Sicherheit im Wandel geben
Für sozial gerechte Transformation ist gute Zusammenarbeit der Chemie-Sozialpartner notwendig
Dazu zählen die fundierten Analysen über wirtschaftliche und technologische Trends in der Chemieindustrie, die oftmals auch Beschäftigte betreffen und die wir mit großem Interesse verfolgen. Für mich und meine Gewerkschaft ist die Lektüre des CHEManagers zudem lohnenswert, weil hier Themen behandelt werden, die sich sowohl an hochqualifizierte Techniker und Ingenieure richten als auch an Entscheider in den Unternehmen.
So wie sich die Themen und Inhalte des CHEManagers in den vergangenen 30 Jahren verändert haben, so sind auch die Aufgaben und Herausforderungen für die Chemie-Sozialpartner gewachsen. Dass sie Krise können, haben sie in der Vergangenheit oft bewiesen. Es ist in Deutschland unbestritten, dass die über Jahrzehnte entwickelte Sozialpartnerschaft – sowohl in den Unternehmen zwischen Betriebsräten und Unternehmen als auch zwischen BAVC und IGBCE – ein Erfolgsfaktor für die chemisch-pharmazeutische Industrie ist. Das in Zukunft so weiterzuentwickeln, bedeutet viel Arbeit für beide Seiten. Denn die Herausforderungen werden immer anspruchsvoller.
„Die über Jahrzehnte entwickelte Sozialpartnerschaft
ist ein Erfolgsfaktor für die
chemisch-pharmazeutische Industrie.“
Stark in der Krise: die Chemie-Sozialpartner
Zuletzt haben IGBCE und BAVC im Frühjahr mit dem Zwischenergebnis in den Chemie-Tarifverhandlungen bewiesen, dass sie sich in schwierigen Zeiten auf verantwortungsvolle Kompromisse einigen können: Die Beschäftigten der Branche erhalten eine Brückenzahlung in Höhe von 1.400 EUR. In dieser Zeit großer Unsicherheit durch den russischen Krieg gegen die Ukraine haben Gewerkschaft und Arbeitgeber so eine Lösung gefunden, die Inflationslinderung mit Beschäftigungssicherung verbindet. Im Oktober werden beide Seiten die Verhandlungen fortsetzen, um zu klären, inwieweit die zunächst kurzfristig gegen die ausufernde Inflation wirkende Entlastung in eine nachhaltige, tabellenwirksame Entgelterhöhung gewandelt werden kann.
Verantwortungsvolle Kompromisse, manchmal unkonventionelle und innovative Lösungen zeichnen die Sozialpartnerschaft in der Chemieindustrie aus. Schon vor Jahren haben die Tarifpartner innovative Konzepte zur Gestaltung der Arbeitszeit eingeführt, die den Beschäftigten Möglichkeiten bieten, die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zu verbessern und Arbeitszeit lebensphasengerecht zu gestalten. Und damit haben sie nicht nur technologische und organisatorische Umgestaltungen, sondern auch neue unternehmerische Strategien entscheidend vorangebracht und umgesetzt. Dazu zählt z. B. die Einführung der ersten tariflichen Pflegezusatzversicherung CareFlex Chemie.
Für die IGBCE ist klar: Passgenaue und gemeinschaftliche Lösungen für die Chemieindustrie zu finden, das geht am besten in einer Sozialpartnerschaft auf Augenhöhe und einer Tarifbindung, die den Namen auch verdient. Die Tarifautonomie ist ein zentraler Pfeiler einer sozialen Wirtschaft. Mit Tarifverträgen sind die Entgelte regelmäßig höher, die Arbeitszeiten kürzer, die Arbeitsplätze sicherer, die Arbeitsbedingungen gesünder und die Entwicklungschancen der Beschäftigten wie der Betriebe besser. Die Sozialpartner müssen ihr Modell von Mitbestimmung, Mitgestaltung und Mitverantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zukunftsfest machen. Dazu gehört auch: Sie müssen die Arbeitsbeziehungen im Jahrhundert der Transformation neu gestalten.
Frage nach Finanzierung der Transformation bleibt offen
Die Transformation der Industrie ist die große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Bis zum Jahr 2045 soll Deutschland klimaneutral werden. Für die Industrie bedeutet das, dass Produkte und Prozesse in den kommenden 23 Jahren an das Null-Emissionen-Ziel angepasst werden müssen. Auch die Chemieindustrie muss nachhaltiger werden, ohne dabei Beschäftigte auf der Strecke zu lassen. Eine Jahrhundertaufgabe, bei der die Sozialpartner eng kooperieren müssen. Dafür müssen wir unsere Prioritäten für die Zeit des Wandels passgenau neu setzen und z. B. Weiterbildung verbessern.
Offen bleibt aber noch immer die grundsätzliche Frage der Finanzierung der industriellen Transformation. Für den Ausbau erneuerbarer Energien, für die Beschleunigung von energetischer Sanierung oder für Kaufzuschüsse für elektrische Antriebe sind viele Milliarden Euro notwendig. Alles in allem belaufen sich die Kosten laut dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) auf ungefähr 2,5 % unseres Bruttoinlandsprodukts.
Auch wenn der Markt effizient und kostengünstig reguliert wird, wird Klimaschutz teuer. Die Akzeptanz dieses Billionenprogramms wird wesentlich von der gesellschaftlichen Verteilung dieser Kosten abhängen. Die Beschäftigten sollten nicht die Last tragen müssen. Staatliche Leistungen, die heute nicht aus Steuermitteln geleistet werden können, sollten über eine höhere Nettokreditaufnahme gezahlt werden. Volkswirtschaften, die das heute vorbereiten, werden spätestens zur Jahrhundertmitte davon profitieren. Und Staaten können und sollten in diesen Zusammenhängen langfristiger kalkulieren als Unternehmen, die in einer anderen Art von Wettbewerb stehen.
Klimapolitik muss auch Industriepolitik sein
Es gibt jedoch aktuelle Herausforderungen, die das Erreichen der Klimaziele und die Akzeptanz in der Bevölkerung gefährden. Die hohe Inflation birgt ein beträchtliches Konfliktpotenzial. Und der russische Überfall auf die Ukraine hat zu einer weiteren, drastischen Verschärfung der Energiepreisentwicklung geführt. Diese Zusammenhänge zeigen, dass Klimapolitik auch Industriepolitik sein muss. Denn beide bedingen sich in der aktuellen Lage maßgeblich. Wir brauchen also genauso klare Ziele für Beschäftigung und für industrielle Wertschöpfung wie für CO2-Emissionen. Der Staat muss aktiv industriepolitisch tätig werden, um neue Beschäftigung an deutschen und europäischen Industriestandorten zu ermöglichen. Nur so kann der Industriestandort Deutschland mit seinen guten, tarifgebundenen Arbeitsplätzen gesichert werden.
Worum es dabei geht, zeigt das Beispiel Wasserstoff: In einer treibhausgasneutralen Welt wird Wasserstoff aus erneuerbaren Energien die fossilen Energieträger Mineralöl und Erdgas ablösen. Denn unter den Bedingungen von Treibhausgasneutralität wird auch die chemische Industrie kein Naphtha mehr aus Mineralöl cracken können. Stattdessen wird sie für alle neuen Kunststoffe Molekülketten aus Wasserstoff und Kohlenstoff synthetisch herstellen müssen – mit hohem Energieaufwand aus erneuerbaren Quellen. Die beabsichtigte Kooperation von RWE und BASF zeigt, was dafür benötig wird: nämlich erst einmal viel Strom aus erneuerbarer Energie. Platz für die großen Windparks ist aber weder in Ludwigshafen noch in Mannheim. Im notwendigen Umfang findet man ausreichend Platz nur an den Küsten. Deswegen wollen RWE und BASF einen Windpark in die Nordsee bauen.
Transformation braucht Sicherheit im Wandel
Jetzt – in der Gegenwart – müssen wir die Weichen für die Zukunft stellen. Wir müssen den politischen Zielkonflikt zwischen der Sicherung des notwendigen Wasserstoffaufkommens und der Sicherung industrieller Standorte in die richtigen Bahnen lenken. Und wir müssen Sicherheit im Wandel bieten. Und zwar sowohl technische Sicherheit als auch soziale Sicherheit.
„Wir müssen Beschäftigte an der Gestaltung
des Wandels beteiligen und
ihre Potenziale zur Geltung bringen.“
Eine wirklich sozial gerechte Transformation sichert nicht nur die Risiken ab, sondern vertraut auch auf Chancen. Chancen für Facharbeiterinnen und Facharbeiter, in nachhaltigen neuen Prozessen in neuen deutschen Industrieanlagen gute Arbeit zu leisten und Karriere zu machen. Diese Chancen müssen wir ihnen ermöglichen. Wir müssen Beschäftigte an der Gestaltung des Wandels beteiligen, mit ihnen sprechen, ihre Potenziale zur Geltung bringen und ihre Interessen nach sozialer Sicherheit und tarifgebundener Arbeit berücksichtigen. Für die politische, aber auch für die ökonomische Stabilität ist es besser, die Transformation aktiv zu gestalten und den Beschäftigten in den Veränderungsprozessen Perspektiven zu bieten. Diese Aufgabe werden wir als Chemie-Sozialpartner nur gemeinsam bewältigen können.
Autor: Michael Vassiliadis, Vorsitzender, Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE)