Jürgen Vormann: Strategien zur Standortentwicklung für Chemie und Pharma
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen
Die Chemie- und Pharmaindustrie hat in Deutschland eine besonders lange Tradition. Aber haben diese Branchen in der Bundesrepublik auch Zukunft? Eine Frage, die sich angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in verschiedenen Industriebereichen zwangsläufig stellt, da im Zuge der Globalisierung Wertschöpfungsketten in immer kürzeren Abständen neu strukturiert werden und moderne Logistik- sowie Kommunikationsinfrastrukturen den Transfer von Know-how und Produkten erleichtern.
Für klassische Industriebranchen haben sich somit neue Herausforderungen ergeben. In Deutschland und Europa hängt die Zukunftsfähigkeit der Chemie- und Pharmaindustrie davon ab, dass geeignete Rahmenbedingungen geschaffen und aufrechterhalten werden, um eigene Stärken optimal zu nutzen und auf dieser Grundlage im internationalen Wettbewerb dauerhaft zu bestehen. Chemie und Pharma brauchen in Deutschland zukunftsfähige Strategien - dies gilt für einzelne Unternehmen und für komplette Standorte gleichermaßen.
Zweifellos hat sich die Weltkarte der Chemie- und Pharmaaktivitäten in den vergangenen Jahren stark verändert. Zweistelligen Wachstumsraten in Asien, vor allem in China und Indien, steht ein stark abgeschwächtes Wachstum und teilweise Stagnation in Europa gegenüber. Doch noch immer nimmt die europäische Chemie und Pharmaindustrie eine globale Spitzenposition ein: fünf der zehn weltweit größten Chemieunternehmen kommen aus Europa. 27.000 Chemie-unternehmen beschäftigen rund 1,9 Mio. gut ausgebildete Mitarbeiter. In der Pharmabranche beläuft sich die Mitarbeiterzahl in Europa auf rund 615.000, darunter mehr als 100.000 in Forschung und Entwicklung. Unter den 20 weltweit größten Pharmakonzernen sind acht europäische Firmen.
Auch wenn der Marktanteil der europäischen Chemieindustrie im globalen Vergleich zurückgeht, so wird es auch langfristig Chemie- und Pharmaaktivitäten in Deutschland und Europa geben. Europa bleibt im Pharmabereich mit einem Marktanteil von derzeit rund 30% einer der weltweit wichtigsten Absatzmärkte, was auch bei den Standortentscheidungen forschender und produzierender Unternehmen eine Rolle spielt. Gleiches gilt für die Chemieindustrie. Allein: Die Rahmenbedingungen an den europäischen und damit auch an den deutschen Standorten müssen stimmen.
Eine weiter fortschreitende Konsolidierung der Chemie- und Pharmastandorte in Deutschland ist unausweichlich. Zukunftsfähige Standorte müssen unter zunehmend globalen Wettbewerbsbedingungen eine kritische Mindestgröße aufweisen und sie brauchen eine den jeweiligen Anforderungen der Standortnutzer entsprechende Infrastruktur, um den einzelnen Kunden über ein kundenorientiertes und flexibles Dienstleistungsangebot bei gleichzeitiger Nutzung von Economies of Scale Vorteile im internationalen Wettbewerb bieten zu können. Standortbetreiber müssen ein diversifiziertes industrielles Service-Portfolio bieten können, um den operativ tätigen olle Konzentration auf das jeweilige Kerngeschäft zu ermöglichen. Und da sich globale Märkte und internationale Rahmenbedingungen in immer kürzeren Abständen verändern, müssen Standortbetreiber die Fähigkeit mitbringen, die Infrastruktur frühzeitig den aktuellen Anforderungen anzupassen.
Erfolgskritische Standortfaktoren
Wichtig ist hierbei die Energieversorgung, denn einerseits stellen international wettbewerbsfähige Energiepreise einen Erfolgsfaktor für die produzierenden Unternehmen der Chemie- und Pharmabranche dar. Andererseits ist gerade auch die Chemie- und Pharmaindustrie selbst gefordert, mit knapper werdenden Ressourcen wie z.B. fossilen Brennstoffen verantwortungsbewusst umzugehen und verstärkt auch auf regenerative Energiequellen zu setzen, um so auch den Ausstoß klimaschädlicher Emissionen zu reduzieren. Grundsätzlich hängt die Akzeptanz der industriellen Produktion im gesellschaftlichen und politischen Umfeld nicht zuletzt davon ab, dass Umweltauswirkungen minimiert werden.
Die zum Teil erheblichen Investitionen in die Infrastruktur eines Standortes müssen finanziert werden. Da dies in den seltensten Fällen ausschließlich mit Eigenkapital geschehen kann, ist der Einsatz innovativer Finanzierungsstrukturen erforderlich, damit das erforderliche Kapital zur Verfügung gestellt wird. Die dazu notwendige Akzeptanz solcher Infrastrukturinvestitionen im Kapitalmarkt ist abhängig von der nachgewiesenen Professionalität und dem Know-how der Infrastrukturbetreiber sowie von einem ausgewogenen und zukunftsorientierten industriellen Wertschöpfungsportfolio des Standortes, der über eine hinreichende, zunehmend risikodiversifizierende Größe verfügen muss. Hier sind die Voraussetzungen großer Standorte deutlich besser.
Die Frage nach dem geeigneten Standortbetreibermodell ist abhängig von der jeweiligen Struktur des Standortes. In den letzten Jahren hat sich die Konstellation mit einer rechtlich selbständigen Betreibergesellschaft für eine Reihe von Chemie- und Pharmastandorten etabliert. Zusätzlich ist z.B. innerhalb des Verbandes der Chemischen Industrie ist eine Fachvereinigung „Chemieparks/Chemiestandorte" entstanden, in der mittlerweile rund 40 größtenteils rechtliche selbständige Standortbetreibergesellschaften organisiert sind.
Dynamische Entwicklung
Das ehemalige Hoechst-Stammwerk hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Industriepark entwickelt, in dem mittlerweile mehr als 90 Unternehmen der Chemie-, Pharma- und Biotechnologiebranche ansässig sind. An diesem Standort arbeiten täglich rund 22.000 Menschen - das sind rund 4.000 Menschen mehr als noch vor einer Dekade. In Höchst wurden zwischen 2000 und 2007 rund 3,1 Mrd. € investiert. Das ist im Durchschnitt dieser Jahre rund das Doppelte des Betrages, der zu den besten Zeiten der Hoechst AG investiert wurde. Dies ist in erster Linie auf die Aktivitäten der großen Standortgesellschaften wie Sanofi-Aventis, Clariant oder Celanese zurück zu führen, doch deren Investitionsentscheidungen wurden und werden in erster Linie von den spezifischen Rahmenbedingungen am Standort abhängig gemacht.
Zudem haben sich viele kleinere und mittelständische Unternehmen in den Industriepark integriert. Produzierende Unternehmen wie beispielsweise der US-amerikanische Cargill-Konzern haben im Industriepark stattliche Beträge investiert. Die bekannteste Neuansiedlung des Industrieparks Höchst ist jedoch die Ticona: Das Unternehmen nahm im Rahmen der in Zusammenhang mit dem Ausbau des Frankfurter Flughafens notwendigen Standortverlagerung des Werkes in Kelsterbach in einem bundesweiten Benchmark mehr als 50 in Frage kommenden Standorte für den Neubau der Produktionsanlage unter die Lupe. Die Entscheidung für dieses Jahrhundertprojekt fiel letztendlich für den Industriepark Höchst.
Fazit: Chemie und Pharma haben Zukunft in Deutschland und Europa, wenn im Zuge des Strukturwandels in diesen Branchen Industriestandorte entstehen, an denen fokussiert tätige Betreibergesellschaften eine auf die Anforderungen der Standortnutzer ausgerichtete Infrastruktur und ein diversifiziertes Dienstleistungsspektrum anbieten. Auf diese Weise können Standortbetreiber unmittelbar zur Wettbewerbsfähigkeit der Kunden beitragen. Der Konsolidierungsprozess der deutschen Industriestandorte wird eine Spezialisierung mit sich bringen, bei der die Infrastrukturgesellschaften sehr spezifische Profile entwickeln und sich folglich Standorte herausbilden, die sich auf einzelne Marktsegmente und Branchen konzentrieren.