VCI: Der EU-Umweltausschuss gefährdet den Reach-Prozess
09.04.2013 -
VCI: Der EU-Umweltausschuss gefährdet den Reach-Prozess. Auf massive Kritik stößt der Beschluss des Umweltausschusses des Europäischen Parlamentes für die zweite Lesung der Verordnung zur Reform des EU-Chemikalienrechts Reach im Verband der Chemischen Industrie (VCI). Die Beschlüsse vom 10. Oktober sind aus Sicht des Industrieverbandes eine inakzeptable Verschärfung der bislang erreichten Kompromisse im EU-Ministerrat. Sie gefährdeten sogar den gesamten Reach-Prozess, falls die Vorschläge des EU-Umweltausschusses in dieser Form im EU-Parlament Mitte November beschlossen werden sollten, meint der Chemieverband. Die Chancen dafür stehen „Spitz auf Knopf“, glaubt Dr. Gerd Romanowski, Leiter der Abteilung Wissenschaft, Technik und Umwelt im VCI. CHEManager befragte ihn zur Bedeutung und den möglichen Konsequenzen des Beschlusses des EU-Umweltausschusses. Die Fragen stellte Dr. Dieter Wirth.
CHEManager: Herr Dr. Romanowski, die jüngsten Beschlüsse des EU-Umweltausschusses zum Reach-Projekt stoßen in der chemischen Industrie auf massive Kritik. Warum?
Gerd Romanowski: Der Umweltausschuss des Europäischen Parlamentes hat zahlreichen Empfehlungen des Berichterstatters Guido Sacconi und der Fraktion der Grünen mit zum Teil großer Mehrheit zugestimmt. Sie haben alle eine Verschärfung der Reach-Verordnung zum Ziel. Gleichzeitig wurden Vorschläge aus den Reihen der EVP-Fraktion und einiger Liberaler, mit denen Reach insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen praktikabler gemacht werden sollte, mehrheitlich abgelehnt. Damit ignoriert die Mehrzahl der Abgeordneten im Umweltausschuss den langen und intensiven Diskussionsprozess über Reach, der zu dem ausgewogenen gemeinsamen Standpunkt des Ministerrates vom Juni dieses Jahres geführt hat.
Und der war?
Gerd Romanowski: Dieser Kompromisstext des Rates wurde erst nach schwierigen Verhandlungen erzielt. Er bringt jetzt die beiden Hauptziele von Reach – nämlich Fortschritte beim Gesundheits- und Umweltschutz einerseits und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie andererseits – gut miteinander in Einklang. Die für uns nicht nachvollziehbaren Beschlüsse des Umweltausschusses stellen diesen Kompromiss massiv in Frage. Damit steht möglicherweise der erfolgreiche Abschluss der gesamten Reach- Gesetzgebung auf der Kippe.
Was ist jetzt konkret der Stein des Anstoßes an den Beschlüssen des EU-Umweltausschusses?
Gerd Romanowski: Für die chemische Industrie sind vier Aspekte der Beschlüsse besonders problematisch: die Verschärfungen zum Autorisierungsverfahren, die vom Umweltausschuss verworfenen Erleichterungen für kleinvolumige Stoffe im Registrierverfahren, die Ablehnung von dringend notwendigen Verbesserungen beim Schutz von Geschäftsgeheimnissen und die Aufnahme von Nanomaterialien in die Zulassungspflicht.
Welche chemischen Stoffe und wie viele wären dadurch insgesamt betroffen?
Gerd Romanowski: Die Beschlüsse des Umweltausschusses betreffen praktisch alle rund 30.000 Stoffe, die unter Reach fallen. Besondere chemische Stoffklassen lassen sich hier nicht herausheben. Aber besonders gravierend wären die Auswirkungen für die etwa 1.500 Stoffe, die unter das verschärfte Zulassungsverfahren fallen. Eine generelle Befristung der Zulassung auf fünf Jahre und der strikte Zwang zum Ersatz auch solcher Stoffe, deren Anwendung nachweislich sicher ist, würde erhebliche Rechtsunsicherheiten für die Unternehmen nach sich ziehen. Der Betrieb zahlreicher Produktionsstätten in der EU wäre damit akut gefährdet, aber auch die Entscheidungen für Investitionen in neue Anlagen würden in Zukunft dadurch noch kritischer hinterfragt. Die Beschlüsse zum Registrierungsverfahren treffen vor allem Substanzen mit einem Produktionsvolumen von weniger als 100 t/a. Auf dieses Segment haben sich vor allem kleine und mittlere Unternehmen spezialisiert. Die sachlich völlig unhaltbaren Beschlüsse zu Nanomaterialien wären, wenn sie Bestand haben, nach meiner Einschätzung der Todesstoß für diese Zukunftstechnologie in Europa.
Welche Konsequenzen hätte der Vorstoß des EU-Umweltausschusses, wenn er Gesetz würde, für die industrielle Produktion in der europäischen Chemieund Pharmaindustrie und den weiterverarbeitenden Industrien?
Gerd Romanowski: Für die Hersteller und Weiterverarbeiter in der chemischen Industrie hätten die Beschlüsse des Umweltausschusses ernste Folgen. Reach würde am Ende doch als das Bürokratiemonster über die Unternehmen kommen, vor dem wir seit Jahren eindringlich warnen. Das bedeutet im Klartext: Die Produktion zahlreicher vom verschärften Autorisierungsverfahren betroffener Stoffe würde aus Europa vertrieben. Der Aufwand und das Risiko eines Fehlschlages im Zulassungsverfahren würden für viele Unternehmen einfach untragbar. Da diese Auflagen außerhalb der Gemeinschaft der 25 EU-Staaten nicht bestehen, würden viele Firmen wohl sehr schnell dazu übergehen, diese Stoffe in Nordamerika, Asien oder Osteuropa herzustellen. Da die vom Europaparlament in Erster Lesung noch mit großer Mehrheit verabschiedeten Optimierungen für das Registrierungsverfahren nun vom Umweltausschuss abgelehnt wurden, bleiben die erhofften Erleichterungen für kleinvolumige Produkte nun aus. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen werden dadurch stärker belastet. Außerdem werden wohl mehr Stoffe aus diesem Produktsegment wegen der zu hohen Registrierungskosten vom Markt verschwinden. Auch hierunter leiden vor allem mittelständisch strukturierte Firmen, Formulierer und Weiterverarbeiter.
Wie beurteilen Sie die Beschlüsse zum Schutz von vertraulichen Informationen?
Gerd Romanowski: Ohne einen ausreichenden Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und vertraulichen Forschungsergebnissen ist die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gefährdet. Dabei geht es vor allem um Investitionen in neue Stoffe und Produkte. Forschung und Innovationsaktivitäten – einschließlich des nachfolgenden Patentschutzes – würden künftig in der EU erheblich beeinträchtigt. Die EU wird im Gegensatz zu anderen Industrieregionen wesentliche Teile des Know-how gegenüber Dritten offen legen und damit Innovationsvorsprünge verlieren. Die Unternehmen stünden damit unter dem Zugzwang, wichtige Forschungsvorhaben und die technische Umsetzung von Innovationen künftig außerhalb der EU durchzuführen, um einen möglichen Know-how-Verlust durch Reach zu vermeiden. Für die EU-Mitgliedstaaten bedeutet dies die drohende Abwanderung zahlreicher chemiebezogener Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.
Inwieweit sind importierte Produkte aus Nicht-EU-Staaten von den Vorschlägen des EU-Umweltauschusses betroffen?
Gerd Romanowski: Reach erschwert vor allem wegen der Notwendigkeit, bei importierten Zubereitungen alle Inhaltsstoffe einzeln zu registrieren, in erheblicher Weise die Einfuhr von solchen Produkten aus Nicht-EU-Staaten. Dies liegt nicht im Interesse der Branche, da unsere Unternehmen auf den Import von Produkten für die eigene Weiterverarbeitung angewiesen sind. Der Umweltausschuss hat leider sämtliche Änderungsanträge, die hier Erleichterungen bringen sollten, abgelehnt und darüber hinaus sogar noch Verschärfungen beschlossen. Fertigerzeugnisse, die außerhalb der EU unter Verwendung von Chemikalien hergestellt werden, fallen beim Import nicht unter Reach und haben deshalb Kostenvorteile. Hier hat der Umweltausschuss die ohnehin mit der Reform des europäischen Chemikalienrechts verbundenen Wettbewerbsverzerrungen noch verstärkt. Das hätte zur Folge, dass künftig die Einfuhr solcher Erzeugnisse in die EU erheblich zunehmen würde, während die Konkurrenzfähigkeit unserer Unternehmen auf den Exportmärkten schwindet. Das ist sicher auch unter dem Gesichtspunkt des Gesundheits- und Umweltschutzes keine wünschenswerte Entwicklung. Mich wundert sehr, dass ausgerechnet der Umweltausschuss solchen Tendenzen Vorschub leistet.
Über den Vorschlag des EU-Umweltausschusses soll bereits Mitte November im EU-Parlament abgestimmt werden. Wie beurteilen Sie die Aussichten angesichts des knappen Zeitraums bis zur Abstimmung, dass diese Gesetzesvorlage dort in den entscheidenden Punkten entschärft wird?
Gerd Romanowski: Nach meiner persönlichen Einschätzung und aufgrund von Gesprächen mit Abgeordneten ist der Ausgang der Parlamentsabstimmung völlig offen. Es steht wirklich „Spitz auf Knopf“. Alles hängt meiner Ansicht davon ab, ob die Reihen der politischen Kräfte, die zu vernünftigen, pragmatischen Vorschriften beitragen wollen, geschlossen bleiben. In der Ersten Lesung konnte der Berichterstatter Sacconi für seine Verschärfungen keine absoluten Mehrheiten erzielen. Das sollte in der entscheidenden zweiten Lesung auch so bleiben!
Die EU-Mitgliedsstaaten beziehungsweise die EU-Kommission stehen den umstrittenen Vorschlägen des EU-Umweltausschusses ablehnend gegenüber. Wie könnte es mit Reach weitergehen, wenn das EU-Parlament die Linie des Umweltausschusses übernimmt?
Gerd Romanowski: Die radikalen Beschlüsse des Umweltausschusses können unter Umständen eine Folge haben, die eigentlich niemand will – weder die Umweltverbände noch die Industrie: Wegen der nun eingetretenen Polarisierung besteht die Möglichkeit, dass das komplette Gesetzgebungsverfahren zu Reach scheitert. Sollte dieser Fall eintreten, hätte der Umweltausschuss durch sein unverantwortliches Verhalten dem Gesundheitsund Umweltschutz einen Bärendienst erwiesen. Ich hoffe nicht, dass es soweit kommt. Wir setzen darauf, dass es den politisch Verantwortlichen im Parlament doch noch gelingt, zu der vernünftigen Kompromissbasis des Rates zurückzukehren. Aber das Ergebnis der Abstimmung im Umweltausschuss macht eine schnelle Verabschiedung von Reach nicht leicht. Können sich Rat und Parlament nicht einigen, fährt die Reach-Verordnung an die Wand. Und in einem Vermittlungsverfahren zwischen beiden Institutionen könnte die politisch prekäre Situation dazu führen, dass sachfremde Kompromisse vereinbart werden. Hiervor warnen wir mit allem Nachdruck: Es darf keine Einigung um jeden Preis geben; das wäre aus Sicht der Wirtschaft überaus schädlich.
Was erwartet der VCI vor diesem Hintergrund vom EU-Parlament?
Gerd Romanowski: Wichtig ist jetzt vor allem, dass das Plenum des Europäischen Parlamentes in seiner Abstimmung über die Zweite Lesung die Beschlüsse des Umweltausschusses grundlegend korrigiert. Wenn dies geschieht, steht einer schnellen Verabschiedung von Reach eigentlich nichts mehr im Weg. Das wäre aus unserer Sicht zu begrüßen. Übernimmt jedoch das Plenum die Beschlüsse seines Umweltausschusses ganz oder auch nur in wichtigen Teilen, wozu eine absolute Mehrheit der Abgeordneten notwendig ist, wird es nach meiner Einschätzung außerordentlich schwierig, zu einer tragfähigen Einigung zu kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten ein Reach-System akzeptieren, das große Teil der Chemieproduktion in Europa gefährdet, Forschung und Innovation aus Europa verdrängt und sogar hoffnungsvollen Zukunftstechnologien wie der Nanotechnologie den Boden entzieht.