Familienfreundlichkeit
Deutsche Unternehmen tun zu wenig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und verpassen dadurch Chancen
Kinder und Karriere schließen sich in Deutschland weitgehend aus. Mit der Initiative „361° - Die Neu-Erfindung der Familie" hat das Beratungsunternehmen A.T. Kearney es sich zur Aufgabe gemacht, den engen Zusammenhang zwischen Familie und Ökonomie herzustellen und Lösungsvorschläge für mehr Familienfreundlichkeit zu entwickeln. Dr. Andrea Gruß befragte hierzu Dr. Tobias Lewe, Partner in der Chemie und Öl Practice, und Dr. Volker Lang, Partner in der Energiewirtschaft Practice und Leiter der Studie „Familienfreundlichkeit in Unternehmen" bei A.T. Kearney.
CHEManager: Warum kümmert sich eine Unternehmensberatung um das Thema Familie?
Dr. Volker Lang: Familie ist die Triebkraft von sozialer Sicherheit und Wohlstand. Ohne sie, und vor allem ohne Kinder, ist wirtschaftliches Wachstum nicht denkbar. Familienfreundlichkeit ist daher schon lange kein weicher, sondern längst ein harter Standortfaktor geworden. Im Rahmen der Initiative 361º, die wir vor etwa zwei Jahren gestartet haben, setzen wir uns intensiv mit diesem Thema auseinander, um mögliche Lösungsmodelle zu entwickeln. Die Initiative bringt Unternehmer, Wissenschaftler und Politiker zusammen, um gemeinsam Lösungen für die drängenden Probleme rund um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu formulieren. Ziel ist eine Veränderung über herkömmliche Modelle hinaus: die Neu-Erfindung der Familie im 21. Jahrhundert.
Wie ist es um die Familienfreundlichkeit in Deutschland bestellt?
Dr. Volker Lang: Lassen Sie mich diese Frage mit einer Statistik beantworten: Vor der Geburt des ersten Kindes sind in Deutschland, Finnland und Holland etwa 65 % der Frauen voll erwerbstätig. Nach der Geburt des ersten Kindes sind es in Deutschland noch 21 %, in Finnland nach wie vor über 60 % und in Holland noch fast 50 %. Diese Zahlen zeigen, dass die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein gesamtgesellschaftliches Phänomen in Deutschland ist. Aber unsere Befragung zeigte auch, dass es signifikante Unterschiede bei der Bewertung der Familienfreundlichkeit einzelner Unternehmen gibt. Unternehmen können einen wesentlichen Beitrag leisten, um die Situation in Deutschland zu verbessern. Erste Ansätze sind erkennbar.
Im Rahmen der Studie untersuchten Sie die Familienfreundlichkeit von Unternehmen aus Sicht der Arbeitnehmer.
Dr. Volker Lang: Ja, genau. Das Besondere an der Studie ist, dass wir tatsächlich die Arbeitnehmer befragt haben. Die meisten bisherigen Studien zur Familienfreundlichkeit richten sich an Personalverantwortliche. Und diese tendieren natürlich erst einmal dazu, ihre Angebote in ein positives Licht zu stellen. Für unsere Studie „Familienfreundlichkeit in Unternehmen" haben wir gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Infas Institut 1.800 Arbeitnehmer aus 400 Unternehmen befragt. Die Ergebnisse zeigen ein Bild, das sehr nachdenklich stimmt. Unternehmen nehmen die Bedürfnisse junger Menschen, eine Familie zu gründen und gleichzeitig erfolgreich im Beruf zu sein, nicht ernst genug. Noch immer hält ein Drittel der oberen Führungskräfte praktizierte Familienfreundlichkeit in Unternehmen für nachrangig.
Welches sind die größten Hebel für mehr Familienfreundlichkeit?
Dr. Volker Lang: Es gibt im Wesentlichen drei Hebel. Ein Punkt ist: Welche Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt es im Unternehmen? Hier sind viele große Unternehmen, auch Konzerne in der Chemieindustrie, gut aufgestellt. Der zweite Punkt ist die Kommunikation. Da sieht es in der Regel schlecht aus. Viele Arbeitnehmer wissen gar nicht, was ihr Arbeitgeber bietet bzw. es wird ihnen nicht glaubhaft kommuniziert. Und der dritte Punkt: das kulturelle Umfeld. In vielen Unternehmen fehlt den Arbeitnehmern das Zutrauen - das zeigen die Ergebnisse unserer Studie überraschend deutlich - die o.g. Angebote auch tatsächlich wahrzunehmen. Denn sie glauben, es schade ihrer Karriere, es mangele an Akzeptanz durch den Vorgesetzten oder ihre Kollegen müssten hierfür Opfer bringen. Diesen Punkt müssen Arbeitgeber aktiv angehen, wenn sie ihre Programme in die betriebliche Realität umsetzen wollen. Eine familiengerechte Unternehmenskultur kann mehr für die Zukunft der Familien in Deutschland tun als viele milliardenschwere staatliche Leistungen zusammen.
Wie lässt sich dieser Kulturwandel innerhalb eines Unternehmens vollziehen?
Dr. Volker Lang: Ein Kulturwandel lässt sich nur durch konkrete Programme bewirken. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wer bei diesem international tätigen deutschen Großkonzern in den Vorstand kommen will, muss verschiedene Kriterien erfüllen: Er muss eine Gesellschaft geleitet haben, ein großes Projekt zum Erfolg gebracht haben und er muss international gearbeitet haben. Das letzte Kriterium entfällt, wenn ein Mitarbeiter im Laufe seiner Karriere für mindestens ein Jahr eine Auszeit genommen hat. Das kann eine erhebliche Entlastung für die Familie sein. Mit solchen Programmen kann ein Unternehmen Zeichen setzen und die notwendigen Vorbilder schaffen.
Dr. Tobias Lewe: Erfahrungen aus der Chemiebranche haben uns gezeigt, dass die Förderung der Internationalität an einem heimischen Standort auch zu einem Kulturwandel beiträgt. Mitarbeiter aus Nordeuropa bringen z. B. eine andere kulturelle Sichtweise auf Familie und Beruf mit, die eine Veränderung im Unternehmen bewirken kann. Sie fördert die Offenheit für andere Lebensmodelle in einem Unternehmen, und stärkt damit den Einzelnen dabei, sein eigenes Lebensmodell umzusetzen. Es geht ja nicht darum, dass nur noch Leute mit Kindern Karriere machen dürfen. Ziel ist es, Menschen mit unterschiedlichen Lebensmodellen adäquate Chancen zu geben. Hier sehe ich eine große Chance, gerade für die sehr international ausgerichtete Chemieindustrie.
Herr Lewe, welche weiteren Trends beobachten Sie in der Chemieindustrie?
Dr. Tobias Lewe: Die Arbeit in der Chemieindustrie verändert sich. Es gibt mehr Projektarbeit. Mehr Projektarbeit erfordert mehr Reisen und mehr Flexibilität. Zudem arbeiten viele Angestellte der Branche zunehmend in einem internationalen Kontext. All das stellt hohe Anforderungen an das eigene Zeitmanagement. Und immer mehr Mitarbeiter stellen sich die Frage: Wie kann ich meine Tätigkeit mit der Familie vereinbaren? Hierauf müssen die Unternehmen reagieren.
Welche Lösungsansätze sehen Sie hierfür?
Dr. Volker Lang: Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes. Unternehmen müssen weg von der bisher üblichen Anwesenheitskultur. Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert für den Mitarbeiter die Flexibilität, auch mal früher nach Hause zu gehen und am Abend von dort weiterarbeiten zu können, wenn die Kinder im Bett sind.
Ein weiterer wichtiger Punkt, wie unsere Studie belegt, ist das Thema Auszeit und Wiedereinstieg. Hier haben deutsche Unternehmen erheblichen Nachholbedarf, was die Möglichkeit der Unterbrechung von Erwerbsbiographien anbelangt. Hierzulande machen Führungskräfte in der Regel Abitur, sie studieren danach und sind dann bis zur Rente kontinuierlich in ihrem Beruf tätig. In nordeuropäischen oder angelsächsischen Ländern beobachten wir eine viel höhere Flexibilität im Lebenslauf. Dort machen Menschen zwischendurch nochmal eine Ausbildung oder ergreifen eine ganz andere Tätigkeit bzw. nehmen eine Auszeit.
In Deutschland führt all dies zu Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg. Oft erhält der Arbeitnehmer danach eine Aufgabe, die nicht seinem Qualifikationsniveau und Potenzial entspricht und kehrt nicht mehr auf seinen Karrierepfad zurück. Hier muss sich etwas tun in den Unternehmen. Ein absolut entscheidender Hebel, nicht nur für mehr Familienfreundlichkeit, sind Wiedereinstiegsprogramme.
Wie macht sich das Engagement für die Familie für Unternehmen bezahlt?
Dr. Volker Lang: Zum Beispiel in der Loyalität der Arbeitnehmer. Ein Ergebnis der Studie - das mich selbst in dieser Deutlichkeit überraschte - ist Folgendes: Zwei Drittel der Arbeitnehmer, die sagen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in meinem Unternehmen eine Selbstverständlichkeit, empfehlen ihren Betrieb als Arbeitgeber weiter. Arbeitnehmer mit anderer Sichtweise tun das nur zu 23 %. Allein hinter diesem Faktor steckt ein massiver betriebswirtschaftlicher Effekt. Denn bei der Suche nach einem neuen Arbeitgeber spielen Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis eine bedeutende Rolle.
Dr. Tobias Lewe: Hier sehe ich angesichts des drohenden Fachkräftemangels eine sehr große Chance für die Chemieindustrie, die sich im Wettbewerb um die besten MINT-Absolventen und Absolventinnen mit anderen Branchen befindet. Denn für immer mehr Nachwuchskräfte ist die Familienfreundlichkeit eines Unternehmens ein entscheidendes Auswahlkriterium bei der Wahl des Arbeitgebers.