Re-Industrialisierung Europas durch Innovation
Eine zukunftsorientierte europäische Industriepolitik muss Innovation fördern und den Mittelstand stärken
Innovationsfähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung, damit Europa im globalen Wettbewerb bestehen kann. Die chemische Industrie Europas sieht sich im zunehmenden Konkurrenzkampf mit anderen Regionen und benötigt wettbewerbsfähige und innovationsfördernde Rahmenbedingungen. Dies gilt insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMUs), die nicht über die ausgedehnte globale Präsenz von Großkonzernen verfügen. Über die Situation aus Sicht des chemischen Mittelstands sprach CHEManager mit Dr. Heinz Sieger. Sieger war 18 Jahre lang Geschäftsführer des mittelständischen deutschen Chemieunternehmens CU Chemie Uetikon, dessen Aufsichtsratsvorsitzender er heute ist. Zudem fungiert er gegenwärtig als Präsident der European Fine Chemicals Group (EFCG) und als Vorsitzender der CASID (Chemische Auftragssynthese in Deutschland e.V.).
CHEManager: Herr Sieger, Europa hat sich seit Beginn des Jahrtausends viel vorgenommen, um die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft seiner Wirtschaft zu stärken. Sind die Voraussetzungen in Europa heute gegeben, damit Unternehmen erfolgreich wirtschaften können?
Dr. H. Sieger: Bisher kaum, da braucht es mehr als gute Vorsätze. Die anspruchsvollen EU-Programme zur Schaffung eines wettbewerbsfähigen Umfeldes in Europa sind weitgehend gescheitert. So wurde das Ziel der im Jahr 2000 beschlossenen Lissabon-Strategie, die EU bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen, nicht erreicht.
Im Juni 2010 wurde das Nachfolgeprogramm mit dem Ziel, „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" mit einer besseren Koordination der nationalen und europäischen Wirtschaft zu schaffen, verabschiedet. Inzwischen sind wir im fünften Jahr dieses Programms und auch hier ist aus meiner Sicht nicht viel passiert.
Die neue Lissabon-Strategie 2010 bis 2020 noch weiter zu unterstützen, ist wohl das Ziel eines milliardenschweren EU-Investitionsprogramms für die europäische Wirtschaft vom November 2014. Mit Mitteln aus der europäischen Investitionsbank EIB als Anschub soll die Industrie ermutigt werden, zu investieren. Nach den Vorstellungen der EU-Kommission soll dann in den nächsten drei Jahren mit 315 Mrd. EUR etwa 15-mal so viel Privatkapital angelockt werden. Erwartet werden durch dieses Programm bis zu 1,3 Mio. zusätzliche Jobs.
Das klingt doch ermutigend. Wie sehen Sie das?
Dr. H. Sieger: Wichtig wäre zunächst einmal die Sicherung der bestehenden Industriekapazität mit Investitionen in neue Produktionsmittel und damit anschließend in zusätzliche Arbeitsplätze. Außerdem darf man gespannt sein, wie viele dieser erwähnten Investitionen auf den Mittelstand entfallen werden. KMUs haben bekanntlich im Gegensatz zu den Großunternehmen größere Probleme, Fördermittel abzurufen und an internationalen Programmen teilzunehmen.
In der Chemiebranche ist der Mittelstand die tragende Säule. Wie beurteilen Sie dessen Situation?
Dr. H. Sieger: Flexibilität und Profitabilität als Folge von „lean & mean"-Strukturen sind die Stärken erfolgreicher mittelständischer Unternehmen, die mit flachen Hierarchiestrukturen schnell entscheiden und handeln können. Jedoch hat der Mittelstand insbesondere beim Aufbau von und der Beteiligung an internationalen Netzwerken noch reichlich Entwicklungspotenzial. Wir haben in der EFCG gesehen, welche Chancen Netzwerke bieten und was erreicht werden kann, wenn sich Unternehmen zusammenschließen und gemeinsam an der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.
Wir haben zwar nicht alle Ziele, die wir uns in der EFCG gesteckt haben erreicht, aber doch einige Verbesserungen erzielt. So zeigt die Falsified Medicines Directive im Bereich der GMP-konformen Herstellung und Lieferung von APIs, also Pharmawirkstoffen, erste Erfolge. Dies wird erfreulich durch die von der EFCG wesentlich mitgeförderte Einführung von GDUFA, US Generic Drug User Fee Act, noch unterstützt. Das hat nämlich zur Folge, dass eine verlässliche Wirkstoff-Produktion von europäischen Herstellern für Pharmainnovatoren und die Generika-Industrie in Europa wieder attraktiver geworden ist.
Wenn Unternehmen nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern kontinuierlich ihre Hausaufgaben machen, ständig auf höchstem Qualitätsniveau intelligent investieren und sich dadurch differenzieren, dann braucht man sich um den Mittelstand und um die Wirtschaft in Europa auch keine Sorgen zu machen. Vom Untergang der Industrie des Abendlandes sind wir dann weitentfernt. Auch ohne ständige staatliche Unterstützung schaffen KMUs zudem ganz nebenbei Zigtausende hochqualifizierte Arbeitsplätze und tragen damit überproportional zum Erfolg der Wirtschaft in Europa bei.
Wie bewerten Sie das Innovationsklima und die Forschungsbedingungen für KMUs in Europa?
Dr. H. Sieger: Im GE Global Innovation Barometer 2014 wird festgestellt, dass Europa unter anderem bei den politischen Rahmenbedingungen, die Innovationen begünstigen, Defizite und Nachholbedarf hat. Darin heißt es, dass sich Europa insbesondere in den Bereichen Industrial Internet und Advanced Manufacturing verbessern muss. Nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig wäre es daher, die Mittel aus der Lissabon-Strategie 2010 bis 2020 und dem neuen milliardenschweren EU-Investitionsprogramm vor allem für ein innovationsfreundliches Klima und eine daran anschließende zukunftsorientierte Forschung in Industrie und Universitäten zu verwenden. An Geld sollte es nicht mangeln, wenn die Mittel mit gesellschaftlichem Nutzen verwendet werden, anstatt Unsummen für Bereiche wie beispielsweise für Gender-Lehrstühle zu verschleudern, deren Nutzen äußerst fraglich ist.
Mit dem EU-Programm „Horizon 2020" wurde das bislang umfangreichste und, wie ich meine, vielversprechendes EU Research & Innovation-Programm aufgelegt. Mit fast 80 Mrd. EUR an Fördermitteln über einen Zeitraum von sieben Jahren ausgestattet sollen zudem Anreize geschaffen werden, dass die Wirtschaft weitere Investitionen beisteuert. Erfreulich an Horizon 2020 ist die besondere Berücksichtigung von KMUs.
Eine zentrale Bedingung innerhalb des Programms ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb Europas und die Bündelung von Forschungsaktivitäten durch Vernetzung von Industrie und Forschungseinrichtungen. Auch hier ist wie von mir immer wieder angeregt die Bildung und Nutzung von Netzwerken nicht nur vorteilhaft, sondern ein wesentliches Merkmal und absolute Bedingung.
Das hört sich insgesamt nach einem sehr guten Ansatz und einem vielversprechenden Projekt an, mit dem Innovationen gefördert und in marktfähige Produkte und Verfahren umgesetzt werden sollen.
Viele Unternehmen beklagen die Überregulierung in Europa. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und Belastungen für den Mittelstand, was sind Ihrer Meinung nach die brennenden Themen, die angegangen werden müssen?
Dr. H. Sieger: Die Unternehmen in Europa müssen über 80.000 Vorschriften beachten, von denen alleine ca. 75 % aus Brüssel kommen. Diese Regulierungswut und der ständige staatliche Eingriff in wirtschaftliches Handeln stellt einer der größten Herausforderungen für die gesamte Industrie und insbesondere für den Mittelstand dar.
Es ist kaum verständlich mit welcher Naivität oder Ignoranz die Industrie mit immer neuen Grenzen und Vorschriften belastet wird und gleichzeitig die Regulatoren in Brüssel offensichtlich davon ausgehen, dass die Unternehmen überwiegend „exorbitante Gewinne" erzielen und mit jeder neuen Belastung schon zurechtkommen. In Wirklichkeit aber werden die Konsequenzen in der realen Welt völlig missachtet. De-Industrialisierung geschah und geschieht eben nicht zufällig, als unvermeidliches Schicksal, sondern hat reale Ursachen.
So warten wir seit 2012 auf die Einlösung des Versprechens, dass diese Flut an Regulierung nicht nur gestoppt wird, sondern dass gleichzeitig und kontinuierlich das bestehende Volumen der Regelungen um ca. 30 % reduziert wird. Die Chemikaliengesetzgebung REACh beispielsweise ist nach wie vor ein Überregulierungsmonster und belastet die gesamte Chemische Industrie und hier den Mittelstand im Besonderen.
Sind den EU-Parlamentariern die Bedeutung und die Belastungsgrenzen von KMUs nicht bewusst?
Dr. H. Sieger: Doch. Interessant ist in diesem Zusammenhang, zu welcher Schlussfolgerung das „Directorat General for Internal Policies" des EU Parlaments in der Ausarbeitung mit dem Titel „The Consequences of REACH for KMUs" kommt. In der umfangreichen Untersuchung wird die wirtschaftliche Bedeutung der etwa 27. 500 KMUs inklusive der Downstream User - zusammen 96 % aller Chemieunternehmen - unterstrichen, die 28 % des gesamten Chemieumsatzes in der EU erwirtschaften und für 35 % aller Jobs verantwortlich sind und überproportional ständig neue Arbeitsplätze schaffen.
Absolut nicht verwunderlich wird in der Studie eingeräumt, dass KMUs durch die von REACh verursachten Kosten sehr stark belastet werden und dass es durch REACH durchaus zu Veränderungen der Marktstruktur führen könnte, was immer das heißen soll.
Wohlgemerkt, das ist eine Untersuchung, die das EU Parlament 2013 selbst in Auftrag gegeben hat. Nur sind seither weder Korrekturen noch eine Umkehr festzustellen. Das verstehe ich nicht unter Industriepolitik pro Mittelstand.
Wir werden also weiterhin an dem Abbau von schwerwiegenden Wettbewerbsnachteilen mit dem Ziel eines Level Playing Field, d.h. gleicher Bedingungen für alle, arbeiten müssen. Denn durch den Abbau von Bürokratie in Europa und als Folge Reduzierung der Herstellkosten insgesamt kann der Mittelstand im Wettbewerb wieder aufholen.
Die Globalisierung wird sich nicht umkehren lassen. Wie muss der Mittelstand darauf reagieren?
Dr. H. Sieger: Widerstand gegen die Globalisierung ist doch schon längst kein Thema mehr! Ganz im Gegenteil: Wer die Globalisierung nicht als Herausforderung annimmt und die positiven Wirkungen nicht nutzt, verpasst den Anschluss und nimmt die sich bietenden Chancen nicht wahr. Allerdings stelle ich immer noch fest, dass den Bürgern in Europa das Verständnis für die globalen Zusammenhänge nicht wirklich ausreichend erklärt und vermittelt worden ist. Hier gibt es nach wie vor erheblichen Nachholbedarf, genauso wie man die Bürger immer wieder darüber aufklären muss, wer ihren Wohlstand eigentlich garantiert und die Zukunft auch der kommenden Generationen sicherstellt. Das kann sicher nicht die zeitweilig postulierte Dienstleistungsgesellschaft alleine. Dies hat schon früh der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder erkannt, der sagte: „Wir können nicht davon leben, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden".
Was ist zu tun? Mittlerweile sollte der Mittelstand es geschafft haben, nicht mehr nur zu reagieren, sondern mit allen Kräften zu agieren, um die Vorteile der internationalen Ausrichtung und von intelligenten Netzwerken voll zu nutzen.
Indem die eigenen Stärken, Effektivität und Flexibilität, fortwährend verbessert werden, kann man dem Wettbewerb immer eine Nasenlänge voraus sein. Obwohl die EU der wichtigste Absatzmarkt für den Mittelstand ist sollten die Unternehmen, die entsprechende finanzielle Mittel und die personellen Ressourcen aufbringen können trotz aller Schwierigkeiten und damit verbundener Risiken den Schritt in neue Märkte wagen. Auch wenn nicht über die Mittel der Großindustrie verfügt werden kann, sollten sich kleinere Investitionen in eigene Niederlassungen, Kooperationen oder Übernahmen realisieren lassen. Hier geht es nur untergeordnet um mögliche Kostenvorteile in den Schwellenländern aufgrund geringerer Personalkosten und vorerst geringerer Regulierungsdichte. Es geht vielmehr darum, die sich bietenden Chancen der Internationalisierung direkt dort zu nutzen, wo sich die neuen Märkte mit höheren Zuwachsraten entwickeln, und an den globalen Megatrends überdurchschnittlich zu partizipieren.
Im Übrigen nimmt die Debatte über TTIP teilweise schon kabarettistische Züge an. Man verbeißt sich sozusagen an den Chlorhühnchen und der Zukunft des Schwarzwälder Schinkens. Wieder wurde und wird es versäumt die Bürger umfassend aufzuklären, ihnen die Angst vor dem Untergang des Abendlandes zu nehmen und ihnen die überwiegenden Vorteile zu vermitteln.
Werden wir eine weitere De-Industrialisierung großer Teile Europas hinnehmen müssen oder sehen Sie Chancen für eine Re-Industrialisierung?
Wo viel Schatten ist, da ist auch viel Licht, um einmal den bekannten Spruch umzukehren. Trotz der bestehenden weltweiten Krisenszenarien, der Konflikte im Osten Europas und der Instabilität im Nahen Osten bin ich mit vielen Kollegen der Überzeugung, dass die wirtschaftlichen Aussichten nicht zuletzt auch durch den niedrigen Ölpreis und den hohen Dollarkurs in den kommenden Jahren als gut zu bezeichnen sind. Wenn seit einiger Zeit bereits hochrangige Politiker in den verschiedenen EU Ländern, aber auch in der EU-Kommission und im -Parlament von Re-Industrialisierung sprechen, dann impliziert das zwar, dass es wohl eine De-Industrialisierung gegeben hat, lässt aber auf eine Kehrtwende hoffen.
Der auf dem G-20-Treffen beschlossene „zwei Billionen Dollar-Plan" soll der Weltwirtschaft einen kräftigen Wachstumsschub und Millionen neuer Arbeitsplätze bescheren. Das klingt hervorragend und es muss alles unternommen werden, dass dieser Wachstumsschub mit 900 beschlossenen Maßnahmen wie Investitionen in Infrastruktur, Finanzmarktreformen und mehr Freihandel auch in Europa, und dort auch beim Mittelstand, ankommt.
Wachstumschancen und ein zusätzliches außerordentliches Wertschöpfungspotential können zudem durch den mit „Industrie 4.0" oder Digitalisierung bezeichneten Strukturwandel der industriellen Produktion generiert werden. Hiervon kann der Mittelstand besonders profitieren, da durch die Nutzung neuer Technologien eher der Trend zu dezentralem Arbeiten in weniger großen Produktionseinheiten gesehen wird.
Der Begriff Industrie 4.0 beschreibt im Grunde die besondere Stärke z.B. der Feinchemie und des Mittelstandes, nämlich intelligent und flexibel auf die wechselnden und stetig steigenden Anforderungen des Marktes in möglichst modularen Produktionseinheiten zu agieren. In dem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass immer mehr Mittelständler Social Media, sprich z.B. facebook, für die Kontakte zum Kunden nutzen und so die Digitale Zukunft bereits leben.
Eine Re-Industrialisierung sollte mit den bereits angesprochenen Programmen und Maßnahmen wie Horizon 2020, G-20-Zwei-Billionen-Dollar-Plan, dem milliardenschweren EU-Investitionsprogramm und der erfolgreichen Durchsetzung von TTIP gelingen.
Wenn außerdem die Überregulierung eingedämmt wird und durch Aufklärung eine allgemeine Wirtschaftsfeindlichkeit beseitigt werden kann, dann sollte ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftraum Europa realisierbar sein.
Eines ist aber wohl allen Beteiligten längst klar, die Re-Industrialisierung Europas kann sich nicht ausschließlich auf staatliche Programme stützen. Privatwirtschaftliche Eigeninitiative und selbstverantwortliches unternehmerisches Handeln, eine besondere Stärke des Mittelstands, führt letztlich zum Erfolg, d.h. zu einem wirtschaftlich florierenden Europa.
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