Scrum im regulierten Umfeld
Chance oder Risiko für die Computervalidierung? Teil 2
Die weitreichende Verbreitung, die Grundidee und die Stärken von Scrum insbesondere im Vergleich zu den sogenannten Wasserfall-orientierten Ansätzen wie dem V-Modell wurden im ersten Teil dieses Beitrags (CHEManager 13-14/2012) dargestellt. Teil 2 untersucht mögliche Argumente für und gegen Scrum im regulierten Umfeld und zeigt Ansätze zur Ausgestaltung unter Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse der Computervalidierung (CSV) auf.
Soll untersucht werden, ob und wie Scrum im regulierten Umfeld genutzt werden kann, so ist es hilfreich, sich zunächst die möglichen Argument gegen eine Nutzung von Scrum vor Augen zu führen.
Mögliche Argumente gegen die Nutzung von Scrum im regulierten Umfeld
Vielfach wird argumentiert, die Erfordernisse der Validierung machen die Nutzung der Scrum-Methodik unmöglich. Folgend werden oft genannte Argumente wider eine Nutzung von Scrum genauer untersucht.
Verbindlichkeit des V-Modells
Im GAMP 5, einem Leitfaden, der sich zunehmend als Standard für die Computervalidierung in der pharmazeutischen Industrie durchgesetzt hat, ist das klassische V-Modell nicht mehr zwingend vorgeschrieben. "Rapid Prototyping"-Methoden werden explizit anerkannt. GAMP 5 verlangt jedoch eine Dokumentation nach jedem größerem Zyklus bzw. Meilenstein.
Vollständige Dokumentation
Als weiteres Argument wird vereinzelt angeführt, Scrum würde auf Dokumentation verzichten bzw. diese vernachlässigen. Einer der Grundsätze des agilen Manifests, auf dem Scrum aufsetzt, ist zwar, dass ein vollständiges Produkt Vorrang vor einer vollständigen Dokumentation hat. Das bedeutet aber nicht, dass grundsätzlich keine Dokumentation erstellt wird.
So werden zu Beginn der Sprints Anforderungen, Anwenderrollen und der konkrete Nutzen in Form von User Stories spezifiziert. Die Sprint-Orientierung bei Scrum sieht vor, dass mit Abschluss des jeweiligen Sprints die darin enthaltenen Arbeitspakete abschließend (!) bearbeitet wurden. Was dabei eine vollständige Bearbeitung bedeutet, wird in der DoD (‚Definition of Done‘) genau beschrieben und kann innerhalb der Methode auf besondere Notwendigkeiten der Validierung, wie z.B. eine vollständig vorliegende Dokumentation und deren Abnahme, angepasst werden.
Aufwand für Validierungstests
Ein weiterer Kritikpunkt, eine vollständige, GMP-konforme Dokumentation der Tests wäre zu aufwändig, da sich die Anforderungen ständig ändern, ist durchaus zu berücksichtigen. Um diese Anforderung zu erfüllen, bietet sich eine Anpassung der Vorgehensweise für die besonderen Bedürfnisse der CSV an.
Bei Scrum sind viele Zyklen notwendig, die, um den GMP-Anforderungen gerecht zu werden, jeweils die Phasen Spezifikation, Umsetzung und Test beinhalten müssen. Dabei wird besonderer Wert auf abschließende Tests in jedem Zyklus gelegt. Tests gemäß den Anforderungen im regulierten Umfeld zu dokumentieren, ist jedoch relativ aufwendig. Es sollte also gut überlegt werden, wann, auch im agilen Umfeld, das System einen stabilen Zustand erreicht hat. Erst dann, also z.B. nach einem Sprintzyklus, der ein Zwischenprodukt liefert, das in Produktion genommen werden soll, sollte ein Sprintzyklus durchgeführt werden, der den Schwerpunkt auf die formellen GMP-Anforderungen, wie z.B. die aufwändiger zu dokumentierenden Validierungstests legt. Dabei gilt es aber, sicher zu stellen, dass in diesen Sprints nur „formale Aspekte" nachgeholt werden, da andernfalls ein „Rückfall" in nicht wirklich inhaltlich abgeschlossen Entwicklungsphasen droht.
Argumente für Scrum im regulierten Umfeld:
Argumente die auch im regulierten Umfeld für Scrum sprechen, sind die enge Einbeziehung der am Projekt beteiligten Personen und Anwender und der große Wert, der auf das Refactoring gelegt wird.
- Enger Kontakt zu den am Projekt beteiligten Personen
Das agile Anforderungsmanagement sieht einen engen Kontakt mit dem Kunden vor, der die Produktentwicklung formuliert, priorisiert und den Wert seiner Anforderungen festlegt. Der Kunde probiert das Produkt am Ende eines Sprintzyklus aus und kann so unmittelbar Feedback geben. Durch dieses „Ausprobieren", das auch als „User Acceptance Test" angesehen werden kann, ist sichergestellt, dass der User frühzeitig eingebunden ist und ein umfassendes Wissen über das Produkt erhält. - Hohe Betonung Refactoring
Großer Wert wird bei der agilen Softwareentwicklung auf die Strukturverbesserung von Programm-Quelltexten gelegt, wobei die Funktionalität nicht angetastet wird. Unter anderem sollen so Lesbarkeit, Wartbarkeit und Erweiterbarkeit verbessert werden. Mit Tests nach dem Refactoring wird belegt, dass ich sich keine zusätzlichen Fehler eingeschlichen haben. Eine kontinuierliche Qualitätsverbesserung des Produktes wird somit ermöglicht. Die ist unbedingt auch im Sinne einer nachhaltigen Erfüllung der Vorgaben der CSV erforderlich.
Fazit
GMP schließt agile Softwareentwicklungsmethoden nicht aus. Der EG-GMP Annex 11 gibt keine Vorgaben hinsichtlich der Validierungsmethode. Im GAMP IV wurde allerdings jahrelang das V-Modell als das Vorgehensmodell der Wahl propagiert. Damit wurden die Vorstellungen, wie eine Validierung abzulaufen hat, sowohl bei Inspektoren, Industrieunternehmen und bei Softwareherstellern über Jahre geprägt.
Im GAMP 5 wird aber darauf hingewiesen, dass auch andere Modelle neben dem V-Modell möglich sind. Agile Softwareentwicklung ist somit nicht durch GMP ausgeschlossen. Bei einer Bewertung der Chancen und Risiken agiler Methoden im regulierten Umfeld bleibt außerdem zu berücksichtigen, dass in der aktuellen Praxis viele Herausforderungen bei weitem weder im fachlichen, noch im betriebswirtschaftlichen noch im regulatorischen Sinne optimal gelöst sind.
Agile Methoden streben danach, Ergebnisse und Ergebnisqualität mit Hilfe von einigen einfachen Regeln und weniger Bürokratie zu realisieren. Im regulierten Umfeld muss die agile Methodik innerhalb eines allgemeinen QM-System umgesetzt und eingebunden werden.
Es empfiehlt sich außerdem die Scrum-Methodik durch besondere Sprints zur Abdeckung der formalen Erfordernisse anzupassen, ohne dabei die grundlegende Systematik und deren Vorteile zu gefährden. Weitere Anpassungen oder auch die Kombination agiler mit konventionellen Methoden (‚hybride Modelle‘) sind vor dem Hintergrund der jeweiligen Unternehmenssituation und etwaiger Widerstände gegen eine grundlegend veränderte Philosophie beim Vorgehen zu prüfen.
Insgesamt zeigt sich, dass Scrum auch im regulierten Umfeld eine relevante Option darstellt. Viele Argumente gegen die agile Vorgehensweise entpuppen sich bei genauerer Untersuchung als falsch oder zu kurz gedacht. Mehr noch: Die Fokussierung auf Ergebnisse, Klarheit und Transparenz entsprechen den Grundgedanken der Validierung in vielerlei Aspekten besser als andere derzeit verbreitete Ansätze.
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