Prof. Dr. Klaus Müllen, MPI: Chemiker in Deutschland und Europa – heute und morgen
Ein Blick in die Zukunft des Chemikers
Um das Jahr 2000: Immer wieder war es in aktuellen Chemiepublikationen schwarz auf weiß zu finden, immer wieder hörte man es in Ansprachen und Reden, wenn es um Chemie ging: „Die Chemie ist eine Querschnittswissenschaft". Es sah angesichts von Schlagworten wie Strukturbiologie, Materialwissenschaften, oder Nanowissenschaft zunächst so aus, als hätten wir Chemiker die Meinungsführerschaft in Bereichen verloren, die von anderen Wissenschaftlern und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit als besonders zukunftsrelevant betrachtet werden. Insofern war die Formulierung „Querschnittswissenschaften", von uns Chemikern selbst geprägt, ein Gewinn.
Auch in der Öffentlichkeit merkte man: Chemiker mischen irgendwie irgendwo mit. Oder auch positiver: Viele andere Disziplinen und Industrien brauchen die Chemie. Diese (nicht neue) Erkenntnis tat gut; denn der Begriff „Chemie" war in dieser Zeit negativ besetzt, nach jahrelangen, quälenden Umweltdiskussionen. „Man" wollte keine Chemie mehr. Schön, geradezu erlösend war es für uns Chemiker da, für andere Wissen, Erfahrung, Können und Ideen einzubringen - zur Entwicklung von neuen Materialien für die Autoindustrie, für neue diagnostische Methoden in der Medizin, für die zukünftig unbedingt notwendige Sonnenenergieverwertung, für Bauteile in der Elektronik, für Baustoffe und vieles mehr.
Ohne Zweifel: Das war und ist völlig richtig und sehr wichtig, und das musste und muss auch nach außen kommuniziert werden. Und da überdies der Begriff „Chemie" außer von uns Chemikern kaum noch von jemanden gemocht und es in der wissenschaftlichen Community Usus wurde, modernere Wissenschaftsbegriffe zu nutzen, ich nenne nur Umweltwissenschaften oder Nanostrukturforschung, verschwand der Begriff „Chemie" immer mehr aus der im weitesten Sinne politisch geprägten Wissenschaftslandschaft. Das gilt beispielsweise für Förderprogramme der Wissenschaftsorganisationen oder auch der Bundesregierung. Hierzu zähle ich beispielsweise auch die Exzellenzinitiative der Bundesregierung zur Förderung der deutschen Hochschulen. Mehr als zufrieden konnte man in dieser Initiative mit dem positiven Abschneiden deutlich chemisch geprägter Projekte an Hochschulen sein, doch die Begriffe „Chemie" oder „chemisch" suchte man zumeist vergeblich bei den Projektbeschreibungen. Dies hat letztlich auch wieder Wirkung nach außen: Chemie, eine tradierte Wissenschaft ohne Zukunft?
Nun, ganz so düster stellt sich das Bild doch nicht dar; denn es setzt sich letztlich die Erkenntnis durch, dass wir in einer stofflichen Welt leben und es keine technische oder medizinische Weiterentwicklung ohne Weiterentwicklung bei den Stoffen und Materialien geben wird, und die Wissenschaft, die sich mit Stoffen und Materialien befasst, ist nun einmal die Chemie.
Interesse in der Schule steigt
Die Chemie erlebt derzeit eine Renaissance, und zwar eben nicht nur als Querschnittswissenschaft. So wurde die Chemie auch aus den Gymnasien nicht verbannt, im Gegenteil. Auch Dank der Bemühungen der GDCh ist an vielen Schulen festzustellen, dass Chemie wieder beliebter wird und mehr interessiert als noch vor ein paar Jahren. So scheint es mir, dass auch wieder vermehrt Leistungskurse dort angeboten werden können. Das Jahr der Chemie 2003 mag mit dazu beigetragen haben, den Blick der Allgemeinheit wieder auf unsere wahrlich faszinierende Wissenschaft zu lenken. Möglicherweise konnten viele Kinder und Jugendliche, aber auch Lehrer aus diesem Jahr Begeisterung für unser Fach schöpfen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das von der GDCh initiierte Lehrerfortbildungsprogramm, das jährlich mehr als 10.000 Lehrer als Teilnehmer zählt.
Und wir wollen ja gerade junge Menschen für unser Fach gewinnen, wollen sie auch von der Bedeutung unseres Faches in der Zukunft und von Forschung und Entwicklung in Chemie für Innovationen und damit für unseren Wirtschaftstandort überzeugen. Vielen von ihnen möchten wir nahe bringen, einen chemischen Ausbildungsgang oder ein Studium der Chemie, Biochemie oder Lebensmittelchemie zu absolvieren. Und zurzeit können wir uns auch diesbezüglich über mangelndes Interesse nicht beklagen.
Die Chemie öffnet sich
Die Zukunft des Chemikers ist also gesichert? Manchmal kommen mir und auch der Gesellschaft Deutscher Chemiker da gewisse Zweifel. Zumindest regen die Lehrpläne an den Hochschulen zum Nachdenken und Aufpassen an. Viele chemisch Interessierte können Studienrichtungen wählen, die sich, um das Beispiel von eben nochmals zu bemühen, Umweltwissenschaften oder Nanostrukturwissenschaften nennen, und die brauchen nicht zwangsläufig einem Fachbereich Chemie zugeordnet zu sein, sondern z.B. auch der Geologie oder der Physik. Was ist also einer, der Nanostrukturwissenschaften nach dem Vordiplom oder Bachelor-Abschluss studiert? Ist er ein Nanostrukturwissenschaftler? Oder ist er tatsächlich noch ein Chemiker? Lange wehrten sich die Chemiker, als in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Biochemie aufkam, diese als eigenes Studienfach anzuerkennen. Doch es kam genau so, auch weil die Integration dieses Faches in den Studiengang Chemie (oder auch Biologie) nur bedingt möglich war. Jetzt haben wir Diplom-Biochemiker - aber in diesem Titel ist wenigstens die „Chemie" erhalten geblieben - und ohne Zweifel sind das ja sehr gefragte Leute in Wissenschaft und Industrie.
Wird es uns ähnlich ergehen mit Nanostrukturwissenschaftlern; oder fassen wir es mal weiter: mit Materialwissenschaftlern? Die GDCh-Fachgruppe Festkörperchemie gab sich vor einigen Jahren den Zusatz „und Materialforschung". Und wer sind die Materialforscher? Chemiker (Anorganiker, Organiker, Physikochemiker, Polymerchemiker, Festkörperchemiker), Physiker, Ingenieure, Mineralogen. Materialwissenschaften haben heute und in der Zukunft eine enorme Bedeutung und ein ungeheures Potential. Eigene Fachbereiche gibt es schon. Sie saugen die klassischen Naturwissenschaftler in sich auf. Könnte es dazu kommen, dass also beispielsweise der klassische Chemiker bald auch von dieser und anderen neuen Disziplinen - aus dem biochemischen Bereich z.B. die Proteomforschung - vereinnahmt wird und langsam seine Existenzberechtigung verliert?
Lassen wir die Frage erst einmal offen und fügen wir ihr - mehr indirekt - noch eine zweite hinzu. Die chemische Industrie ist eine der größten und wichtigsten Branchen weltweit und insbesondere auch in Deutschland, in dem das größte Chemieunternehmen der Welt seinen Stamm- und Hauptsitz hat. Es gab - und vielleicht gibt es sie noch? - Tendenzen, die größeren (und ganz großen) durch Entflechtung flexibler für die Märkte zu machen. Zunächst wurde Pharma von Chemie getrennt. Nachvollziehbar für viele, aber nicht unbedingt für die Forscher - die Wirkstoffforscher - in den Unternehmen. Für Hoechst endete diese Trennung und die Separierung anderer Einheiten im Aus. Hier wurde gewissermaßen die klassische Chemie zerschlagen. Und ein fragender Blick auf andere Chemieunternehmen sei gestattet.
Seit Jahren macht die GDCh immer wieder sehr deutlich, dass sie sich auch als Repräsentantin des Gesamtgebietes der molekularen Wissenschaften sieht. Die 2004 aus der Förderation Europäischer Chemischer Gesellschaften (FECS) hervorgegangene EuCheMS macht das sogar direkt in ihrem Namen deutlich (European Association for Chemical and Molecular Sciences). Ich begrüße es sehr, dass die Chemie so selbstbewusst in die Zukunft schreitet, ihre klassischen Felder nicht verlässt, aber die Zäune doch weiter nach außen legt und sie vor allem öffnet.
Zu den klassischen Feldern sei nur kurz angemerkt: Es wird sie auch in Zukunft geben, die genuin chemischen Inhalte der Forschung. Dazu gehören Effizienz, „sustainability", in der Synthese wie etwa Vermeidung von Nebenprodukten, Vermeidung von Lösungsmitteln, Einsatz von Mikroreaktoren oder die effiziente Nutzung der Katalyse. Dazu gehört auch Strukturphantasie, die ja letztlich, in der Anwendung, auch Funktionsphantasie ist.
Studium im Wandel
Das Chemiestudium muss es weiter geben. Und das darf nicht nur der Bachelorstudiengang sein. Auch ein Masterstudiengang, wie immer er heißen mag - sagen wir, weil mir das am nächsten liegt, Polymerwissenschaften - muss weiterhin dem Fachbereich Chemie zuordenbar bleiben. Der Master of Science sollte in diesem Fall weiterhin ein Chemiker sein dürfen, schließlich nennt sich ja auch kaum ein Dr. rer. nat. „Naturwissenschaftler". Dieser Doktortitel wurde in einer Zeit „geboren", in der die Naturwissenschaften noch wesentlich übersichtlicher waren als heute. Die Spezialisierung auf Chemie, Physik oder Biologie mit immer zahlreicher werdenden Unterfächern schritt aber rasant voran. Heute kann keiner mehr Generalist in den Naturwissenschaften sein. Und einen Generalisten in Chemie wird es zukünftig wohl auch kaum mehr geben.
Die deutschen Universitäten bilden seit über 100 Jahren fast ausschließlich Forschungschemiker aus, eine Tradition, die in der großen Bedeutung der chemischen Industrie gewachsen ist. Noch setzen ca. 90% der Diplom-Chemiker oder Master ihr Studium mit einer Doktorarbeit fort und streben eine Forschungsposition an. Sie tragen damit zunächst zur Forschungsleistung des Landes und zu dem internationalen Ansehen bei. Nur 7,5% der Graduierten verließen ohne Dr.-Titel die Universität und begannen eine berufliche Laufbahn.
So wichtig die intensive Auseinandersetzung mit der Wissenschaft für den angehenden Forschungschemiker ist, so wenig kann das Studium unter Umständen für den Einsatz auf anderen Tätigkeitsfeldern vorbereiten. Die promovierten Chemiker sind häufig nur unzureichend auf die Bedürfnisse der kleinen und mittleren Unternehmen mit ihren zum Teil sehr anwendungsbezogenen und komplexen technischen Fragestellungen ausgebildet.
Die GDCh sprach sich Ende der 90er Jahre mit der Würzburger Denkschrift für ein Studienmodell aus, nach dem der Forschungschemiker künftig in kleinerer Zahl, aber auf hohem wissenschaftlichem Niveau auszubilden ist. Gleichzeitig soll die Zahl der für spezielle Tätigkeitsfelder ausgebildeten Chemiker, die nicht notwendigerweise promoviert sind, durch entsprechende Angebote an neuen Studiengängen in Verbindung mit einem Chemie-Basisstudium gesteigert werden. Durch attraktive Studienangebote sollen mehr Studienanfänger für das Chemiestudium gewonnen werden. So wurde die Empfehlung für ein Basisstudium (Bachelorstudium) ausgesprochen, das alle wesentlichen Elemente des früheren Diplomstudienganges enthält.
Ich gehe davon aus, dass eine Reihe von neuen Berufsbildern entstehen wird, die auf dem sechssemestrigen Chemie-Basisstudium mit Bachelor-Grad aufbaut. In vielen Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft wird naturwissenschaftliches Basiswissen gepaart mit Kompetenz in anderen Fächern gefordert. Hier sind interessante Entwicklungen auch für Chemiker zu erwarten. Kombinierte Studiengänge des Bachelorstudiums Chemie als fundierte Grundlage mit Modulen aus den Wirtschafts- oder Politikwissenschaften, Jura oder einem Fach der Geisteswissenschaften, gelehrt an einer Universität im In- oder Ausland oder an einer guten Akademie, können einen neuen Typ des Entscheiders und Managers für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft hervorbringen. Auf diese Weise ausgebildete Chemiker sind für viele Unternehmen mit dem gewünschten fachübergreifenden Wissen ausgerüstet.
Die naturwissenschaftliche Kompetenz eines Bachelors in Chemie sollte sich auch mit einer praktischen Weiterbildung kombinieren lassen und auf diese Weise interessante Karrierewege erschließen, wie z.B. im Wissenschaftsjournalismus, in der Medien- und Kommunikationswelt oder in der Unternehmensberatung.
Zukunftspläne
Ziel der Hochschul- und Studienreform ist, zum einen die Studiengänge neuen Anforderungen unserer Zeit anzupassen, zum anderen die Harmonisierung und Europäisierung der Ausbildung im Bereich Chemie voranzubringen. Die Schaffung eines europäischen Bildungsbereichs gehört sicher zu den Zielen dieses Jahrzehnts. Und verschiedene Arbeitsgruppen arbeiten auf europäischer Ebene an diesem Ziel. Für den Bereich Chemie sollten sich die nationalen Gesellschaften in Zusammenarbeit mit ihrer europäischen Vereinigung, der EuCheMS entsprechend einbringen. Dabei geht es nicht um Aufgabe der Eigenständigkeit der Hochschulen und auch nicht um eine nicht akzeptable Konformität der Lehrprofile. Ganz im Gegenteil: Die GDCh hat mit der Empfehlung zur Studienreform die Fachbereiche aufgefordert und ermuntert, die Neugestaltung der Studiengänge als Chance für eine stärkere Profilierung des Fachbereichs zu nutzen und damit in den Wettbewerb um die besten Studenten zu treten. Es sollte aber ein gewisses Maß an Standardisierung erreicht werden, damit eine bessere Transparenz und Vergleichbarkeit der Studiengänge und Abschlüsse gewährleistet ist. Dies ist für eine europäische Mobilität der Studenten wichtig, und es ist wichtig für die Arbeitgeber, um Bewerber richtig einschätzen zu können.
Mit diesen Voraussetzungen hat die Chemie in Deutschland und in Europa gute Aussichten für eine glänzende Zukunft, für die natürlich vor allem Chemiker mit viel forscherischer Phantasie gebraucht werden. Die Kreativität des forschenden Chemikers ist von ungeheurer Bedeutung für unseren Forschungs- und Wirtschaftsstandort!
Bei dieser Meldung handelt es sich um eine Archiv-Meldung, bei der die Abbildungen entfernt wurden.