Anlagenbau & Prozesstechnik

Reinraumbekleidung im Wandel der Zeit

Veränderungen, Anpassungen sowie Optimierungen auf der einen – Kontinuität und Beständigkeit – auf der anderen Seite

25.06.2018 -

Trotz vieler technischer Veränderungen im Reinraum, gilt der Mensch nach wie vor als eine der größten Kontaminationsquellen in kontrollierten Bereichen. Vergleicht man den Fachbeitrag in der Erstausgabe der ReinRaumTechnik 1/1999 „Reinraumbekleidung mehr als nur Arbeitsschutzbekleidung“ mit dem heutigen Status Quo, so sind neben dieser Tatsache noch weitere Übereinstimmungen zu erkennen, aber auch an einigen Stellen signifikante Veränderungen. In den folgenden Ausführungen soll hierauf näher eingegangen werden. Wie und in welchem Umfang hat sich die Reinraumbekleidung in den letzten zwei Jahrzehnten verändert und an welchen Stellen gelten nach wie vor die Aussagen von damals?

Es ist immer noch unbestritten, dass in den meisten Fällen die Reinraumbekleidung nach wie vor der einzige Filter zwischen Mensch und Produkt darstellt. Ebenso gilt nach wie vor die Aussage, Reinraumbekleidung ist mehr als „nur“ Arbeitsschutzbekleidung. Dennoch gilt es diese Aussagen nochmals näher zu beleuchten und an einigen Stellen zu relativieren. Durch technische Entwicklungen ist es gelungen, an diversen Stellen im Produktionsprozess den Menschen soweit vom eigentlichen Produkt zu entkoppeln, dass dieser als Kontaminationsgefahr kaum mehr eine Rolle spielt. In der Halbleitertechnik durch die SMIF-Technologie (Standard Mechanical Interface) und durch die Einführung der sogenannten Mini-Environments, sowie in der Pharmawelt durch die Nutzung der Isolatortechnik. In allen anderen Bereichen gilt jedoch nach wie vor die Aussage vom einzigen Filter.

Auch der sogenannte Systemgedanke hat nach wie vor Bestand. Das Zusammenspiel der Reinraumoberbekleidung mit der reinraumtauglichen Zwischenbekleidung, der fachgerechten Dekontamination und die zwingend notwendige Schulung der Mitarbeiter ist heute genauso wichtig wie damals. Man könnte aber auch behaupten, dass durch die zum Teil komplexeren Anforderungen in einigen Teilbereichen der Reinraumtechnologie, der Systemgedanke heute vermutlich sogar noch etwas wichtiger geworden ist. Ergänzende Bestandteile, wie z. B. Schutzbrillen oder ähnliches, sind zu integrieren oder aber strenge Anforderungen aus dem Bereich der PSA (Persönliche Schutzausrüstung) entsprechend einzuhalten.

VDI-Richtlinie 2083 Blatt 9.2

Das schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts thematisierte Problem der einheitlichen und vergleichbaren technischen Dokumentation hat auch heute noch an vielen Stellen Bestand. Exemplarisch sei hier an erster Stelle die nicht einheitlich definierte Testmethode zur Ermittlung des Partikelrückhaltevermögens aufgeführt. Obwohl gerade diese Eigenschaft, das Rückhaltevermögen, zu den wichtigsten Kriterien der Reinraumbekleidung zählt, war es bisher nicht möglich, sich international auf ein einheitliches Testverfahren mit eindeutigen Rahmenbedingungen zu einigen. In vielen Fällen testen die Hersteller sogar noch nach eigenen Methoden. Lediglich im deutschsprachigen Raum konnte dies durch die Einführung der VDI-Richtlinie 2083 Blatt 9.2 geändert werden. Seit 2016 ist es nun möglich, nach einer anerkannten Methode, Reinraumtextilien unter gleichen Bedingungen in puncto Partikelrückhaltevermögen gegenüber luftgetragenr Verunreinigungen zu untersuchen und zu vergleichen.

„Alles wie gehabt“ – Nein!

Jetzt könnte man provokant behaupten: „Alles wie gehabt – Im Grunde hat sich also nichts verändert!" 

Doch diese Behauptung wäre falsch – es gab Veränderungen. Neue Aspekte rückten gerade in den letzten Jahren in den Fokus bei Anwendern, wie auch bei den kontrollierenden Organen. Insbesondere die technische Dokumentation eines Bekleidungssystems gewinnt vor allem bei pharmazeutischen Anwendungen stetig an Bedeutung hinzu. Es reicht heute bei weitem nicht mehr aus, nur ein Datenblatt zu dem eingesetzten Reinraumtextil vorzuweisen: Praxisorientierte Angaben unter Berücksichtigung von Alterungserscheinungen sind gefordert. Die Qualifizierung/Validierung des eingesetzten Bekleidungssystems wird durch Inspektoren deutlich kritischer hinterfragt als noch vor einigen Jahren. Eine Risikoanalyse, welche Gefahren möglicherweise von meinem Bekleidungssystem ausgehen, steht heute im Mittelpunkt diverser Audits: 

  • Wie wird diesen Risiken begegnet? 
  • Wie wird sichergestellt, dass das einmal qualifizierte Bekleidungssystem aufrechterhalten bleibt? 
  • usw. 

 

Auch die „Haltbarkeit“ der Reinraumbekleidung steht heute mehr denn je im Fokus. Die „End-of-Life“-Betrachtung zum Thema Reinraumbekleidung stellt Anwender wie Hersteller vor neue Herausforderungen. Wiederum ist die pharmazeutische Industrie an der Stelle die treibende Kraft. „Wann ist eine Reinraumbekleidung zu ersetzen und worauf beruhen diese Annahmen?“ sind hierbei zwei wesentliche Fragestellungen, die es zu beantworten gilt. Erste Veröffentlichungen und Studien zu den Themen liegen bereits vor.

In Anwendungsbereichen, die eher der Halbleiterindustrie zuzuordnen sind, stehen aktuell nicht mehr nur noch die partikulären Verunreinigungen im Mittelpunkt. Chemische Verunreinigungen – das sogenannte „Ausgasverhalten“ – sind neue Schwerpunkte, mit den daraus resultierenden neuen Anforderungen an die Reinraumbekleidung. Auch das ESD-Verhalten (engl. ElectroStatic Discharge) gewinnt zuletzt wieder an Relevanz.

Die reinraumtauglichen Zwischenbekleidung

Die Bedeutung der reinraumtauglichen Zwischenbekleidung hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Sie ist bei sehr vielen Endanwendern als eines der elementaren Bestandteile des Bekleidungssystems zwischenzeitlich fest etabliert. War die Abriebfestigkeit und die damit automatisch verbundene geringere Eigenpartikelabgabe in der Vergangenheit das wichtigste Kriterium, so gewinnen in jüngster Vergangenheit weitere funktionale Attribute immer mehr an Gewicht. Die allgemeinen Tragekomforteigenschaften lassen sich durch eine entsprechende Zwischenbekleidung nachweisbar steigern. Mittels antimikrobieller Funktionalität können zusätzlich mikrobiologische Kontaminationen inklusive unangenehmer Gerüche in einem nicht unerheblichen Maße reduziert werden. Studien haben gezeigt, dass sich sowohl partikuläre als auch überlebensfähige Verunreinigungen um 50 % und mehr reduzieren lassen – im direkten Vergleich zu einer Unter- bzw. Zwischenbekleidung aus Baumwolle bzw. Baumwollmischtextilien. Ein modernes ansprechendes Design, mit passenden farblichen Akzenten, unterstützt zusätzlich die Akzeptanz der Mitarbeiter für diese wichtige Bekleidungskomponente.

Tragekomfort

Positive Tragekomforteigenschaften und die somit einhergehend höhere Akzeptanz durch die Anwender steigern sowohl die Effizienz bzw. können auch die Risiken für Fehleranfälligkeiten (mangels Konzentration) reduzieren. Dies bewies eine weitere Studie. Doch trotz der hohen Bedeutung des Tragekomforts, darf die Entscheidung, welches Reinraumbekleidungssystem, welche Reinraumtextilien und welche Modelle eingeführt werden sollen, nicht einfach so an die Mitarbeiter delegiert werden. Die technisch relevanten Anforderungen an ein Bekleidungssystem werden nach wie vor maßgeblich durch die Prozess­anforderungen der jeweiligen Reinraumproduktion bestimmt! 

Insbesondere bei der Dichtigkeit eines Reinraumgewebes gab es über die beiden letzten Jahrzehnte einen interessanten Wandel. Der Ansatz, ein möglichst luftundurchlässiges Textil bietet gleichzeitig den bestmöglichen Schutz des Produktes vor partikulären Verunreinigungen ausgehend vom Mitarbeiter, erwies sich als falsch. Verschiedene Untersuchungen wiesen den sogenannten „Pumpeffekt“ nach. Bei sehr dichten Geweben baut sich ein Überdruck von teilweise mehr als 30 Pascal auf und durch den physikalisch bedingten Druckausgleich gelangen große Mengen an Luft unkontrolliert in den Reinraum. Mit dieser ungefilterten Luft entweicht automatisch auch eine Vielzahl an Kontaminationen in die unmittelbare Prozessumgebung. Moderne Textilien weisen deshalb heutzutage eine ausgewogene Luftdurchlässigkeit auf und der Pumpeffekt verlor an Relevanz. Auch der immer häufigere Einsatz einer reinraumtauglichen Unter-/Zwischenbekleidung in allen Reinraumklassen trug dazu bei, dass dem Pumpeffekt weniger Bedeutung beigemessen wird. Je weniger Verunreinigungen sich unter der Reinraumoberbekleidung bilden können, desto weniger können entweichen.

Neue Anwendungsbereiche

Insgesamt erweiterten sich die Anwendungsbereiche für Reinraumbekleidung kontinuierlich. Bis in die Mitte der 90er Jahre des vorherigen Jahrhunderts waren Anwendungen in der „Class 100“ (Fed. Std. 209), die heutige Klasse ISO 5 (ISO-14644-1), das Maß aller Dinge. Heute erstrecken sich die Einsatzgebiete über eine viel größere Bandbreite. Von allerhöchsten Anforderungen in Reinheitsklassen ISO 4 bis hin zu Anforderungen aus den Bereichen ISO 8/9, sowie der Sauberräume. Die immer größer werdende Bedeutung der pharmazeutische Fertigung und der Medizintechnik tut ihr Übriges. Luft- und Raumfahrt, Automotive, Optik, Lebensmitteltechnik, Spritzgusstechnik im Reinraum usw. sind Industriezweige, in denen die Reinraumtechnik bereits Einzug gehalten hat, mit wiederum neuen Anforderungsprofilen. Individuelle Konzepte, abgestimmt und optimiert auf die Prozessanforderungen des jeweiligen Kunden, sind heute häufiger gefragt als klassische Standardware, die oftmals nur einen Teil der Anforderungen abdeckt. „08/15-Lösungen“, die möglicherweise auf den ersten Blick kostengünstiger erscheinen, bergen das Risiko in sich, an anderen Stellen indirekte zusätzliche Kosten verursachen zu können. Das soll nicht ausschließen, dass es selbstverständlich auch viele Anwendungen gibt, bei denen eine Standardlösung hervorragend passen kann. Den in der VDI-Richtlinie 2083, Blatt 9.2, beschriebenen „prozessorientierte Ansatz“ entsprechend anzuwenden, bildet heute die Grundlage bei der Definition eines Bekleidungssystems.

Modellvielfalt und Farben

Neben den Entwicklungen im Textilbereich, gab es selbstverständlich auch Veränderungen bei den Modellen, bei der Modellvielfalt und Farben sowie im Design/Schnitt der verschiedenen Bekleidungskomponenten. Zwar blieb der Basisschnitt eines Overalls oder eines Kittels in vielen Bereichen bestehen, aber neben den notwendigen Größenanpassungen aufgrund der geänderten Anatomie der Träger in den letzten 20 bis 30 Jahren, wurden eine Vielzahl an Details geändert und angepasst. Auch hier sind die individuellen Prozessanforderungen der Endanwender die treibende Kraft. Der aus Anwendersicht nachvollziehbare Wunsch, möglichst nur noch ein einziges Bekleidungsteil auf einfachste Art und Weise anzuziehen, spiegelt sich in neuen Modellen wider. Die Anfangseuphorie für diese wurde jedoch an vielen Stellen abrupt gestoppt, als aus Anwendersicht festgestellt wurde, dass die sicherlich unangefochtenen Vorteile des einfachen und schnellen Anlegens der Bekleidung auch Nachteile, wie schlechtere Passform und geringere Tragekomforteigenschaften, mit sich brachten.

Fazit

Selbstverständlich hat auch heute noch der Reinraumoverall Arme und Beine und der Basisschnitt, mit Raglanärmel für mehr Bewegungsfreiheit, ist fester Bestandteil der Reinraumoberbekleidung. Aber das Anforderungsprofil im Allgemeinen wurde vielseitiger – entsprechend der immer vielfältigeren Anwendungsgebiete der Reinraumtechnik. Individuelle Bekleidungskonzepte, angepasst an die jeweiligen Prozessanforderungen der Endanwender, werden immer häufiger benötigt. Für die auditsichere technische Dokumentation sind praxisnahe Angaben notwendig, die Alterungsprozesse aufgreifen und die die beim Endanwender täglich vorliegenden Stressfaktoren mit einbeziehen. Die Reinraumbekleidung wird weiterhin als einziger Filter zwischen Mensch und Produkt eine wesentliche Rolle in den Reinraumprozessen einnehmen und bei entsprechend sorgfältiger Auswahl, die in sie gesetzten Erwartungen zur Kontaminationskontrolle erfüllen.

(Literaturquellen auf Anfrage beim Autor.)

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