Logistik & Supply Chain

Mit digitalen Zwillingen zu Supply Chain Resilienz

Wie lassen sich Resilienz und Robustheit in Lieferketten erhöhen?

14.04.2021 - Resilienz ist der neue Erfolgsfaktor für das Supply Chain Management. Digitale Zwillinge und Prescriptive Analytics können helfen, versteckte Risiken zu identifizieren und die Belastbarkeit von Lieferketten durch Stresstests schnell zu ermitteln.

Sie sind zudem ein effektives Werkzeug, um die richtigen Maßnahmen und Strategien zur kosteneffizienten Gestaltung von robusten Lieferketten zu ermitteln. Wir illustrierten die Möglichkeiten digitaler Zwillinge anhand einer Fallstudie aus der pharmazeutischen Industrie.

Die durch den Ausbruch von Covid-19 verursachten Störungen der globalen Lieferketten haben gezeigt, dass effektives Risikomanagement und Supply-Chain-Resilienz von größter Bedeutung sind. Die Furcht vor Arzneimittel-Lieferengpässen haben bspw. zu einem deutlich vernehmbaren Ruf nach mehr Resilienz in pharmazeutischen Lieferketten geführt. Gleichzeitig stellen viele Unternehmen fest, dass vorhandene Tools und Managementansätze nicht immer die gewünschten Ergebnisse für das Risikomanagement erzielen.

Warum Supply-Chain-Risikomanagement oftmals scheitert

Viele Risikomanagement-Experten bewerten potenzielle Störungen anhand zweier Dimensionen: Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß der Auswirkungen. Diese ereignisorientierte Sichtweise erfordert zudem, alle möglichen Risikoereignisse im Vorfeld ermitteln zu können. Die Erfahrung zeigt, dass diese Herangehensweise bei regelmäßig auftretenden Risiken wie Prognosefehlern und Lieferzeitschwankungen oft gut funktioniert.

Bei neuen oder weniger wahrscheinlichen Risiken erhöht sich jedoch die Gefahr, diese zu übersehen und falsch einzuschätzen, da ausreichend historische Daten fehlen – die sogenannte Wahrscheinlichkeitsfalle. Weitrechende „low-probability, high-impact“-Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie oder das Erdbeben und der Tsunami in Japan 2011, aber auch substanzielle Störungen wie Werksbrände oder politische Turbulenzen sind für einzelne Unternehmen vorab kaum quantifizierbar. Selbst modernste Verfahren des Maschinellen Lernens konnten den Covid-19-Ausbruch nicht vorhersagen.

Darüber hinaus herrscht häufig Unklarheit über die Auswirkungen durch die vielfachen Verflechtungen in der Lieferkette. So liegt der Fokus oftmals auf strategischen Lieferanten, während die Risiken des Ausfalls von Commodity-Lieferanten unterschätzt werden. Die Corona­krise hat in der pharmazeutischen Industrie aber bspw. gezeigt, dass nicht nur Wirkstoffe (APIs), sondern vermeintlich unkritische, chemische Hilfsstoffe oder Verpackungsmaterialien durch Engpässe die gesamte Lieferkette in Gefahr brachten.

Zuletzt fällt es Risikomanagern in der Regel schwer, die Vorteile von Strategien wie Dual Sourcing zu bewerten, da sie mit Änderungen der bestehenden Lieferkette einhergehen. Darüber hinaus gibt es Myriaden von Möglichkeiten, bspw. Risikobestand in einer Lieferkette zu verteilen. Ohne digitale Unterstützung ist eine effiziente Entwicklung von Risiko-Strategien somit nur schwer möglich.

 

Resilienz durch digitale Zwillinge

Digitale Zwillinge – computergestützte Modelle einer Lieferkette – bieten die Möglichkeit, versteckte Risiken zu identifizieren und Risikostrategien effizienter zu planen. Wir zeigen den Nutzen digitaler Zwillinge für das Supply Chain Risikomanagement anhand der Applikation „E2E Risk Guru“. Dieser ermöglicht direkt und pragmatisch aus verfügbaren Supply-Chain-Daten – z.B. aus ERP-Systemen – Risikoprofile und Schadenskosten zu ermitteln. Die Notwendigkeit Risikodaten zu schätzen entfällt somit weitestgehend. Mit präskriptiven Algorithmen lassen sich optimale Reaktionen auf Ausfälle effizient simulieren und Gegenmaßnahmen optimieren. Die Methode baut dabei auf am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelten Modellen auf, die u.a. bei Ford, Cisco und den Vereinten Nationen implementiert wurden. Der im „E2E Risk Guru“ erzeugte digitale Zwilling kann die gesamte Supply Chain – von den Rohstofflieferanten bis hin zu den Endkunden – abbilden. Mittels des digitalen Zwillings lassen sich dann die in der Grafik dargestellten Use Cases im Supply Chain Risikomanagement umsetzen.

 

„Supply Chain Mapping ist der zentrale Ausgangspunkt für Risikoanalysen.“

 

Versteckte Risiken erkennen

Supply Chain Mapping ist der zentrale Ausgangspunkt für Risikoanalysen. Digitale Zwillinge sind hierfür besonders geeignet. In einer Fallstudie modellieren wir eine globale pharmazeutische Lieferkette, einschließlich aller Lieferverbindungen zwischen Produktionsstandorten, Kontraktfertigern und wichtigen Lieferanten (Hilfsstoffe, Primär- und Sekundärverpackung) für 44 End-SKUs (Stock Keeping Units), die in mehr als 50 Märkten verkauft werden. Um die oben erwähnten Fallstricke der traditionellen Risikoanalyse zu vermeiden, stützt sich der Modellierungsansatz in erster Linie auf Daten, die üblicherweise in ERP(Enterprise Resource Planning)- und Supply-Chain-Systemen verfügbar sind.

Ohne weitere Angabe von bspw. Wahrscheinlichkeiten lässt sich aus den Supply-Chain-Daten die Time-To-Shortage-Metrik (TTS) ermitteln. Die TTS gibt an, wie lange die Supply Chain nach dem Ausfall eines bestimmten Knotens – bspw. „Lieferant“, „Werk“, „Lager“ – lieferfähig bleiben würde. Ist diese Kennzahl klein bzw. kleiner als die erwartete Dauer bis zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit, ist der Knoten gefährdet. Hohe TTS-Werte bei einem Lieferanten hingegen zeigen, dass Bestände ohne größere Risikozunahme reduziert werden könnten. Die genaue Benennung der Gründe eines Ausfalls entfällt somit, stattdessen kann in nahezu Echtzeit das Risikoprofil der Lieferkette ermittelt werden.

Auswirkungen von Störungen bewerten

Der Einfluss einer Unterbrechung der Lieferkette an einem Knoten lässt sich im digitalen Zwilling auch bzgl. der operativen Auswirkungen und finanziellen Schäden bewerten. Auch hierbei ist es erforderlich, die gesamte Lieferkette simultan zu betrachten. So kann ermittelt werden, welche Umsatzverluste bei Ausfall eines Wirkstofflieferanten oder eines Werkes für Zwischenprodukte drohen und welche Märkte von Versorgungsengpässen betroffen sein würden. Über eine Detailsicht auf einzelne Produkte und Servicelevel lässt sich Transparenz für Managemententscheidungen erzeugen und die Auswirkungen von Störungen für Patienten schnell nachvollziehen. Variiert man die Dauer der Ausfälle in einem Tool, können Unterbrechungen unterschiedlichen Ausmaßes analysiert werden.

Resilienz optimieren

In dem erzeugten digitalen Zwilling ist es auch möglich, Risikominderungsstrategien wie Dual Sourcing oder Reservekapazität zu bewerten. In der untersuchten Lieferkette hat sich z.B. gezeigt, dass eine Störung der sekundären Produktion schnell zu Versorgungsengpässen führt. Als mögliche Gegenmaßnahme lässt sich bspw. simulieren, welchen Nutzen die Einrichtung von Reservekapazität bei einem Kontraktfertiger bringt.

Ebenfalls wurde untersucht, welchen Nutzen zusätzliche Risiko-­Bestandspuffer bieten. Deren Optimierung ist bei hunderten Produktstandorten eine komplexe Aufgabe, die nur ein automatisierter, intelligenter Algorithmus effizient bewältigen kann. Bei der Optimierung im E2E Risk Guru kann der Fokus darauf gelegt werden, besonders schwerwiegende Störungen abzumildern. Die Basis bildet hierbei der im Versicherungswesen verbreitete „Conditional Value at Risk“. Die Ergebnisse zeigen, dass bereits eine Bestandserhöhung von 5–10 % an der richtigen Stelle der Lieferkette das gesamte Ausfall- und Schadensrisiko signifikant senken kann.

Die Ergebnisse verdeutlichen insgesamt, dass digitale Zwillinge die Transparenz bezüglich Lieferkettenrisiken deutlich erhöhen können. Sie ermöglichen eine schnelle Bewertung von Risiko-Szenarien und erlauben die Bewertung von strukturellen Anpassungen der Lieferkette. Durch die Einbettung von präskriptiven Algorithmen in den digitalen Zwilling, ist eine automatische Optimierung von Risikominderungsstrategien möglich.

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„Mit digitalen Zwillingen lassen sich versteckte Risiken identifizieren und Risikostrategien effizienter planen.“

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