Raus aus den Silos – Chemie und Kirche im Gespräch
VCI und Institut für Kirche und Gesellschaft: Nachhaltige Entwicklungen erfordern neue Bündnisse
Herausfordernde Ziele erfordern ungewöhnliche Bündnisse. Nur durch einen konstruktiven Dialog zwischen Gesellschaft und Industrie werden sich die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen umsetzen lassen. Pfarrer Klaus Breyer, Leiter des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen, und Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), diskutierten in diesem Kontext über nachhaltige Entwicklung am Beispiel des Klimaschutzes und mögliche Beiträge der chemischen Industrie. Das Gespräch moderierte Andrea Gruß.
CHEManager: Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie?
K. Breyer: Nachhaltigkeit ist ein zentrales Leitbild der Kirche. Sie ist eine Antwort auf die alle Menschen bewegende Frage: Wie können wir heute und in Zukunft menschenwürdig leben und arbeiten und dabei unsere Lebensgrundlagen dauerhaft schützen?
Nachhaltigkeit ist nicht statisch. Sie ist ein Prozess. Deshalb bevorzuge ich auch den Begriff der nachhaltigen Entwicklung. Diese muss innerhalb der planetaren Grenzen geschehen. Außerhalb dieser Systemgrenzen können wir soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung nicht vorantreiben. Was wir jedoch zurzeit erleben, ist ein systematisches Überschreiten der planetaren Grenzen vor allem im Bereich des Klimaschutzes und der Biodiversität.
U. Tillmann: Für die Chemieindustrie ist Nachhaltigkeit ein übergeordnetes Thema, das über allen anderen Themen steht. Da industrielle Produktion stark in ökologische Prozesse eingebunden ist, zum Beispiel weil sie Abwasser und Emissionen erzeugt, haben wir uns schon früh im Rahmen der Responsible-Care-Initiative mit Umweltthemen befasst. Das ist jedoch nur ein Aspekt. Gleichzeitig versuchen wir auch zu messen und zu bewerten, welche ökonomischen Qualitäten und welche sozialen Aktivitäten unsere Produktion und unsere Produkte bewirken. Denn die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Ökonomie, Ökologie und Soziales – bedingen sich nach unserem Verständnis gegenseitig und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.
K. Breyer: Ich stimme Ihnen zu. Doch zwischen der ökologischen, der sozialen und der wirtschaftlichen Dimension der Nachhaltigkeit gibt es oft große Widersprüche, die mit einem Blick auf das große Ganze aufgelöst werden müssen, was nicht immer spontan gelingt. Hier kann die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit helfen. Nachhaltige Entwicklung muss über Beteiligungsprozesse, soziale Integration und kulturelle Einbindungen von allen mitentwickelt und getragen werden, damit sie funktioniert. Das heißt, raus aus den Silos, hinein in Beteiligungsprozesse. Nachhaltigkeitsstrategien sollten mit zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Beteiligung von einer breiten Palette an Stakeholdern entwickelt und dann umgesetzt werden.
U. Tillmann: Genau hier setzen wir mit unserer Nachhaltigkeitsinitiative Chemie3 an. Gemeinsam mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie, der Gewerkschaft IG BCE und dem Wirtschaftsverband VCI haben wir im Jahr 2013 ein Bündnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus der Taufe gehoben, das zum einen das Bewusstsein für Nachhaltigkeit innerhalb der Branche weiter stärken soll und zum anderen den Dialog mit Stakeholdern außerhalb der Chemie sucht.
„Eine Gesellschaft funktioniert nicht wie eine chemische Formel.“ Pfarrer Klaus Breyer, Institut für Kirche und Gesellschaft
Welchen Beitrag kann die Chemiebranche zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen leisten?
K. Breyer: Die Chemieindustrie wird große Beiträge zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele leisten können. Wichtig ist, dass die Branche nachhaltige Entwicklung ganzheitlich betrachtet. Die UN-Ziele stehen in einem engen Bedingungsgeflecht. Armuts- und Hungerbekämpfung müssen beispielsweise so gestaltet werden, dass gleichzeitig auch die natürlichen Lebensgrundlagen, das heißt das Klima und die Biodiversität, geschützt werden. Eine an die klimatischen, kulturellen und sozialen Bedingungen sehr gut angepasste Landwirtschaft muss erhalten bleiben und gefördert werden. Hier sehe ich dringenden Diskussionsbedarf im Bereich der Saatgutproduktion und der Agrochemie.
U. Tillmann: Die Chemieindustrie prüft über ihre gesamte Produktpalette, wo sie zu Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele beitragen kann. Sie trägt mit ihren Produkten zu weniger Hunger, mehr Gesundheit und wirksameren Klimaschutz bei. Indirekt unterstützt sie aber auch andere Ziele. Das Engagement der Branche in China hat zum Beispiel dazu beigetragen, die Armut der Bauern dort zu reduzieren. Und auch zur Demokratisierung leisten wir einen indirekten Beitrag: Dort wo Menschen genügend zu essen haben, finden ganz andere politische Beteiligungsprozesse statt als in Ländern, in denen jeder um sein Überleben kämpft.
Nach einer aktuellen VCI-Studie ist zirkuläre Wirtschaft ein wesentlicher Treiber für mehr Nachhaltigkeit. Wie bewerten Sie den Beitrag der zirkulären Wirtschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung, Herr Breyer?
K. Breyer: In Bezug auf zirkuläre Wirtschaft sind wir sehr offen und dialogbereit. Wir sehen aber auch das Problem der Massenströme. Woher kommen die großen Mengen an nachwachsenden Rohstoffen für die wachsenden bioökonomischen Märkte? Wir kennen schwerwiegende Landnutzungskonflikte und die gefährliche Konkurrenz zwischen „food, feed, fibre and fuel“. Ich habe persönlich in Indonesien die Folgen der Vertreibung von Menschen für die Einrichtung von Palmölplantagen erlebt. In diesen Gebieten, in denen früher kleinteilige Landwirtschaft und Regenwald existierten, herrscht heute Armut. Die Rodungen verstärken den Klimawandel massiv. Wir erleben dort das Gegenteil von Biodiversität.
U. Tillmann: Deshalb gibt es seit 2011 einen Round Table of Sustainable Palm Oil, der Palmöl zertifiziert, das nach festgelegten Mindeststandards hergestellt wurde. Was bei der Diskussion dieser Themen oft vergessen wird: Es gibt auch eine zeitliche Komponente der Nachhaltigkeit. Wenn man einen Prozess startet, können Effekte auftreten, die negativ sind. Hier muss man der Industrie zubilligen, aus Fehlentwicklungen zu lernen und Veränderungsprozesse einzuleiten. Diese Veränderungen brauchen Zeit. Nicht alles lässt sich von jetzt auf gleich umsetzen.
K. Breyer: Das ist nicht mein Anspruch. Doch die Zeit drängt und das Leiden der Menschen sowie die Umweltzerstörung sind groß! Wir nehmen wahr, dass einzelne Chemieunternehmen die Probleme mit der Biomassegewinnung lösen möchten und strengere ökologische und soziale Standards in der Palmölproduktion einfordern. Doch es bedarf hier noch mehr Anstrengungen auch durch weitere Unternehmen. Aber letztendlich haben freiwillige Zertifizierungen immer nur eine begrenzte Wirkung.
Sie erwähnten beide die Rolle der Chemie für den Klimaschutz. Ein zentrales Mittel zum Klimaschutz ist die Dekarbonisierung, das heißt, die Abkehr der Industrie von fossilen Energieträgern und Rohstoffen. Herr Tillmann, wie stehen Sie hierzu?
U. Tillmann: Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Treibhausgasneutralität und nicht von Dekarbonisierung. Unsere Produkte bestehen aus kohlenstoffhaltigen Verbindungen, deren C-Atom sich nicht einfach ersetzen lässt. Und wie in der gesamten Umwelt sind auch beim Menschen solche Verbindungen die Basis aller biologischen Prozesse. Leben auf diesem Planeten ist nur mit Kohlenstoff möglich. Wir haben das Thema durchgerechnet: Wenn die deutsche Chemieindustrie völlig auf fossile Rohstoffe verzichten und ausschließlich Kohlendioxid, Wasserstoff und Energie als Rohstoffe nutzen würde, hätte sie einen Strombedarf von mindestens 650 TWh, was in etwa der gesamtem Bruttostromerzeugung in Deutschland entspricht. Das ist weder wirtschaftlich noch energiepolitisch sinnvoll. Deshalb müssen wir einen anderen Weg suchen, um treibhausgasneutral zu werden.
Wir diskutieren derzeit in Stakeholder-Veranstaltungen, wie dieser Weg aussehen könnte. Dabei beobachte ich, dass unterschiedliche Anspruchsgruppen, völlig unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was Dekarbonisierung bedeutet und welche Lösungsmöglichkeiten es dafür gibt, wie lange es dauert, diese zu etablieren und was dies für den Rest der Gesellschaft bedeutet. Hier müssen wir unsere Gesprächspartner zunächst abholen.
Eine mögliche Technologie, um Kohlendioxid zu reduzieren und dennoch fossile Rohstoffe weiter zu nutzen, ist Carbon Capture and Storage, kurz CCS. Bei Nutzung dieser Technologie könnte man Kohlendioxid sogar als Kohlenstoffquelle nutzen. Doch zu CCS gibt es einen gesellschaftlichen Dissens.
K. Breyer: CCS ist ein Pfad, der wenig Perspektive hat. Es wird zu großen Volumenströmen kommen und es sind wahrscheinlich nicht genügend Lagerstätten vorhanden. Außerdem gibt es schwerwiegende Sicherheitsbedenken. Die Bevölkerung möchte es nicht. Sie werden CCS gegen den kulturellen und sozialen Kontext nicht durchsetzen können, deshalb sollte man es auch erst gar nicht anpacken.
Um die Dekarbonisierung voranzutreiben, müssen wir unseren hohen Durchsatz an Stoffen und den damit verbundenen Energieverbrauch verringern. Klimaschutz-Szenarien gehen davon aus, dass wir die Dekarbonisierung in Deutschland nur umsetzen können, wenn wir unseren Energieverbrauch bis 2050 halbieren. Dann könnten wir auch in der Chemieproduktion über das Jahr 2050 hinaus noch fossile Rohstoffe verwenden. Aber die „Luft“ dafür müssen wir uns erst einmal verschaffen, zum Beispiel durch eine Verkehrswende oder Anstrengungen bei der Wärmedämmung im Gebäudebereich. Hier kann und wird die chemische Industrie sehr hilfreich sein.
„Wenn die deutsche Chemieindustrie völlig auf fossile Rohstoffe verzichten würde, hätte sie einen Strombedarf von mindestens 650 TWh.“ Utz Tillmann, Verband der Chemischen Industrie
Was kann die Chemieindustrie darüber hinaus zur Energiewende beitragen?
U. Tillmann: Wir haben eine Reihe an innovativen Ideen, die sich aber zurzeit noch nicht wirtschaftlich umsetzen lassen. So prüfen wir zum Beispiel, wie wir durch Technologien Power-to-Chemical oder Power-to-X Überschussstrom aus Windkraftanlagen zu Wasserstoff umsetzen können, der dann in chemische Prozesse einfließt oder wieder zur Stromerzeugung dient. Die Technologie erfordert jedoch hohe Investitionen in Elektrolyseanlagen und ist bislang nicht wirtschaftlich. Der so produzierte Wasserstoff ist um den Faktor acht bis zehn teurer.
K. Breyer: „Power to Chem“ ist ein interessanter Weg, um nicht vermeidbare Kohlendioxid-Emissionen aus fossilen Quellen für chemische Prozesse zu nutzen. Jedoch muss sorgsam bedacht werden, ob die dabei entstehenden Produkte im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung sind und nicht neue Probleme schaffen. Überschüssigen regenerativen Strom für Elektrolyse zu nutzen, ist eine interessante Option. Große Teile der Umweltbewegung und auch die Kirchen halten wenig davon ineffiziente Braunkohlekraftwerke als Sicherheitsreserve am Netz zu halten. Das kostet viel Geld. Neue Bündnisse zwischen Stakeholdern könnten bewirken, dass dieses Geld künftig in eine andere Richtung, zum Beispiel in Maßnahmen einer innovativen Flex Efficiency fließt, und auch dazu beitragen kann, die Investitionen der Chemieindustrie abzusichern.
Wie sollte sich der Dialog zwischen diesen Stakeholdern gestalten?
K. Breyer: Ganz wesentlich ist ein konstruktiver, ergebnisoffener Dialog. Zudem muss man möglichst eine gemeinsame Sprache und Haltung finden, um sich zu verständigen. Herr Tillmann sagte eben: Die Chemie müsse ihre Gesprächspartner zunächst „abholen“. Das drückt aus meiner Sicht eine Asymmetrie aus. Sicherlich bringt die Chemieindustrie ein hohes Fachwissen ein. Dieses gilt es, mit der Expertise der Zivilgesellschaft in Verbindung zu bringen und unter dem Aspekt der kulturellen und sozialen Einbettung zu diskutieren. Denn eine Gesellschaft funktioniert nicht wie eine chemische Formel. Das Mitnehmen gilt für beide Seiten.
U. Tillmann: Wir sind offen für diese Art des Dialogs. Wichtig ist uns dabei, dass drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – die ökologische, die soziale und die ökonomische Dimension – diskutiert werden. Oft stehen ökologische Diskussionen im Vordergrund. Wir müssen aber auch darüber sprechen, wie nachhaltige Entwicklung ökonomisch funktioniert beziehungsweise ob eine Lösung wirtschaftlich ist. Das wird aus meiner Sicht von einigen Stakeholdern übersehen.