Moderne Glasproduktion: Spezialgläser für die Gesundheitsbranche
20.01.2017 -
Der Düsseldorfer Verpackungs- und Systemspezialist Gerresheimer hat mit seinem Ausbau des Pharma-Portfolios einen deutlichen Auftrieb erfahren. Mit Primärverpackungen und Systemen aus Spezialglas und Kunststoff für die Pharma- und Kosmetikindustrie kann sich der Konzern im weltweit schwachen Konjunkturumfeld gut behaupten.
Glas zeichnet sich durch hohe chemische Stabilität und Beständigkeit gegen Korrosion aus. Diese Eigenschaften spielen eine Rolle, wenn gerade in Glasbehältern, die leicht zerbrechlich sind, Säuren und toxische Medikamente aufbewahrt werden. Denn Glas ist innert, der Inhalt greift das Material nicht an und reagiert nicht mit ihm.
Glasarten für die pharmazeutische Verwendung werden in verschiedene hydrolytische Klassen unterteilt. Die Einteilung basiert auf ihrer Resistenz, d.h. der Herauslösbarkeit basischer Bestandteile aus dem Glas. Die höchste hydrolytische Resistenz weist neutrales Borosilikatglas, ein Typ I-Glas, auf. Es ist sehr beständig gegenüber sauren, neutralen und alkalischen Lösungen und sehr stabil gegenüber Temperaturschocks. Typ III-Glas ist typischerweise ein Kalk-Natron-Glas, dessen Innenoberfläche über eine besondere Behandlung im heissen Zustand zu Glas Typ II weiterveredelt werden kann.
Die Gerresheimer Gruppe erwirtschaftete 2015 an ihren Standorten in Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien einen Umsatz von rund 1,4 Mrd. € und beschäftigt rd. 10.000 Mitarbeiter. Das Behälterglas-Sortiment umfasst alle pharmazeutisch relevanten Glasklassen, wobei sowohl Borosilikatglas des Typs I als auch Natronkalk-Silicatgläser der Typen II und III zum Einsatz kommen. Als Ergänzung zu den Produkten aus Braun- und Klarglas werden farbige Pharmagläser sowie blickdichtes Opalglas produziert. Im Programm sind alle gängigen Mündungsformen und Volumina von 2– 4.000 ml. Das Angebot aus Röhrenglas-Fläschchen umfasst Klar- und Braunglas-Fläschchen der Glastypen I, II und III in Größen von 0,6 –100 ml.
Während man sich bei Gerresheimer im letzten Jahr von der eigenen Produktion von Glasröhren verabschiedete, freut man sich über die Integration des Pharma-Verpackungsspezialisten Centor. Centor ist Hersteller von Kunststoffverpackungen für verschreibungspflichtige Medikamente im amerikanischen Markt. Das Unternehmen in Perrysburg, Ohio, wurde 2015 von der Gerresheimer Gruppe übernommen und ergänzt das Produktspektrum von Gerresheimer im Medizinalbereich. Das Produktportfolio umfasst Vials und Verschlusssysteme sowie Flaschen aus Recyclingmaterial, Applikatoren, Dropper, Behälter für Salben und weitere Produkte. Centor beliefert landesweite und regionale Apothekenketten, Supermärkte und Grosshändler.
Primärverpackungen aus Glas
Behälter aus Glas und Kunststoff gehören als Primärverpackungen für feste wie flüssige Medikamente zu den gebräuchlichsten und weltweit am häufigsten genutzten Verpackungslösungen in der pharmazeutischen Industrie. In beiden Bereichen zählt Gerresheimer zu den Spezialisten. Das Unternehmen führte in diesem Jahr einem international zusammengesetzten Presse-Publikum seine Produktionsstandorte in Lohr und Wertheim für Pharmaverpackungen aus Glas vor. Das Programm war dicht gefüllt mit Expertenvorträgen.
Begrüsst wurden die Journalisten vom Gerresheimer Group Senior Director Communication & Marketing Jens Kürten. Er führte mit seinem Einführungsvortrag durch die Geschichte des Unternehmens, das vor zwei Jahren sein 150. Jubiläum feierte: 1864 gründete Ferdinand Heye mit 12 Bläsern die Gerresheimer Glashütte im heutigen Düsseldorf-Gerresheim. Die Entwicklung des Unternehmens erstreckt sich von Bier- und Wasserflaschen bis hin zu Flaschen für die Pharmaindustrie. Heute produziert Gerresheimer kleine Glaswaren auf Hochqualitäts- und technologischer Basis vor allem für die Pharma- und die Kosmetikbranche. Die 1889 gegründeten Spessarter Hohlglaswerke, in der heute 375 Mitarbeiter Behälterglas produzieren, wurden 1971 Teil der Gerresheimer Gruppe. Die Produktionsleistung der Lohrer Glashütte hat sich seitdem auf 150 000 Tonnen Gläser pro Jahr verdoppelt.
Die ehemalige Firma Fritz in Wertheim, Spezialist für hochwertige Gläser, die seit 1957 bestand, gehört seit 1989 zum Unternehmen und beschäftigt 140 Mitarbeiter.
Sichere Spezialartikel für den Pharma- und Kosmetikmarkt
Frank Egert, Vice President Sales Pharma & Food Moulded Glass Europe bei Gerresheimer Lohr, listete die Rahmenbedingungen auf, unter denen sich Gerresheimer aktuell am Pharmamarkt behauptet: Nur durch hohe Effizienz und höchste Qualitätsstandards kann der Standort Deutschland erhalten bleiben. In Lohr werden jährlich rd. 1 Mrd. Typ III-Glas in unterschiedlichsten Farben, Formen und Füllmengen gefertigt. Das reichhaltige Produktspektrum umfasst ca. 800 verschiedene Produkte für Pharmazeutika aus Behälterglas. Ein wichtiger Faktor ist auch der große Reinraum, der dafür sorgt, dass die Glasbehälter keimarm verpackt werden.
Bekannt ist Gerresheimer jedoch vor allem für die Flexibilität beim Wechseln der Produktlinien: Wenn das Umrüsten einer Individual Section (IS)-Maschine bzw. Glasmaschine für die unabhängige Produktion von Behältern vor einigen Jahren noch einen Tag dauerte, um auf ein neues Produkt zu wechseln, so ist dies heute innerhalb weniger Stunden möglich. „Unsere Bemühung ist es, nicht nur Produkte, sondern Lösungen für den Kunden anzubieten, und zwar zeitnah und flexibel“, referierte Egert. Bis heute liegt die besondere Stärke von Gerresheimer Lohr im Spezialartikelbereich. Besondere Formen für Produkte, die einen profilierenden, alleinstellenden Auftritt verlangen, oder auch Sondergrößen, ausgefallene, individuelle Farben und Gravuren: Die Lösung selbst komplexer Probleme und die enge Zusammenarbeit mit den Auftraggebern hat dem Werk langjährige Geschäftsbeziehungen verschafft.
Optimale Ergebnisse durch Simulierung des Formprozesses
Um die Entwicklungszeit für neue Produkte zu verkürzen, setzt Philipp Amrhein, Leiter der Produktentwicklung bei Gerresheimer in Lohr, auf eine neuartige Software zum Simulieren des Formprozesses. Damit lassen sich zeitaufwändige Testreihen mit der Glasform im Produktions- und Abfüllprozess vermeiden. Eine perfekt gleichmässige Glasverteilung ist für die Festigkeit entscheidend: Wie erreicht man diese homogene Glasverteilung? Welche Mindestwandstärke muss eingehalten werden, damit die Flasche, bzw. der Flakon, den mechanischen Anforderungen beim Abfüllen standhält? Die Software errechnet die Parameter und die Formen, die einen optimalen Fertigungsprozess begünstigen.
Werksführung in Lohr mit Geschäftsführer Andreas Kohl
Der Fokus der Führung durch Andreas Kohl richtete sich auf die Frage: Wie viel Hightech ist erforderlich, um ein Glasfläschchen so herzustellen, dass sich ein Medikament gut abfüllen und sicher aufbewahren lässt? In allen Bereichen des Werks wird auf Effizienz, speziell auf Energieeffizienz, geachtet.
Zwei regenerative Schmelzwannen sowie neun IS-Maschinen stehen für die Umformung zur Verfügung. Sieben Pharmalinien beliefern den zertifizierten Reinraum der ISO-Klasse 8.
Der eigentliche Formgebungsprozess beginnt mit einem einfachen Glastropfen. Um diesen Glastropfen zu erhalten, werden zunächst Quarzsand, Kalk und Soda gemischt und in einer Schmelzwanne bei ca. 1.500 °C eingeschmolzen, bis man eine flüssige, homogene Glasmasse erhält. Über ein komplexes Leitungs-Verteilersystem oberhalb der Formgebung wird das flüssige Glas von der Wanne in sog. Speisern oder Feedern zu den Produktionsmaschinen geleitet. Am Ende des Feeders wird das Glas in Portionen geschnitten. Anschließend werden die Glastropfen in einem zweistufigen Verfahren zum Fertigprodukt verarbeitet. Nach der Formgebung sind die Flaschen noch immer sehr heiß; sie haben eine Temperatur von ca. 450 °C. Um die Flaschen gleichmässig abzukühlen und Spannungen im Glas zu vermeiden, durchlaufen die Flaschen einen Entspannungsofen. Um die steigenden Anforderungen der Kunden zu erfüllen, erhalten einige Artikel eine Aussenbeschichtung die in zwei Stufen sowohl direkt nach der Fertigung im heißen Zustand als auch im abgekühlten Zustand für eine glatte Oberfläche sorgen.
Keimarm verpackt im Reinraum
Die Flaschen gelangen aus dem Heißformgebungsprozess steril in den Reinraum und werden dort unter der Atmosphäre des Reinraums inspiziert und verpackt. Schon vor 30 Jahren führten gestiegene Produktionsanforderungen und höhere Standards zur Installation des ersten Reinraums in Lohr. Damals war er einer der ersten in der Glasindustrie überhaupt. Er ist nach ISO-Klasse 8 gemäß ISO 14644-1 zertifiziert und entspricht damit den höchsten pharmazeutischen Anforderungen. Im Reinraum wird die Luft 35-mal pro Stunde automatisch ausgetauscht und durch modernste Hochleistungsfilter gereinigt. Am „Kalten Ende“ wird jeder einzelne Artikel vollautomatisch überprüft. Hier stellt eine Multi-Inspektionsanlage die Qualität der Produkte sicher. Jeder Artikel wird in Rotation versetzt und auf festigkeitsreduzierende sowie geometrische Merkmale untersucht. Modernste optische Kontrollsysteme machen bis zu 12 Bilder von jedem Artikel, die dann vom Computer analysiert werden. Im hygienischen Safe Pack unter Vakuum verpackt und hermetisch eingeschweißt, gelangen die pharmazeutischen Gläser kontaminationssicher zum Abfüller. Höchste Qualität ist in diesem Bereich oberstes Gebot. Die Behältnisse werden gemäß den Ansprüchen der Qualitätssysteme produziert und regelmäßig vom Kunden auditiert. Anhand dieser Audits werden die Produktionsabläufe kontinuierlich verbessert.
Werksführung in Wertheim
Nach einer Mittagspause stand eine Führung mit Werksleiter Lothar Haaf und Qualitätsdirektor Volker Rekowski am Standort Wertheim auf dem Programm. Hier werden aus Röhrenglas diverse Ampullenformen, etwa der geschlossene Ampullentyp, der offene C-Typ oder der gerade offene Typ, produziert. Entsprechend den unterschiedlichen Typen variiert auch das Handling der Ampullen beim Pharmahersteller. Dort werden z. B. die geschlossenen Ampullen aus Wertheim unter sterilen Bedingungen wieder geöffnet, der Wirkstoff eingefüllt und wieder verschlossen. Damit ist eine sterile Lieferkette garantiert. Die offen produzierten Ampullen dagegen müssen vor Gebrauch vom Kunden noch einmal gewaschen und sterilisiert werden. Die hermetisch abgeschlossenen Ampullen-Befüllungen garantieren, dass die Befüllung in der Lieferkette und beim Handling bis zum Aufziehen der Injektionsspritze im Spital steril bleibt.
In einer Formmaschine werden mittels Flammen zunächst der Ampullenboden, der Spieß und die Einengung geformt. Die so geformten Ampullen gelangen auf ein Bearbeitungsband, wo unterschiedliche Coderinge, Drucktext und / oder unterschiedliche Bruchsysteme aufgebracht werden. Bei einer Temperatur von mind. 575 °C werden die Farben eingebrannt und das Borosilikatglas entspannt. Aufwändige Testreihen dienen dazu, die Kraft, die zum Abbrechen des Ampullenkopfes erforderlich ist, zu ermitteln. Jede Ampulle wird durch Kamerasysteme bezüglich Dimensionen und kosmetischen Fehlern überprüft und ggf. aussortiert. Die Gläser gelangen in eine Kabine, in der sie in Kartons – teilweise durch Roboter – verpackt werden.
In Wertheim wie in Lohr bleibt die Qualität der entscheidende Wettbewerbsfaktor, um mit dem Werkstoff Glas im Gesundheitssektor, der hohe Anforderungen stellt, erfolgreich zu bleiben. Dies wird durch die optischen Qualitätskontrollsysteme und durch zwei Labors
(Abb. 4) garantiert, ein mechanisches zur Brechkraftmessung und ein chemisches, in dem die Zusammensetzung der Gläser mittels Atomspektrometrie kontrolliert wird. Das Ergebnis der Dimensionsprüfungen per Kamerasystem ist überzeugend: Auf eine Million gelieferter Ampullen erhält der Werksleiter weniger als eine Reklamation! Das Werk Wertheim verfügt über 140 Mitarbeiter, die vor allem für die Herstellung der Ampullen, der Qualitätssicherung und der Wartung der Anlagen zuständig sind.
Worauf kommt es bei der modernen Glasproduktion heute und in Zukunft an? Gerresheimer arbeitet gezielt an einem einheitlichen weltweiten Standard für alle Produktionsabläufe. Diese Standardisierung umfasst die eingesetzten Maschinen, die Inspektionssysteme, die Ausbildung der Mitarbeiter und jeden einzelnen Prozessschritt. Diese Vereinheitlichung soll den Kunden eine höchstmögliche Qualität garantieren.
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