Bayerns Weg zu „Chemical Assisted Living“
Erfolgreiches Cluster-Management am Beispiel des Chemie-Clusters Bayern
Industrie- und Wirtschaftscluster sind keine Erfindung der Politik oder Wirtschaftsförderung, sondern gewissermaßen Naturphänomene der ökonomischen Topographie: Dies gilt für die Chemiebranche im Besonderen. Es genügt ein Blick über die Rheinebene bei Sonnenaufgang, um sich ein Bild von der Bedeutung solcher geballten Standorte zu machen; gleichzeitig zeigt eine historische Betrachtung von Traditionsunternehmen wie Hoechst, dass sich auch umgekehrt ein Großkonzern in die Strukturen von Clustern, engeren oder weitmaschigen Netzwerken zerstreuen kann.
Cluster sind Produktivitätskerne, internationale Aushängeschilder und Instrumente effizienter Strukturpolitik - das pure Nebeneinander von Unternehmen und Forschungseinrichtungen entwickelt bereits eine Eigendynamik von Forschung, Entwicklung und internationaler Vernetzung, die mit individuellen Maßnahmen des Business Development nicht erreicht werden kann. Hilft ein Standort, positive Skaleneffekte, Dichte- und Verbundvorteile hinsichtlich der Produktionskosten zu realisieren, so überträgt ein Cluster, d.h. ein Verbund von Einzelstandorten mit größerer Heterogenität der Firmen und Einrichtungen, diese Effekte auch auf Forschungs- und Entwicklungsdynamik, Human Ressource Management, Strategie- und Marktentwicklung:
Das Unternehmen profitiert so von einer Regionalrendite, die umso höher ausfällt, je strukturierter und verantwortungsvoller die Zusammenarbeit mit den Nachbarn - Zulieferern, Abnehmern, Hochschulen, durchaus auch Konkurrenten - durch ein handlungsfähiges Management gesteuert wird. Diese Aufgabe fällt dem Cluster-Management zu, einer gemeinsam getragenen Netzwerkeinrichtung zur Optimierung solcher betrieblichen Querfunktionen, die weit über das Werkstor hinaus verlängert werden.
Die Cluster-Offensive Bayern
Das Chemie-Cluster Bayern entstand 2006 im Rahmen der bayerischen Cluster-Offensive, mit der die Landesregierung Clustermanagementaufgaben in 19 bayernweiten Branchen und Technologiefeldern finanziell unterstützt. In enger Zusammenarbeit mit dem Landesverband der chemischen Industrie und dem Netzwerk bayerischer Universitäten formierte sich rasch ein loser Verbund von über 200 Unternehmen und Forschungseinrichtungen - vom Freiberufler bis zum Großkonzern, vom Alpenrand bis nach Franken, von Betrieben der Ethylenchemie, Agrochemikalien oder Pharmazeutika bis zum Hersteller ökologischer Holzschutzmittel aus Bienenwachs. Ein großflächiges Netzwerk solcher Heterogenität und Themenbreite schien zunächst weit entfernt von aller Eigendynamik, die gemäß traditioneller Cluster-Theorie aus regionaler Branchendichte erwächst:
Mit Informationsangeboten, Fachveranstaltungen und Kooperationsdatenbanken wurden den Cluster-Mitgliedern zunächst solche Instrumente zum Wissenstransfer angeboten, wie sie zum Standardprogramm halböffentlicher Intermediäre mit Networking-Auftrag gehören. Ein arbeitendes, produzierendes Cluster mit messbarem Output entstand auf diese Weise jedoch nicht.
Das Netzwerk als Projektentwickler
Anfang 2009, unter jungem Management, wurde umgedacht: Im Fokus der Clusterarbeit steht seitdem das Ziel, im Netzwerk schneller neue Produkte und Prozesse zu entwickeln und sie effizienter auf relevante Zielmärkte zu bringen. Zwar besteht das Cluster aus einer großen Bandbreite verschiedener Unternehmen - deren Leistungen finden sich jedoch häufig in denselben Endprodukten wie Häusern, Autos oder Freizeitartikeln wieder. Unter der Überschrift „Chemie trifft..." diskutieren nun z.B. Unternehmen der Textilchemie, der Kunststoffindustrie und Hersteller von Naturfarben mit Sportartikelherstellern den „Turnschuh der Zukunft".
Das gastgebende Unternehmen einer wichtigen Abnehmerindustrie (z.B. Bau, Automobil oder Gesundheit) gibt hierbei zwei oder drei Kernfragen seiner entwicklungstechnischen Wunschliste vor, Unternehmer und Wissenschaftler des Chemie-Clusters erarbeiten dann in konkreten Business Cases Lösungsansätze für neue Materialien, Verfahren oder Anwendungsgebiete.
Chemical Assisted Living
Aber auch dort, wo Kompetenzen und Know-how der Cluster-Partner in unterschiedlichsten Endprodukten zum Einsatz kommen, finden sich diese doch oft auf denselben Zielmärkten wieder: Energie, Mobilität, Gesundheit, CleanTech und Alltagskomfort sind die zentralen Marktschnittstellen, an denen die Chemie als Innovationstreiber industrielle Lebensfunktionen sicherstellt. Das Chemie-Cluster Bayern hat sich hier in kurzer Zeit als Projektentwickler für „Chemical Assisted Living"-Innovationen profiliert: Unter Anregung, Organisation und Koordination des Cluster-Managements werden nun konkrete Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Netzwerk umgesetzt. Das Cluster moderiert hierbei die Zuteilung der Arbeitspakete, entwirft Kooperationsvereinbarungen, klärt IP- und Verwertungsrechte und wirbt öffentliche Fördermittel ein.
Als Dreh- und Angelpunkt zwischen Wirtschaft, Forschung und Politik stellt es aber auch bestehende chemische Lösungen auf neue Märkte: So werden in Schwellenländern die Beiträge der Chemie zum Klimaschutz, aber auch zur Anpassung an den Klimawandel als „Chemical Climate Efficiency" präsentiert; mit Gesundheitsdienstleistern wird der Einsatz intelligenter Farben zur Behandlung von Depressionen besprochen; ein „Chemical Assisted Car" soll chemische Innovationen von der Batterie bis zur Lackierung umfassen. Innerhalb eines Jahres konnten auf diese Weise bereits mehr als ein Dutzend Verbundprojekte im Cluster angeregt werden - begleitet durch zahlreiche Initiativen in Kooperation mit regionalen Wirtschaftsförderern, internationalen Partnern oder Existenzgründer-Wettbewerben. Allein die dabei eingeworbenen Fördergelder aus Landes-, Bundes- und EU-Töpfen übersteigen das Grundbudget des Clusters wohl bereits 2010 um ein Zehnfaches. Staatliche Fördermittel dienen hierbei nicht einem strukturellen Selbsterhaltungstrieb des Netzwerks, sondern adressieren gesellschaftlich relevante Entwicklungsvorhaben, an denen durch öffentliche Unterstützung auch kleine Betriebe beteiligt werden können. Gleichzeitig bleiben die Clusterstrukturen effizient: Das Arbeitspensum kann gegenwärtig noch von vier Personen bewältigt werden. Die strategische Leitung des Clusters untersteht den beiden Cluster-Sprechern Prof. Wolfgang A. Herrmann, Präsident der Technischen Universität München, und Prof. Utz-Hellmuth Felcht, Aufsichtsratsvorsitz der Süd-Chemie und der Deutschen Bahn; ein Cluster-Beirat unterstützt die Arbeit des Managements.
Cluster in der Chemiebranche
In kaum einer anderen Branche können Cluster-Verbünde so sinnvolle Arbeit leisten wie in der Chemie. Die Chemie pflegt eine enge und traditionsbewusste Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, sie ist tief in unserer Industriekultur verwurzelt, vereint konservativ-verlässliche Unternehmensführung mit innovationsfreundlichem Denken und nimmt eine Schlüsselrolle auf nahezu allen Zukunftsmärkten ein. Dennoch bleibt sie im politischen Diskurs, bei der öffentlichen Diskussion aktueller Forschungsthemen und beim Zuschnitt staatlicher Fördertöpfe sonderbar benachteiligt: Dies liegt zu Teilen an ihrem traditionellen Selbstverständnis, das nicht selten auch Gefahren eines akademischen Autismus birgt; gleichzeitig gehören Anstrengungen, die in anderen Branchen als bahnbrechende Forschungs- und Entwicklungsleistungen gewürdigt werden, in der Chemie zum unbeachteten Tagesgeschäft.
Einen Großteil des Instrumentariums politischer Wirtschaftsförderung hat die Chemie deshalb gar nicht mehr nötig: Weder braucht sie allgemeinen Wissenstransfer innerhalb der Branche, noch fehlt ihr die Vernetzung mit Hochschulen oder pathetische Lobbyarbeit in eigener Sache. Ihr größtes Potential findet die Chemiebranche vielmehr in konkreter, öffentlichkeitswirksamer Projektentwicklung im Verbund mit Start-Ups, kleinen Familienbetrieben und Abnehmerindustrien. Nicht zuletzt fehlt der Chemie nämlich die Sichtbarkeit ihrer Innovationen: Projektverbünde wie Bayerns „Chemical Assisted Living" sind ein geeigneter Weg, den Leistungen der Chemie ein greifbares Bild innerhalb unserer Wirtschaftslandschaft zuzuordnen.
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