Das nicht Planbare planen
Geschicktes Bestandsmanagement gleicht saisonale Unwägbarkeiten aus
Die Zukunft ist stets unvorhersehbar, doch in manchen Fällen noch ein bisschen mehr. Saisonabhängige Märkte stellen die Supply Chain bestimmter Bereiche der chemischen Industrie vor besondere Herausforderungen. Nach Ansicht von Paul Beaumont, WCI Consulting, London, lassen sich aber auch solche Märkte mit minimaler Lagerhaltung effektiv bedienen, wenn die logistische Kette agil gehalten und richtig mit den entsprechenden Planungstechniken kombiniert wird.
So sicher auf den Frühling Sommer, Herbst und Winter folgen, so unsicher gestaltet sich dann eine exakte Prognose: Wie heiß genau wird der Sommer werden und wie feucht? Wann genau werden die idealen Wetterbedingungen für die Blattlausvermehrung herrschen und in welchen landschaftlichen Zonen? Für Unternehmen der Agrochemie sind die in den einzelnen Jahreszeiten zu erwartenden Gegebenheiten tatsächlich sehr schwer vorherzusehen. Dabei kommt ihnen große Bedeutung zu, denn Fehleinschätzungen führen zu massiven Umsatzeinbußen oder unnötig hohen Lagerhaltungskosten.
Die Lösung dieses Problems in einer verbesserten Prognosegenauigkeit zu suchen, ist für viele der Heilige Gral der Lieferkettendynamik, doch noch mangelt es an einer zuverlässigen technischen Umsetzung. Da aber unpräzise Vorhersagen nicht die Antwort sein können, bedarf es der Entwicklung praktischer Lösungen, die sich auf andere Weise der Sache nähern. Um das unbeständige Saisongeschäft in den Griff zu bekommen, ist äußerste Agilität gefragt. Praktisch gesehen, muss dafür die Produktion durch eine hoch flexible, anpassungsfähige Infrastruktur gelenkt und die Lagerhaltung innerhalb der gesamten Lieferkette durch Anwendung geeigneter Planungs- und Kontrolltechniken gesteuert werden.
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
Flexibilität heißt, schnell von einem Produkt auf ein anderes umsteigen zu können. Obwohl sich entsprechende Methoden in anderen Branchen vielfach bewährt haben, fanden sie in der chemischen Industrie bisher noch keine weite Verbreitung. Hohe Reinigungskosten und die mit der Aufnahme einer neuen Produktion oftmals verbundenen Unwägbarkeiten erschweren die Umsetzung in diesem Bereich. Doch das klingt wie eine Ausrede: Niemand glaubt, dass man Produkte in der Hälfte der Zeit umstellen kann, solange er den gesamten Ablauf nicht mit anderen Augen sieht und über eine strukturierte Methodologie verfügt.
Die Produktionsstätte muss nicht nur flexibel, sondern auch jederzeit einsatzbereit sein, um genau das erforderliche Volumen in genau der richtigen Qualität ausstoßen zu können. Der Schlüssel zur Schaffung solcher Gegebenheiten heißt „Total Productive Maintenance" (TPM), eine Methode zur umfassenden, produktivitätsorientierten Instandhaltung.
Unter „Overall Equipment Effectivenes" (OEE) oder Gesamtanlageneffektivität versteht man das Kernkonzept zur Feststellung des Leistungsgrades von Sachanlagen. Bei dessen Anwendung und einer Bewertung anhand dieses Konzepts ist jedoch Vorsicht geboten. Die richtige Antwort liegt vielleicht nicht immer darin, z. B. eine Zielauslastung von 85 % für alle Fertigungsstätten festzulegen. Wenn ein Betrieb flexibel arbeiten muss, um einen saisonalen Markt zu bedienen, kann er möglicherweise bestenfalls 50 % erreichen.
Eine flexible Produktion im Chemiesektor kann leicht zur Instabilität des Fertigungsprozesses führen. Darin liegt eine weitere Herausforderung, die es zu meistern gilt, denn zum einen werden die entscheidenden Produktionsvariablen nicht immer umfassend kontrolliert, und zum anderen beziehen sich die gewonnenen Erkenntnisse in erster Linie darauf, wie sich die Produktion eines schwierigen Produkts im Rahmen der Toleranzwerte in Gang halten lässt. Genau hierbei können die von Six Sigma vorgeschlagenen Methoden wertvolle Hilfe leisten: Ein Paket aus hoch effektiven statistischen Diagnosemethoden mit gut strukturiertem Experimentieransatz, eingebettet in klare Methodik, bietet genau die Werkzeuge, um die Variabilität zu verringern und Qualität zu sichern, gerade in einem Umfeld schneller Produktwechsel.
Bestandsmanagement
Idealerweise bedient man einen Markt, indem man die Produkte entsprechend den erteilten Aufträgen fertigt und so die Lagerhaltung minimiert. Da dies jedoch besonders während der Hochsaison nicht immer möglich ist, muss ein gewisser Bestand vorgehalten werden, um die Nachfrage zu bedienen. Ein Bauer wird z. B. nicht warten, bis eine bestimmte Marke Insektenvernichtungsmittel wieder im Regal steht, vielmehr wird er das verfügbare Konkurrenzprodukt kaufen.
Als Erstes stellt sich daher die Frage, welcher Bestandsumfang festgelegt und in welcher Weise die Vorräte wieder aufgefüllt werden sollen. Hierzu bedarf es zunächst einer Analyse der Nachfrage: Dazu werden Durchschnittsumsatz und Nachfragevariabilität für jedes einzelne Produkt berechnet und die Ergebnisse dann in einer Grafik dargestellt. (S. Abb. 1)
Die bewährten Planungstechniken zielen darauf ab, dass die Bestände unter Berücksichtigung der verschiedenen Produktgruppen wieder ergänzt werden - im Bestandsmanagement gibt es leider keine einheitliche Lösung für alle Fälle. Produkte, die im Wesentlichen hohe Umsätze und niedrige Variabilität aufweisen, können nach Maßgabe einer an der Rate orientierten Planung oder der KanbanMethode wiederaufgefüllt werden, wobei sich beide Ansätze als relativ selbsttragend erweisen. Produkte mit geringeren Umsatzvolumen sind typischerweise stärkerer Variabilität unterworfen, was die Prognose schwieriger gestaltet. Sie sollten entsprechend dem jeweiligen Bestellpunkt oder nach den Prognose- oder Kampagnekriterien ergänzt werden.
Ist eine Methode zur Bestandsergänzung gewählt, muss ein genaues Lagerprofil erstellt werden. Dieses Profil wird anhand zahlreicher Faktoren wie etwa der Richtzeiten für Lagerbestandsauffüllung, der Wiedervorlagezyklen, des Kundendienstumfangs, des durchschnittlichen Nachfragevolumens und der Variabilität erstellt. Diese Aufgabe verlangt große Erfahrung, denn hier kann sich schon der kleinste Fehler verheerend auf das Geschäft auswirken, weil er sowohl das Serviceniveau senken als auch die Bestände erhöhen kann, oder beides.
Die besondere Herausforderung besteht bei saisonalen Märkten darin, dass das Serviceangebot und damit auch die Bestandsergänzungsmethoden sich entsprechend dem Lebenszyklus der Saison ändern müssen. Im Bereich der Agrochemie z. B. mag es nicht nötig sein, in der Vorsaison eine Lieferung ab Lager anzubieten, da Bauern oder Händler nun kaum große Mengen eines Produkts in kürzester Zeit benötigen. Während der Saison kann die Bestandsergänzung für Produkte mit stabiler Nachfrage aufgrund der verschiedenen Aufstockungsmethoden, wie Kanban, ratenbezogen oder nach Bestellpunkt etc., erfolgen. Am Ende der Saison lässt sich der Bestand schrittweise und produktspezifisch abbauen, sodass für die Zeit geringer Nachfrage keine überhöhten Bestände zurückbleiben. Dies kann durch eine Einschränkung der Auswahl an Packungsgrößen zum Ende der Saison erreicht werden, wodurch die Komplexität verringert und der Abbau des Bestandes erleichtert wird. (S. Abb. 2)
Eine effektive Absatz- und Vertriebsplanung (AVP) trägt entscheidend zur kontrollierten Optimierung von Bestandshaltung und Service bei. Ein fortlaufender Dialog zwischen Produktion, Logistik, Verkauf und Vertrieb ermöglicht es, rasch auf Veränderungen des Marktes zu reagieren und die Parameter für die Bestandskontrolle entsprechend anzupassen. Je flexibler die Infrastruktur des Fertigungsprozesses gestaltet wird, umso niedriger kann natürlich die Bestandshaltung ausfallen. Der ganze Ablauf ist in der Tat iterativ, denn sobald eine agilere Lieferkette entwickelt wurde, können die Methoden zur Bestandsergänzung geändert und die Bestandsvolumen reduziert werden.
Lieferketten mit hoher Saisonalität sind komplexer als solche mit relativ stabiler Nachfrage. Dennoch lassen sich die gleichen Prinzipien flexibler Produktion und ausgeklügelter Bestandsprofilierung so kombinieren, dass eine agile Lieferkette geschaffen wird, die komplexen, anspruchsvollen Märkten in wirksamer und effizienter Weise gerecht wird.