyme wie Proteasen, Lipasen oder Amylasen für immer umweltfreundlichere Waschmittel, die schon heute bei 40 Grad die gleiche Leistung wie früher bei 60 Grad bringen und durch den geringeren Energieverbrauch viele Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen. Auch als Futtermittelzusatz sind optimierte Enzyme gefragt. So hilft die Phytase Schweinen und Geflügel beim Verdauen des Pflanzeninhaltsstoffes Phytat und senkt dadurch die Phosphatbelastung der Umwelt erheblich.
Bausteine für eine biobasierte Chemie
Der Anteil nachwachsender Rohstoffe in der Chemischen Industrie ist innerhalb der letzten 20 Jahre von acht auf 13 % gestiegen. Dieser Anteil wird sich bis 2030 vermutlich verdoppeln, denn weil die Rohstoffkosten einen hohen Anteil an der Wertschöpfung der Chemischen Industrie haben, ist biogenes Material schon bei einem Ölpreis von über 100 Dollar pro Barrel wirtschaftlich interessant. Als wichtigste potentielle Bausteine einer biobasierten Chemie verzeichnet eine 2010 im Fachblatt „Green Chemistry" erschienene Studie folgende Substanzen bzw. Substanzgruppen: Bernsteinsäure, Furanderivate, 3-Hydroxypropionsäure, Ethanol, Lävulinsäure, Glyzerinderivate, Sorbit, Xylit, Milchsäure und Kohlenwasserstoffe. Die Herausforderung besteht darin, die für ihre Synthese erforderlichen Teile aus Biomasse, die zu mehr als 90 % aus Biopolymeren besteht, abzutrennen, umzuwandeln und in die Wertschöpfungskette zu integrieren. Dabei wird es auf dem Weg von der Erdölraffinerie zur Bioraffinerie darauf ankommen, die biogenen Bausteine sowohl stofflich als auch energetisch zu nutzen und großtechnische Prozesse zu etablieren, die dem „steam reforming" und „steam cracking" bei der Aufbereitung und Verarbeitung des Erdöls entsprechen.
In den dafür notwendigen Bioraffinerien müssen biotechnologische und innovative chemische Methoden miteinander kombiniert und integriert werden. Während die Bioraffinerien der ersten Generation vorwiegend Zucker zu Bioethanol verarbeiten, der in Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion gewonnen wird, sollen die Bioraffinerien der zweiten Generation die nicht essbaren Anteile von Pflanzen verwerten, deren Hauptbestandteil die Lignocellulose ist.
Raffinerien für nachwachsende Rohstoffe
Der Nutzung von Agrarreststoffen wie Getreidestroh, besitzt für Europa, Expteren zurfolge, das größte Potential. Aus dem Stroh Bioethanol zu gewinnen ist Ziel der Süd-Chemie mit einer Anlage in Straubing. Dort sollen von Ende 2011 an jährlich vorerst 1.000 Tonnen Bioethanol aus 4.500 Tonnen Stroh mit dem sogenannten sunliquid-Verfahren produziert werden. Auf die Prozessbedingungen und auf den Rohstoff optimierte Biokatalysatoren spalten dazu C6- und C5-Zuckermonomere aus der Cellulose und Hemicellulose des Strohs ab und fermentieren die entstandene Zuckerlösung anschließend mit einer eigens entwickelten Hefevariante zu Bioethanol. Die Enzymproduktion verläuft dabei prozessintegriert, was die Kosten erheblich senkt. Die simultane Fermentation von C6- und C5-Zuckern gelingt dank eines speziellen Hefestammes und erhöht die Ethanolausbeute gegenüber herkömmlichen Verfahren, die nur Glucose vergären können, um 50 %. Somit erreicht das Verfahren 85 % der theroretischen Produktausbeute. Die gesamte Prozessenergie entsteht aus den Nebenprodukten wie dem Lignin und macht den Einsatz zusätzlicher Brennstoffe überflüssig, was zu einer Kohlendioxid-Einsparung von knapp 95 % führt. Süd-Chemie plant neben weiteren nachwachsenden Rohstoffen ebenfalls andere Grundstoffe der chemischen Industrie für das Verfahren zugänglich zu machen.
Dem Aufschluss lignocellulosehaltiger Rohstoffe und der vollständigen Nutzung ihrer Komponenten Cellulose, Hemicellulose und Lignin aus Holzschnitzeln von Buchen und Pappeln widmet sich ein Pilotprojekt, das unter der Projektträgerschaft der Fachagentur nachwachsende Rohstoffe 15 Verbundpartner aus Industrie, KMU, Forschungseinrichtungen und Universitäten vereint. Die im Sommer 2009 abgeschlossene erste Projektphase erbrachte den „proof of concept" und lieferte damit die Basis, beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) den Antrag auf die Errichtung einer Pilotanlage in Leuna zu stellen, die Ende 2011 in Betrieb gehen soll. Darin werden pro Woche aus 315 Kilogramm absolut trockenem Holz 122 Kilogramm C6-Zucker, 31 Kilogramm C5-Zucker und 81 Kilogramm Lignin entstehen. Während die Zuckerfraktion relativ einfach teils fermentativ zum Beispiel zu Mono- und Dicarbonsäuren, teils chemisch zu Polyalkoholen weiterverarbeitet werden kann, bietet der Aufschluss des Lignins größere Widerstände. Als Polymer aus phenolischen Grundkörpern ist es fest an die Kohlenhydrate gebunden. Teils soll es unter Erhaltung seiner Struktur für Werkstoffe wie Phenolharze oder Polyurethane genutzt, teils zur Gewinnung von Aromaten aufgespalten werden.
Auch Kunststoffe, die auf dem Weltmarkt in großen Mengen nachgefragt werden und damit zu den Produkten der Bulkchemie gehören, lassen sich aus biologisch gewonnenen Bausteinen aufbauen, wie das von der Wacker Chemie verfolgte Projekt des Polyvinylacetats zeigt, dessen Monomer aus Ethen und Acetat gefügt ist. Während Ethen durch klassische Dehydratation aus Bioethanol gewonnen werden kann, bieten sich für die Synthese von Bioacetat verschiedene Wege an, in denen fermentative Prozesse mit einer klugen Folgechemie verknüpft sind. So kann Acetat im proprietären ACEO-Verfahren in Bioraffinerien der ersten Generation aus einer wässrigen Bioethanollösung über eine energieautarke Gasphasenoxidation erzeugt werden. Der enzymatische Aufschluss von Lignocellulose in Bioraffinerien der zweiten Generation liefert den C4-Körper 2,3-Butandiol, auf den dieselbe Gasphasenoxidation anwendbar ist. Das effizienteste, aber allenfalls langfristig realisierbare Verfahren zur Erzeugung von Bioacetat wäre seine Erzeugung aus Kohlendioxid und Wasserstoff aus anaeroben, acetogenen Bakterien.
Bessere Bedingungen für die Bioökonomie
Die Integration von petrochemischen und nachwachsenden Rohstoffen in die chemische Produktion an den Verbundstandorten wird zu einer petrochemisch-biotechnologischen Hybridchemie führen, in der sich auch neue, biogene Plattformchemikalien herausbilden. 2,3-Butandiol zum Beispiel eignet sich als „grünes" Ausgangsprodukt für den Ersatz petrochemisch hergestellter Lösungsmittel.
Das ist aber nur ein Aspekt auf dem Weg in eine bio-basierte Wirtschaft, auf dem es noch viele wissenschaftlich-technische Probleme zu lösen gilt, was allen beteiligten Akteuren nüchterne Urteilskraft, Kooperationsfähigkeit, Beharrungsvermögen und visionären Mut abverlangt. Darüber hinaus erscheint es für den Erfolg der Forschungsstrategie Bioökonomie 2030 essentiell, Unternehmensgründungen im Bereich der industriellen Biotechnologie noch stärker zu fördern. Denn diese sind - obwohl gerade vom Mittelstand wertvolle Impulse zur Biologisierung der Chemie ausgingen - im Vergleich zur biomedizinisch ausgerichteten Biotechnologie nach wie vor relativ gering. Das liegt einerseits an der Dominanz der chemischen Großindustrie, die lukrative Arbeitsmöglichkeiten bietet und es für Gründungswillige schwierig macht, nachhaltige Nischen für eigenes Unternehmertum zu finden, andererseits an mangelhaften Zugangsmöglichkeiten zu notwendigem Wagniskapital.
Würde die industrielle Biotechnologie ihr Potenzial weltweit voll ausschöpfen, dann ließen sich dadurch bis 2030 zwischen einer Milliarde und 2,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einsparen, wie eine Studie ergab, die das dänische Biotech-Unternehmen Novozymes 2009 gemeinsam mit dem World Wide Fund for Nature (WWF) erarbeitet hat. Sollen diese positiven Effekte tatsächlich erzielt und verstetigt werden, dann müssen ihre geldwerten Vorteile kontinuierlich in den Ausbau der industriellen Biotechnologie investiert werden - auch und gerade in die Förderung der KMU, die die Bundesregierung wegen ihrer hohen Flexibilität bei sich rasch änderndem Nachfrageverhalten als volkswirtschaftlich besonders bedeutsam und innovativ einstuft.