Niedriglohnländer - Chancen und Risiken der Produktionsverlagerung in der Pharmaindustrie
23.05.2012 -
Niedriglohnländer - Chancen und Risiken der Produktionsverlagerung in der Pharmaindustrie
Anders als beispielsweise die Textil- oder Elektronikbranche zeigt sich die Pharmaindustrie bislang eher zögerlich bei der Verlagerung von Produktionsstätten für die Fertigung von pharmazeutischen Endprodukten in Niedriglohnländer. Dabei ist die pharmazeutische Produktion von den Rahmenbedingungen her genauso wie die Textil- und Elektronikindustrie von einer Verlagerung bedroht, machen doch Personalkosten bis zur Hälfte der Gesamtkosten aus und fallen Transportmengen und -kosten im Verhältnis zum Wert der Produktion nicht ins Gewicht. Darüber hinaus werden heute bereits chemische Wirkstoffe für die Pharmaindustrie von Lohnherstellern zu deutlich niedrigeren Preisen – bis zu 30 bis 40 % unter westlichem Preisniveau – bezogen.
Bei vielen Pharmaunternehmen liegt der Anteil der Wertschöpfung in der pharmazeutischen Produktion, der aus Niedriglohnländern stammt, bei weniger als 10 %. Und selbst diese Zahl ist zu relativieren, da sie in der Regel die lokale Produktion der Produkte beinhaltet, die in strikt regulierten Märkten, wie zum Beispiel in China, im Land verkauft werden. Insgesamt galt für die Pharmaindustrie bislang: Die Produktion in Markt- und damit Verbrauchernähe rechnet sich für die Unternehmen am ehesten, wohingegen Probleme im Hinblick auf Supply Chain und Logistik, regulatorische Hürden und Patentschutz eine Verlagerung in Niedriglohnländer trotz der bis zu 80 % niedrigeren Lohnkosten wenig attraktiv erscheinen ließen.
Einer aktuellen Studie der Managementberatung A.T. Kearney zufolge kann eine Verlagerung jedoch durchaus sinnvoll sein – wenn sie in eine entsprechende Produktionsstrategie eingebettet ist und langfristig geplant wird. Gerade Standorte mit hoher strategischer Bedeutung, zum Beispiel solche, die zur Markteinführung und -entwicklung neuer Produkte genutzt werden, sind aufgrund der Nähe zu Forschungs- und Entwicklungsstandorten in den entwickelten Hochlohnländern in der Regel besser aufgehoben. Dagegen können Standorte zur Herstellung von Nachahmer und Volumenprodukten in Niedriglohnländern durchaus sinnvoll sein. Trotzdem lohnt sich eine Verlagerung von Hoch- in Niedriglohnstandorte aufgrund der hohen Kapitalintensität der Produktion in der Regel kurz- bis mittelfristig nur dann, wenn erhebliche Neuinvestitionen an den bestehenden Standorten anstehen oder bestehende freie Kapazitäten – insbesondere bei Lohnherstellern in Indien, die in die letzten Jahren stark investiert haben – genutzt werden können.
Da aber inzwischen auch die Absatzmärkte in Niedriglohnländern wie China zunehmend größer und damit interessanter werden, dient eine Verlagerung der Produktion in diese Länder dazu, eine zusätzliche Marktnähe zu erhalten bzw. den Marktzugang zu gewährleisten und sich in den Wachstumsregionen strategisch zu positionieren.
Einbindung in Produktstrategie
In jedem Fall ist die Einbettung einer Verlagerungsentscheidung in die Gesamtstrategie des jeweiligen Unternehmens sowie seine Einordnung im Hinblick auf die aktuelle und künftige Produktentwicklungspipeline notwendig. Dazu gehört sowohl eine klare Segmentierung der existierenden Produktionsstandorte bezüglich ihres Wertes für das Geschäft und ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Mit Hilfe dieser so genannten „Lean Asset Structuring“- Methode kann eine adäquate Investmentstrategie für das Produktionsnetzwerk bestimmt werden. Durch die Einbettung der Verlagerungsentscheidung in die langfristige Investitionsstrategie können Chancen frühzeitig erkannt und zum richtigen Zeitpunkt genutzt werden.
Eine Verlagerung in Niedriglohnländer mit sich entwickelnden Märkten kann für Pharmaunternehmen also durchaus attraktiv sein – wenn die genannten Bedingungen erfüllt sind. Insgesamt empfiehlt sich in der Regel eine schrittweise Weiterentwicklung des bestehenden Netzwerks anstelle einer rigorosen Verlagerung aus den Heimatstandorten. Mit einer kurzfristigen Welle von Produktionsverlagerungen ist somit nicht zu rechnen. Aus Sicht von A.T. Kearney ist innerhalb der nächsten 10 Jahre aber bereits mindestens mit einer Verdoppelung des Anteils der pharmazeutischen Produktion in Niedriglohnländern zu rechnen.
Innovationen notwendig
Für Deutschland als einem der bedeutenden internationalen Standorte für die pharmazeutische Produktion sind im Wesentlichen zwei Dinge zu beachten. Für die forschenden Pharmaunternehmen in Deutschland gilt es, neue und innovative Produkte auf den Markt bringen, um so die hiesigen Produktionskapazitäten mit neuen Produkten zu füllen. Hier ist in den letzten Jahren eine hoher Nachholbedarf entstanden: Dazu zählt zum einen die immer aufwändiger werdende Erforschung und Zulassung neuer Medikamente, die sich in einer sinkenden Zahl neuer Arzneimittelzulassungen niederschlägt. Zum anderen hat es die Politik in den letzten Jahren versäumt, den Pharmastandort Deutschland durch entsprechende Anreize wie zum Beispiel die Berücksichtigung von Forschungs- und Entwicklungskosten sowie lokaler Investitionen bei der Preisfindung weiter zu stärken. Außerdem müssen die deutschen pharmazeutischen Fabriken ihre „Hausaufgaben“ machen und zu schlanken, wettbewerbsfähigen Fabriken werden, um so gegenüber den Niedriglohnländern ihre Wettbewerbsnachteile bei den Lohnkosten zu minimieren. Die Erfahrung von A.T. Kearney zeigt, dass hier zurzeit noch erhebliche Effizienzsteigerungspotentiale von bis zu 25 % der Fertigungskosten nicht oder nur teilweise genutzt werden.
Deutschland als Pharmastandort hat die Chance, auch in der Zukunft weiterhin eine schlagkräftige Pharmaproduktion im Lande halten – diese Chance kann genutzt, aber auch verspielt werden.