Forschung & Innovation

Sprunginnovation: „Da ist viel Musik drin für die chemische Industrie“

Rafael Laguna de la Vera, Direktor SPRIND, über die Rolle der chemischen Industrie im Innovationsökosystem Deutschland

22.03.2023 - Die SPRIND Challenges sind Innovationswettbewerbe, die zum Ziel haben, Lösungen für aktuelle gesellschaftliche und technologische Herausforderungen hervorzubringen. Auch die Chemie- und Pharmaindustrie kann von diesem neuen Instrument im deutschen Innovationsökosystem profitieren.

Die Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND wurde im Dezember 2019 mit Geschäftssitz in Leipzig gegründet. SPRIND soll eine Lücke in der deutschen Innovationslandschaft schließen:

Sie will neue, bahnbrechende Technologien für die großen Herausforderungen unserer Zeit finden und sicherstellen, dass die Wertschöpfung der daraus entstehenden Unternehmen und Industrien in Deutschland und Europa bleibt. Die SPRIND Challenges sind Innovationswettbewerbe, die zum Ziel haben, Lösungen für aktuelle gesellschaftliche und technologische Herausforderungen hervorzubringen. Auch die Chemie- und Pharmaindustrie kann von diesem neuen Instrument im deutschen Innovationsökosystem profitieren.

Im Gespräch mit Jörg Wetterau verweist SPRIND-Direktor Rafael Laguna de la Vera auf das große Potenzial für chemische Sprunginnovationen, die den Industriestandort Deutschland stärken können.


Herr Laguna de la Vera, welche Aufgaben übernimmt die Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND? Warum brauchen wir in Deutschland eine solche Einrichtung?

Rafael Laguna de la Vera: Wir haben ein großartiges Wissenschaftssystem, aber wenig Kommunikation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, und wenig Translation von wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnissen in neue Industrien. Das findet dann leider oftmals im außereuropäischen Ausland statt. Um diese Translation zu verbessern und zu beschleunigen, wurde noch unter der Regierung von Frau Merkel die SPRIND ins Leben gerufen. Seit drei Jahren versuche ich mit meinem Team die großartigen Innovationen, die wir in unserem Land haben, die wirklich etwas Neues bieten und neue Märkte schaffen, sichtbar zu machen, sie so weiterzuentwickeln, dass diese sich hier bei uns kommerziell entfalten können und nicht vorher das Land verlassen.

Der Begriff Innovation wird zunehmend inflationär verwendet. Jetzt setzen Sie mit Sprunginnovation noch eins obendrauf. Was unterscheidet eine Sprunginnovation von einer herkömmlichen Innovation?

R. Laguna de la Vera: Innovation ist in der Regel eine inkrementelle Verbesserung von etwas, was schon da ist. Diese Verbesserungen können wir in Deutschland sehr gut und sie haben uns über die letzten 75 Jahre den Wohlstand gesichert. Sprunginnovation deutet schon an, dass hier etwas übersprungen werden soll, um sich weiterzuentwickeln und die Welt zum Positiven zu verbessern. Aus unserer Sicht muss eine Sprunginnovation das Leben möglichst vieler Menschen besser machen. Unsere Kriterien sind: positiv die Welt verändernd, neue Märkte/Industrien schaffend, großen Fragen der Zeit lösend, bei allen Bürgern ankommend und hier in Deutschland entwickelbar und umsetzbar! Was wir nicht wollen, ist Innovationstheater, wo uns etwas als hochinnovativ angepriesen wird und es am Ende aber nur viel heiße Luft ist.

Welche Erfahrungen haben Sie als Direktor der SPRIND mit dem Innovationsökosystem in Deutschland gemacht?

R. Laguna de la Vera: Insgesamt betrachtet ist Deutschland sehr innovativ. Die Projekte, die bei uns eingereicht werden, sind von hoher Qualität, die Zusammenarbeit mit Innovatoren, mit der Industrie und wissenschaftlichen Instituten begeistert uns.

 

 

„Ich sehe mich in meiner Funktion als Direktor der Agentur als eine Art friedlicher Revoluzzer des Innovationsökosystems.“

 

Das ist letztlich auch eine Voraussetzung, warum eine Agentur wie SPRIND überhaupt Sinn macht. Wenn ich über unser Innovationsökosystem schimpfe, dann vor allem darüber, dass wir uns selbst Regeln gegeben haben, die unser aller Leben unnötig schwer machen. Ich frage mich, warum schaffen wir Systeme, die hochineffizient sind, und über die sich jeder Innovator zu Recht beschwert? Mit SPRIND wollen wir auch helfen, die starren bürokratischen Regeln und Hemmnisse aufzubrechen. Innovationen helfen uns nur, wenn wir diese schnell auf die Straße bringen, wenn wir sie hier in Deutschland industrialisieren und anwenden, um die großen Probleme wie Pandemien, Energiewende, Umwelt- bis Klimaschutz zu lösen. Ich sehe mich in meiner Funktion als Direktor der Agentur als eine Art friedlicher Revoluzzer des Innovationsökosystems.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Bremser und Fehler für Innovationsförderung in Deutschland?

R. Laguna de la Vera: Wir müssen neue Instrumente der Innovationsförderung schaffen und den Ballast der alten Fördermethoden und -instrumente abwerfen. Heute gehen uns locker 80 % an innovativem Potenzial verloren, denn der Kriterienkatalog der Förderungsanträge hält schon viele ab, den ersten Schritt zu gehen. Eine Entbürokratisierung würde die Innovationskraft gefühlt verdoppeln. Wir haben mit unseren Challenge-Formaten große Innovationswettbewerbe ins Leben gerufen, die eine breite Finanzierung von Innovationen ermöglichen, und nicht nur jenen Geld geben können, die förderungsempfangsbevollmächtigt wären.

Wie funktionieren die SPRIND Challenges?

R. Laguna de la Vera: Wir setzen auf Pre-Commercial Procurement, finanzieren also eine vorkommerzielle Entwicklung, mit denen wir miteinander konkurrierende Teams beauftragen. Für die, die zur Teilnahme an einer SPRIND Challenge ausgewählt werden, bringt das als Auftrag direkt Umsatz, sie bekommen sofort die erste Abschlagszahlung. Wir fordern keine Mittelnachweise, sind aber regelmäßig im Austausch mit den Teams. Dieses unbürokratische Verfahren sorgt für eine schnelle Umsetzung des Auftrags, und die Konkurrenz zwischen den Teams wirkt als Innovationstreiber. Für uns gilt: Weniger Bürokratie, aber mehr leistungsorientierter Wettbewerb beflügelt Sprunginnovationen. Der Output ist uns am Ende bedeutend wichtiger als eine formvollendete Einreichung eines Antrags. Bei unseren Challenges können die Teams sofort loslegen und nach drei Jahren schon fertig sein, während sie bei bisherigen Verfahren dann vielleicht gerade erst das Go bekommen.

Sie sagen, jetzt sei die Zeit wieder reif für eine neue Innovationswelle, da zahlreiche neue Basistechnologien wie künstliche Intelligenz, mRNA-Technologie, Nanotechnologie oder Energietechnologien einen hohen Reife- und Verbreitungsgrad erreicht hätten. Welche Rolle spielt dabei die chemische Industrie?

R. Laguna de la Vera: Vor allem bei den Energy-to-X-Themen oder bei katalytischen Prozessen sehen wir noch viel Potenzial, nicht nur befeuert durch innovative Forscher wie Benjamin List, der 2021 für seine Forschungen zur Organokatalyse den Chemienobelpreis erhalten hat. Wir haben hierzulande großartige Grundlagenforschung, ein großes Potenzial an Wissenschaftlern und viele gute Ideen zur praktischen Umsetzung.

 

 

„Die Interdisziplinarität der Naturwissenschaften kombiniert mit den Anpassungsfähigkeiten der chemischen Industrie ist ein Schlüssel für mehr Zukunftsfähigkeit.“

 

 

Wir haben heute ein viel besseres Verständnis von natürlichen Vorgängen und Prozessen, die wir technologisch nutzen können, und das führt automatisch zu Disruptionen oder Sprunginnovationen. Wir haben mit KI und besseren visuellen Verfahren in dieser Dekade immer bessere Instrumente zur Verfügung, um Probleme zu lösen. Die Interdisziplinarität der Naturwissenschaften kombiniert mit den Anpassungsfähigkeiten der chemischen Industrie sind ein Schlüssel für mehr Zukunftsfähigkeit, erschließt neue Märkte und erzeugt mehr Innovationen.

Hat die Chemie heute noch Sprung­innovationen in der Pipeline?

R. Laguna de la Vera: Eine der größten und wichtigsten Sprunginnovationen der Menschheitsgeschichte – das Haber-Bosch-Verfahren- liegt zwar schon über 100 Jahre zurück, aber wir profitieren davon bis in die heutige Zeit. Eine gute Innovation wäre nun, dieses katalytische Verfahren energieeffizienter zu gestalten. Das wäre sogar ein gutes Challenge-Thema für SPRIND. Ich habe die Erwartung, dass sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren viele der geübten Verfahren, die wir zur Herstellung verschiedener Produkte haben, verändern werden müssen. Wir brauchen Sprunginnovationen, um Energie effizient und kostengünstig zu speichern. Langfristige Energiespeicher für die Industrie sind ein zentraler Baustein für die Energieautonomie und die Erreichung der Klimaziele. Wir brauchen Sprunginnovationen, um CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen. Wir haben deshalb Anfang 2022 zu dieser zukunftsrelevanten Challenge eingeladen – um im Kampf gegen den Klimawandel eine Lösung zu entwickeln, die CO2 langfristig aus der Atmosphäre entfernt, skalierbar ist und in einem wirtschaftlichen Geschäftsmodell umgesetzt werden kann. Da ist viel Musik drin für die chemische Industrie, denn wir wollen bei dieser Challenge nicht nur CO2 aus der Luft holen, sondern es auch in wertvolle und nachhaltige Produkte umwandeln.

Was halten Sie von Inkubatoren oder Acceleratoren, die von vielen Firmen – gerade auch in der chemischen Industrie – genutzt werden, um Innovationen voranzutreiben?

R. Laguna de la Vera: Solche Initiativen aus der Industrie begrüßen wir. Das Problem ist aber, dass oft zu klein gedacht wird. Denn um eine Wirkung zu entfalten, muss eine Sichtbarkeit da sein. Viele Inkubatoren von Unternehmen sprechen nur die eigenen Mitarbeitenden an. Hier ist mehr Offenheit und Transparenz nötig, um eine Wirkung zu erzielen. Dann gilt es zu überlegen, ob es Sinn macht, das als Unternehmen allein oder doch besser im Verbund mit anderen zu machen, also Energie zu bündeln. Die Bündelung der Kräfte in der Chemie ist wichtig, um die teils hohen Anschubinvestitionen in Sprunginnovationen etwa bei grünen Transformationsprojekten gemeinsam stemmen zu können, so dass am Ende unsere Gesellschaft und der Industriestandort Deutschland davon langfristig und nachhaltig profitieren können.

Ein Start-up aus der Chemie hat eine tolle, vielleicht sogar verrückt klingende Projektidee und möchte gerne mit SPRIND kooperieren: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit SPRIND anbeißt?

R. Laguna de la Vera: Eine Idee alleine ist zu wenig. Das Start-up muss schon gezeigt haben, dass das Projekt funktionieren kann. Das Projekt muss aus der Grundlagenforschung heraus sein, es sollte Bestehendes in Frage stellen und das Leben möglichst vieler Menschen besser machen, sonst hat es nicht den Charakter einer Sprunginnovation. Wir stellen am Anfang immer mehrere Fragen, um beim Reflektieren zu helfen, ob das Projekt wirklich das Potenzial einer Sprunginnovation hat. Wenn diese Hürde genommen ist, reicht die Person oder das Team ein Exposé ein. Sollte nach Durchsicht dieser Informationen unsererseits Interesse bestehen, kommt es zu einem Validierungsauftrag. Wir inkubieren aktiv, bringen die Innovatoren mit unserem Netzwerk zusammen. Wenn wir danach immer noch überzeugt sind, bringen wir das Projekt vor den SPRIND-Aufsichtsrat, der entscheidet, ob wir unsere Prozesse richtig eingehalten haben, um für die Umsetzung weitere Gelder – in der Regel mehrere 10 Mio. EUR – freigeben zu können. Wir entwickeln die einzelnen Projekte bis zu einer vorkommerziellen Reife und helfen parallel mit Kontakten zur Wirtschaft, um herauszuarbeiten, wie eine Indus­trialisierung der Innovation gelingen kann. Die Projektlaufzeit ist in der Regel auf fünf Jahre angelegt.

Gibt es ein Projekt aus der Chemie mit Vorbildcharakter?

R. Laguna de la Vera: Das aktuell laufende Projekt zur skalierbaren und wettbewerbsfähigen Produktion von grünem Methanol aus Synthesegas durch einen homogenen Katalysator kann als Blaupause für zukünftige Einreicher aus dem Chemiebereich dienen. Sowohl von technischer, unternehmerischer, kaufmännischer Seite als auch vom gesamten Geschäftsmodell hat uns dieses Projekt von Anfang an überzeugt. Daher finanzieren wir jetzt eine Machbarkeitsstudie zur homogenen katalysierten Methanolsynthese.

Wie kann die chemische Industrie von SPRIND profitieren und umgekehrt?

R. Laguna de la Vera: Wir reden natürlich mit den wichtigen Entscheidern der chemischen Industrie und tauschen uns in verschiedenen Gremien aus, um zu hören, welche Sorgen, Nöte und Gedanken die Chemieindus­trie antreiben. Umgekehrt erklären wir, was wir als SPRIND leisten und wo sich Schnittstellen für eine Zusammenarbeit ergeben können. Wir sind da wesentlich permeabler als andere öffentliche Institutionen. Uns geht es bei unseren Aktivitäten um den Industriestandort Deutschland, und Innovationen sind das Rückgrat unseres Wohlstands. Ein konkreter Ansatz sind unsere Challenges, von denen sich aktuell vier mit Chemie- und Pharmathemen beschäftigen.

 

„Wir laden die chemische Industrie ein, mit uns weitere Challenges zu kreieren, um durch entsprechende Aufgabenstellungen Sprunginnovationen „made in Germany“ anzustoßen.“

 

Wenn die Chemie­industrie ein spezielles Problem hat oder händeringend nach Lösungen für Transformationsprojekte sucht, dann ist das Challenge-Format ein hervorragendes Instrument, Innovationspotenzial zu heben und mutige Ideen umzusetzen. Bislang haben wir durchschnittlich 25 Mio. EUR pro Challenge zur Verfügung. Je mehr die Challenges durch private Wirtschaft gefördert und gesponsert werden, umso mehr Wirkung können wir am Ende erzielen. Wir laden die chemische Industrie daher herzlich ein, mit uns weitere Challenges zu kreieren, um durch entsprechende Aufgabenstellungen weitere Sprunginnovationen „made in Germany“ anzustoßen.
 

Das Interview mit Rafael Laguna de la Vera, Direktor, SPRIND führte Jörg Wetterau.

ZUR PERSON
Rafael Laguna de la Vera ist Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND. Mit SPRIND soll ein bisher für Deutschland einmaliger innovationspolitischer Ansatz zur Förderung von disruptiven Innovationen umgesetzt werden. Rafael Laguna (geb. 1964) war über 30 Jahre als Unternehmer und Investor im Bereich Software aktiv. Mit 16 Jahren gründete er sein erstes Softwareunternehmen, mit 21 programmierte er ein Kassensystem für die Getränkewirtschaft und mit 31 verkaufte er seine erste Firma. Von 2008 bis 2020 leitete Laguna als CEO die Softwarefirma Open-Xchange, die er 2005 mitgründete.

BUCHTIPP
Sprunginnovation – Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen
Rafael Laguna de la Vera und Thomas Ramge
240 Seiten, Econ Verlag, 2021

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