Wie die deutsche Pharmaforschung wieder den Anschluss schaffen kann
Die Pharmaforschung in Deutschland hinkt hinterher. Vor allem die Umsetzung von Erkenntnissen aus der medizinischen Grundlagenforschung in die Arzneimittelentwicklung läuft nicht rund.
Die Pharmaforschung in Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher. Vor allem die Umsetzung von Erkenntnissen aus der medizinischen Grundlagenforschung in die Arzneimittelentwicklung, Translation genannt, läuft nicht rund. Die Gesundheitsforschungsinstitute der Fraunhofer-Gesellschaft zeigen zusammen mit dem Pharmaverband VFA in einem Strategiepapier Mittel und Wege auf, wie Deutschland international wieder aufschließen kann. Thorsten Schüller sprach darüber mit Gerd Geißlinger, Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP und Präsidiumsmitglied der Fraunhofer-Gesellschaft. Der Wissenschaftler erläutert, an welchen Stellschrauben gedreht werden sollte, um die Pharmaforschung und -entwicklung in Deutschland wieder zu stärken.
CHEManager: Herr Professor Geißlinger, welches sind die Hauptdefizite der deutschen Pharmaforschung?
Gerd Geißlinger: Lassen Sie mich mit einer positiven Nachricht beginnen: Meiner Wahrnehmung nach hat die deutsche Politik parteiübergreifend verstanden, dass Pharmaforschung nicht nur essenziell für die Gesundheitsversorgung mit innovativen Arzneimitteln ist, sondern dass die Pharmaindustrie auch aus wirtschaftlicher Sicht ein Hoffnungsträger für den Standort ist. Im Unterschied zu anderen Wirtschaftszweigen ist sie nicht übermäßig energieintensiv und kaum von seltenen Rohstoffen abhängig und benötigt deshalb auch keine Subventionen, um in Deutschland weiterhin wettbewerbsfähig produzieren zu können. Damit jedoch in unserem Land nicht nur weitere Herstellungskapazitäten geschaffen werden, sondern auch wieder stärker in Forschung und Entwicklung investiert wird, müssen aus unserer Sicht vor allem drei übergeordnete Rahmenbedingungen verbessert werden: Wir müssen unnötige Bürokratie abbauen, Digitalisierung konsequent vorantreiben und die Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft deutlich stärken.
In dem gemeinsam mit dem Verband Forschender Arzneimittelunternehmen – VFA – erarbeiteten Strategiepapier schlagen Sie unter anderem eine Translationsallianz vor. Wie könnte diese konkret aussehen?
G. Geißlinger: Die Translationsallianz ist unser konkreter Vorschlag zu letztgenanntem Punkt, also die Stärkung des Technologietransfers durch eine strukturelle Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Hierfür gibt es bereits erfolgreiche Beispiele, unter anderem im Rahmen regionaler Innovationsökosysteme oder auch durch die Fraunhofer-Gesellschaft, die wie ein Exzellenzprogramm für Transferförderung wirkt.
„Die Translationsallianz soll den Technologietransfer
durch eine strukturelle Kooperation
zwischen Wissenschaft und Wirtschaft stärken.“
Um jedoch nicht nur punktuell, sondern dauerhaft und in der Breite wirksam zu sein, braucht es eine Allianz, die allen Akteuren offensteht und die Kräfte auf nationaler Ebene bündeln kann. Wir schlagen hierfür eine öffentlich-private Partnerschaft vor, um für alle Beteiligten eine Win-win-Situation zu schaffen: Alle Akteure würden vom zielgerichteten Austausch und von wirksamen Übergabepunkten zwischen Forschung und Entwicklung profitieren. Und natürlich stärkt die Allianz auch das Innovationssystem als Ganzes, nämlich durch höhere Effizienz im Technologietransfer und mehr Wertschöpfung.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich die Forschung durch Public Private Partnerships vor allem nach wirtschaftlichen Kriterien ausrichtet und auf wenige „große“ Krankheiten konzentriert?
G. Geißlinger: Diese Gefahr bestünde, wenn sich künftig sämtliche – auch gemeinwohlorientierte – Forschung ausschließlich an marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten ausrichten würde. Davon sind wir weit entfernt, und dies ist selbstverständlich auch nicht Ziel unserer gemeinsamen Initiative, die explizit indikationsoffen sein soll. Konkret schlagen wir vor, dass im Rahmen der Translationsallianz auch solche Ideen vorangetrieben werden, deren wirtschaftliches Potenzial noch nicht abschätzbar ist. Das können sehr innovative Ansätze mit hohem Entwicklungsrisiko sein, aber eben auch Reserveantibiotika oder Therapien für seltene Erkrankungen, für deren Entwicklung und Vermarktung besondere Finanzierungsmechanismen greifen müssen. Übrigens hat die Fraunhofer-Gesellschaft zusammen mit der Helmholtz-Gemeinschaft und der Hochschulmedizin bereits ein Pilotprogramm zur Validierung dieses Konzepts sehr erfolgreich durchgeführt. Der Erfolg dieser Proof-of-Concept-Initiative bestätigt das große Potenzial einer derartigen Translationsallianz.
"Eine öffentlich-private Partnerschaft
würde für alle Beteiligten
eine Win-Win-Situation schaffen."
Ein großer Teil der Vorschläge richtet sich an die Politik. An welchen Stellschrauben müsste diese drehen, damit sich die Rahmenbedingungen für die Pharmaforschung hierzulande signifikant verbessern?
G. Geißlinger: Die Pharmastrategie der Bundesregierung zeigt aus meiner Sicht bereits einige Rahmenbedingungen auf, die verbessert werden müssen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Ausgehend davon haben wir für unser Strategiepapier fünf Prioritäten identifiziert, für die wir weiteren dringenden Handlungsbedarf sehen. Neben den bereits erwähnten Stellschrauben Technologietransfer, Digitalisierung und Bürokratieabbau umfasst dies auch den drohenden Fachkräftemangel und weitere Verbesserungen für die klinische Forschung. Besonders wichtig erscheint uns dabei, diese Maßnahmen zwar rasch und konsequent umzusetzen, aber gleichzeitig auch alle Stakeholder entlang der Wertschöpfungskette einzubinden, von der Grundlagenforschung bis hin zu den Patienten, deren Wohl wir immer ins Zentrum unserer Überlegungen stellen sollten.
"Ganz ohne Anschubfinanzierung
sind einige der Maßnahmen nicht umsetzbar."
Wie realistisch ist das?
G. Geißlinger: Angesichts der schwierigen Haushaltslage ist dies eine durchaus berechtigte Frage, denn ganz ohne Anschubfinanzierung sind einige der Maßnahmen tatsächlich nicht umsetzbar. Die positive Botschaft ist allerdings, dass sich diese Kraftanstrengung rasch auszahlen wird. So werden zum Beispiel Investitionen in die digitale Infrastruktur zu deutlichen Effizienzgewinnen in der Versorgung führen und eine Verbesserung des Technologietransfers zu mehr Wertschöpfung in Deutschland und Europa. Eine Stärkung der klinischen Forschung trägt sogar unmittelbar zur besseren Versorgung von Patienten bei. Optimistisch stimmt mich, dass wir bei allen Akteuren eine große Bereitschaft für einen gemeinsamen Multi-Stakeholder-Dialog spüren. Wenn wir es als gemeinsame Mission verstehen, dass Deutschland wieder einen Spitzenplatz für innovative Arzneimittelforschung einnimmt, sehe ich der Zukunft der Pharmaforschung in Deutschland sehr positiv entgegen.
ZUR PERSON
Gerd Geißlinger ist Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP und Sprecher des Fraunhofer-Verbunds Gesundheit. Gleichzeitig ist er als Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main tätig und leitet als Direktor das Institut für Klinische Pharmakologie am Klinikum der Goethe-
Universität sowie das LOEWE-Zentrum für Translationale Medizin und Pharmakologie.
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Pharma F&E 2035 – Deutschlands Innovationsrahmen für die Zukunft
Das Dokument mit dem Titel „Pharma F&E 2035 – Deutschlands Innovationsrahmen für die Zukunft“ von Fraunhofer Gesundheit und dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) nennt die ungenügende Translation von Forschung in konkrete pharmazeutische Produkte „eine der größten Schwächen der pharmazeutischen F&E in Deutschland“. Zwar habe die Bundesregierung mit dem Medizinforschungsgesetz und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz den Rahmen für Pharmaforschung an einigen Stellen verbessert, doch müsse weiter nachgebessert werden, „damit Deutschland in die Topriege der internationalen F&E-Standorte aufschließen kann“.
Public Private Partnerships, also der Zusammenschluss von Forschungsinstituten und Pharmaunternehmen, könnten dazu beitragen, die Translationsschwäche zu überwinden. Derartige Kooperationen, in denen die Beteiligten ihre jeweiligen Kompetenzen „für eine zielgerichtete Medikamentenentwicklung“ einbringen, seien hierzulande zu selten. Matthias Meergans, Geschäftsführer F&E des VFA, plädiert in dem Zusammenhang für die Einrichtung einer Translationsallianz in Deutschland. Die solle bei entsprechenden Projekten beraten und die Gründung von neuen Public Private Partnerships unterstützen.
Ein weiterer Schwachpunkt ist nach Meinung der Autoren die Rekrutierung von Teilnehmern für klinische Arzneimittelstudien. Hier sei Deutschland anderen Ländern deutlich unterlegen. Die Verfasser schlagen daher vor, flächendeckende Studiennetzwerke zu gründen, um die Aufnahme von Patienten zu erleichtern. Insgesamt gibt das Strategiepapier 17 konkrete Handlungsempfehlungen auf verschiedenen Feldern.
https://www.gesundheit.fraunhofer.de/de/download-strategiepapier.html
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