Wettbewerbsvorteil durch integrierte Qualitätssicherung
Sensortechnologie als Katalysator für Innovationen in der pharmazeutischen Herstellung
Medikamente und andere pharmazeutische Produkte sind Wunderwerke der modernen Wissenschaft. Jedoch haben sich die Herstellungsprozesse in den letzten 25 Jahren nur marginal weiterentwickelt. Eigentlich ein optimaler Nährboden für inkrementelle Innovationen. Jedoch hemmten strikte Qualitäts- und Sicherheitsvorgaben, fehlendes Prozessverständnis und eine prinzipielle Aversion gegenüber Risiken den Einsatz neuerer Technologien.
Gepaart mit zunehmendem sozioökonomischen Druck, globalen Supply Chains und steigender Komplexität stehen Unternehmen vor der Mammutaufgabe, ihre bisherigen Ansätze zu überdenken und zu optimieren.
Durch innovative Technologien und dem intelligenten Zusammenspiel von Sensoren, Computerprogrammen und Ingenieuren, müssen orale Darreichungsformen in Zukunft nicht mehr in zeit- und kostenintensiven Testverfahren geprüft werden, sondern können – dank einer integrierten Qualitätssicherung - mit in Echtzeit kontrollierten und gesteuerten Prozessparametern hergestellt werden. Diese Systeme werden dadurch zu einem Katalysator für Fortschritt und Innovation.
In diesem Zusammenhang erfüllt die automatisierte und integrierte Qualitätssicherung gleich zwei unverzichtbare Aufgaben. Schnelle, „intelligente“ Sensoren und die dazugehörigen Kontrollsysteme, die bei Bedarf regulierend einschreiten, sind die Grundvoraussetzung für eine vollständige kontinuierliche Herstellung von Medikamenten. Gleichzeitig ermöglichen sie pharmazeutischen Unternehmen auch im Bereich der traditionellen Chargenproduktion eine effizientere und beschleunigte Produktion. Auf diese Weise können bestehende Kapazitäten optimal genutzt oder ausgelastet werden und ökonomische Vorteile realisiert werden, bei überschaubarem monetärem Risiko. Denn nicht nur verursacht die klassische Qualitätssicherung gut ein Viertel der Herstellungskosten eines Medikamentes, sondern hat in Extremfällen, z.B. Rückruf einer Charge oder ganzer Produktlinien, signifikante Auswirkungen auf die Finanzen und das Image eines Unternehmens. Qualitätsverantwortliche („Qualified Person“) und Produktionsleiter haben daher eine Schlüsselrolle im gesamten Unternehmen. Einerseits sollen die Medikamente ohne Verzögerungen und außerordentlichen Schwierigkeiten am Markt platziert werden, andererseits sind sie der Sicherheit des Patienten verpflichtet. Ein schmaler Grat, der ein umsichtiges Abwägen von Vor- und Nachteilen mit sich bringt.
Nicht Big Data, sondern Smart Data
Die große Herausforderung ist jedoch nicht nur die Verfügbarkeit von Daten. Forschungsabteilungen, Quality Manager und Produktionsleiter in der pharmazeutischen Industrie können bereits heute auf eine schier unglaubliche Menge an Daten zurückgreifen. Als Folge der fortschreitenden Automatisierung und Digitalisierung von Forschung und Herstellung, werden bereits jetzt Petabyte um Petabyte über die gesamte Wertschöpfungskette gesammelt, gespeichert und archiviert. Ungleich wichtiger als die Daten selbst, ist jedoch die richtige Beurteilung, Analyse und Verwendung der essentiellen Variablen. Denn nur wenn die richtigen Daten, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit verwendet werden, lassen sich Vorteile erzielen. Hersteller dürfen sich daher nicht nur auf ihr Produkt konzentrieren, sondern benötigen auch ein grundlegendes Verständnis des Prozesses, fundamentaler Parameter und potenziell auftretender Phänomene. Denn Qualitätssicherung ist die Summe aller Faktoren, die entweder individuell oder im Kollektiv Einfluss auf das Endergebnis (die sogenannten „Critical Quality Attributes“ im Quality-by-Design Vokabular) haben. Gleichzeitig bedeutet das einen Paradigmenwechsel, bei dem der Fokus von der Entscheidung der Freigabe einer Charge basierend auf Labordaten hin zur Messung und dem Kontrollsystem selbst verschoben wird. Dieses Kontrollsystem wurde entworfen, um Medikamente mit höchster Qualität zu produzieren. Ultimativ ist das Ziel der „Real Time Release“, womit die Freigabe eines Produktes durch Qualitätsverantwortliche rein basierend auf Prozessdaten gemeint ist.
Individuelle Prozesse als Stolpersteine
Obwohl sich Prozesse und Herstellungsverfahren ähneln, besitzt jedes Unternehmen organisatorische und technische Eigenheiten. Sei es durch spezifische Bedingungen des pharmazeutischen Produktes, eingesetztem Equipment und Hilfsstoffen oder sowohl aufgrund von internen Richtlinien als auch externer Vorschriften. Wenn man sich noch in Erinnerung ruft, dass die Prozesse aus bis zu 30 unterschiedlichen Single-Unit-Operations bestehen, die wiederum eine weite Bandbreite unterschiedlicher Messungen benötigen, von simplem Wiegen über die Messung von Dichten bis hin zur Analyse chemischer Zusammensetzungen oder Partikelgrößen, lässt sich erahnen wie herausfordernd die Koordination und Abstimmung der verschiedenen Technologien ist. Moderne Systeme basieren dabei oft auf spektroskopischen Verfahren (z.B. Nah-Infrarot, Raman, Terahertz, FTIR, UV Spektroskopie), auf tomographischen Verfahren (Impedanz, Akustik, etc.) und Streuverfahren (Röntgen, Licht, etc.) die für eine Bandbreite von chemischen und Strukturanalysen eingesetzt werden können, oft auch im Echtzeitbetrieb. Modulare bzw. technologische neutrale Technologien erlauben, aufgrund ihres hohen Facettenreichtums und ihrer Individualisierbarkeit, Fachkräften vor Ort die Systeme den eigenen Ansprüchen anzupassen und sich so der Evolution der Verfahren anzupassen.
Messung der Beschichtungsqualität von Pharmaprodukten
Die Beschichtung oraler Darreichungsformen ist ein weitverbreiteter Prozessschritt und erfüllt gleich mehrere Aufgaben. Funktionelle Beschichtungen sollen die Wirksamkeit und therapeutische Verfügbarkeit im menschlichen Körper garantieren, durch die Beschichtung kann das Auflösungsprofil der Tablette oder Kapsel optimiert bzw. modifiziert werden. Darüber hinaus erfüllen Beschichtungen weitere wesentliche Aufgaben, wie zum Beispiel das Taste Masking in pädiatrischen Formulierungen. Variationen der Beschichtungsdicke und Struktur als auch deren qualitative Unterschiede haben daher einen maßgeblichen Einfluss auf den potenziellen Erfolges eines pharmazeutischen Produktes. Die Vielzahl an Variablen und Faktoren, z.B. das Sprühmuster der Einspritzdüsen im Beschichtungsprozess, wie auch die stochastische Natur des Prozesses, erschweren die Qualitätskontrolle durch Probenentnahme und Offlinemessung.
Optische Kohärenztomografie
Das Research Center Pharmaceutical Engineering (RCPE) hat mit seiner optischen Kohärenztomografie (OCT) eine Technologie bzw. einen neuen Sensor entwickelt, der genau diese Anforderungen erfüllt. Basierend auf den unterschiedlichen Lichtbrechungsindizes verschiedener Materialien kann die Beschichtung von oralen Darreichungsformen mikrometergenau bildlich dargestellt, gemessen, analysiert und abschließend bewertet werden, und das ohne zeitaufwändige Kalibrierung und in kürzester Zeit. In enger Zusammenarbeit mit Maschinenbauern und pharmazeutischer Unternehmen wurden in einer Reihe von Experimenten und Studien sichergestellt, dass OCT zuverlässig und ohne größere Abweichungen die gewünschten Resultate liefert. Durch den kompakten Aufbau, kann der Sensor sowohl in-line zur automatisierten Qualitätskontrolle als auch off-line im Rahmen des Entwicklungsprozesses und für Kleinstmengen verwendet werden.
Noch Luft nach oben
Dabei kratzen Pharmaunternehmen, Lohnhersteller, Technologielieferanten und Forschungseinrichtungen wie das RCPE bisher lediglich an der Spitze des Eisberges. Denn obwohl der Paradigmenwechsel bereits 2004 mit dem Konzept der Process Analytical Technology (PAT) der nordamerikanischen FDA begonnen hat, gibt es noch viele Herausforderungen in der praktischen Umsetzung zu meistern. Neben der Weiterentwicklung bestehender Lösungen gilt es auch, deren Anwendungsfelder zu vergrößern. Die systematische Untersuchung von Skalierbarkeit, Fehleranfälligkeit und Abnutzungsverhalten steht bei vielen Technologien noch aus und andere kritische Qualitätsattribute und Prozessparameter müssen überhaupt erst messbar und dadurch langfristig kontrollierbar gemacht werden, z. B. für die Pulverdichte.
Die pharmazeutische Industrie profitiert dabei nicht nur von proprietären Lösungen und Ideen. Generelle Fortschritte in der Erhöhung der Rechenleistung, platzsparendes Design von Sensoren und Entwicklungen im Bereich des Machine Learnings und neuronaler Netzwerke eröffnen vielfältige neue Anwendungsgebiete.