Modularisierung und Containerbauweise
Time-to-Market in der Feinchemie kann um 50% reduziert werden
Die chemische Industrie in Deutschland steht aktuell vor vielen Herausforderungen der Globalisierung und des sich ändernden Kundenverhaltens. Immer mehr Firmen generieren ihren Hauptumsatz mit Produkten der Fein- und Spezialitätenchemie, die durch schnelle Marktbelieferung, hohe Qualitätsanforderungen und kleinere, aber häufig wechselnde Produktmengen gekennzeichnet sind. Als Antwort darauf muss der Entwicklungsprozess für chemische Verfahren stark beschleunigt werden und die Kleinmengenproduktion vereinfacht werden.
Kleine Mengen in kontinuierlich betriebenen Anlagen zu produzieren bedeutet, die Anlage und Apparate zu miniaturisieren und sie mit hohem Automatisierungsgrad zu betreiben. Modulare Komponenten mit abgestimmten Durchsatz- und Prozessparameterbereich erleichtern dabei wesentlich die Entwicklungstätigkeit für neue Herstellprozesse. Ein Modul besteht dabei nicht nur aus sinnvoll kombinierten Komponenten, sondern auch aus den zugehörigen Planungsunterlagen sowie Informationen aus den verschiedenen Entwicklungsschritten, aus der Fertigung und aus dem Betrieb.
Modularität und Concurrent Engineering
Der modulare Aufbau von kontinuierlichen Forschungs- und Produktionsanlagen erlaubt eine simultane Prozessentwicklung (Concurrent Engineering) mit der Verbindung von Laborentwicklung und Basic Engineering. Im Labor können bereits viele Informationen für das Detail Engineering gewonnen werden, die herkömmlich durch aufwändige Pilotierung erreicht werden. Industrielle Mess- und Automatisierungstechnik kommt schon im Labor beim Aufbau und Betrieb der kontinuierlichen Anlagen zum Einsatz. Die Apparate wie Pumpen, Sensoren, Reaktoren oder Wärmeaustauscher können flexibel zu unterschiedlichen Anlagen zusammengestellt werden und sind mehrfach verwendbar. Mit den modularen Apparaten sind auch die zugehörigen Planungsunterlagen und Informationen zur Herstellung, Wartung und Reparatur wichtig, damit der gesamte Lebenszyklus des Apparats und der Anlage erfasst wird. Zugehörige Softwaretools werden noch benötigt, wie auch viele Geräte aus der Anlagenperipheriegeräte und der Aufarbeitungstechnik.
Time to Market reduzieren
Die „50 %-Idee" will die Zeit bis zum Markteintritt eines neuen Produktes um die Hälfte reduzieren - sie war ein wichtiger Impulsgeber für die Entwicklung modularer Anlagen, bei der besonders die Verfahrenstechniker angesprochen waren. Durch die Modularisierung von Anlagen kann der Entwicklungsprozess für chemische Verfahren stark beschleunigt und die Kleinmengenproduktion vereinfacht werden.
Die Herausforderung für viele Komponenten aus dem konventionellen Einsatz liegt besonders in ihrem Platzbedarf. Der intensivierte Prozess und die Tatsache, dass Container- und Modulgröße vorgegeben sind, erfordern komprimierte Technik. Hier muss nach platzsparenden Lösungen in allen Bereichen von der Apparate- und Rohrleitungstechnik, der Elektro-, Mess- und Regelungstechnik sowie auch der Logistik gesucht werden.
Dazu sind Forschungsprojekte im nationalen wie auch im europäischen Bereich tätig. Es wurden aber auch Komponenten und Systeme durch unternehmerische Tätigkeit entwickelt, wie z.B. der Lonza FlowPlate Reaktor, der jetzt im Portfolio der Ehrfeld Mikrotechnik BTS erhältlich ist.
Minifabrik für Elektronikchemikalie
Diese modularen Anlagen werden häufig im Labor entwickelt und zur ersten Produktion in eine Containerumgebung gebracht. So ist bei Evonik der „Evotrainer", entstanden aus dem europäischen Forschungsprojekt Copiride, längst erfolgreich im Einsatz. Dieser 40‘-Container mit 12 m Länge enthält alles, was für die Produktion benötigt wird. Dazu gehören Reaktoren, Prozessleittechnik, IT-Module, Lagerfläche für die Einsatzstoffe, Elemente für konstruktiven Brandschutz, Fluchttüren und Auffangwannen nach dem Wasserhaushaltsgesetz. Viele Komponenten sind vorgefertigt und können für weitere Projekte wieder verwendet oder mit geringem Aufwand angepasst werden.
Genutzt wurde die Minifabrik unter anderem zur Entwicklung einer Elektronikchemikalie. Da in dieser Branche die Auftragsvergabe an ein Musterprodukt gekoppelt ist, wurde die Chemikalie in mehreren Containern parallel entwickelt. Evonik konnte mit dem Produkt zwei Jahre früher in den Markt, als es mit herkömmlichen Entwicklungsverfahren möglich gewesen wäre. Der Evotrainer wurde in Hanau entwickelt und getestet und anschließend, dank Standardaußenmaßen mit geringem Logistikaufwand, nach Rheinfelden transportiert, wo er vor Ort produziert.
Fast Flexible Future Factory
Im europäischen Forschungsprojekt F3 (Fast Flexible Future) Factory kommen Theorie und Praxis zusammen. Die Forscherinnen und Forscher erproben derzeit das Containerformat, wozu die Invite, Leverkusen, ein Forschungs- und Demonstrationszentrum aufgebaut hat. Als Public-Private-Partnership bietet das Joint Venture der TU Dortmund und der Bayer Technology Services BTS eine einzigartige Infrastruktur als Entwicklungsumgebung für modulare, flexible und kontinuierliche Produktionsanlagen im Containerformat.
Die Herausforderungen liegen aber nicht nur auf der technischen Seite, sondern auch auf der organisatorischen. So wird man sich von der klassischen Vorgehensweise bei der Planung lösen müssen. Weitere offene Fragen betreffen den Know-how-Schutz durch die Einbindung externer Firmen, angemessene Maßnahmen bei der Integration von Modulen nicht auditierter Lieferanten sowie das Schutzbedürfnis der Modulhersteller.
Trotz aller Bedenken: Chemische Anlagen in Containerbauweise haben insbesondere in der Fein- und Spezialchemie großes Potenzial. Zwar erwartet niemand, dass diese Anlagenart große Batchanlagen für Commodities ersetzt, aber die jetzigen Prototypen eines modularen Produktionskonzeptes haben in jedem Fall bewiesen, dass sich mit diesen Konzepten das Time-to-Market erfolgreich beschleunigen kann.
Dieser Artikel fasst einen Vortrag zusammen, der am 09.11.2012 auf der NAMUR-Hauptsitzung gehalten wurde. Eine ausführliche Präsentation dieses Vortrages erscheint in der atp edition.
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