Mit der Verwaltungsschale zum guten Leben
Tauchnitz: Der Weg zur Industrie 4.0 erfordert ein Gesamtkonzept und Detailkenntnisse
CHEManager: Herr Tauchnitz, Digitalisierung ist ein vielverwendeter, schillernder Begriff. Was verstehen Sie unter Digitalisierung?
Thomas Tauchnitz: Ich verstehe diesen Begriff sehr weit: Digitalisierung ist die Anwendung der digitalen Technologien für neue Geschäftsmodelle oder für neue Wege zur Wertschöpfung. Es geht also nicht nur um eine Verbesserung an einzelnen Problempunkten sondern – nach Fabian Fischer – um die Optimierung der aktuellen Kerngeschäfte, um die digitale Expansion der laufenden Geschäfte und um vollkommen neue Geschäftsmodelle mit neuen Kunden. Amazon ist ja auch nicht bei dem Versand von Büchern stehen geblieben, sondern verdient inzwischen das meiste Geld mit Cloud-Diensten, also in ganz anderen Bereichen.
Wichtig ist mir, dass meine Kunden die Breite der Digitalisierung erkennen und nicht glauben, nach drei oder fünf Projekten hätten sie die Digitalisierung geschafft. Dazu benötigen sie ein durchdachtes Gesamtkonzept. An großen Mosaiken arbeiten oft mehrere Künstler, aber ohne Gesamtkonzept entsteht kein brauchbares Bild, sondern ein Scherbenhaufen.
"Digitalisierung bedeutet für mich die Anwendung der digitalen Technologien für neue Wege zur Wertschöpfung."
Wann und wo sollte man in einem prozesstechnischen Unternehmen mit der Digitalisierung beginnen?
T. Tauchnitz: Digitalisierung ist nicht neu, und auch von Industrie 4.0 sprechen wir schon seit 2013. In der Zeit wurde ganz viel entwickelt: Gateways, Edge Computing, das NOA-Konzept der NAMUR, OPC UA. Es gibt also viele Werkzeuge und Möglichkeiten. Und es gibt auch viele Aufgaben, die zu lösen sind: Ein Ingenieur in Deutschland ist zu teuer, um irgendwelche Dokumente zu suchen. Und bei Corona kann nur im Homeoffice arbeiten, wer Dokumente und Prozesse in digitaler Form hat. Wer jetzt noch am Spielfeldrand steht und abwartet, um bloß keine Fehler zu machen, wird danach hinterherlaufen müssen. Und dann muss man schneller laufen als die anderen, um aufzuholen. Das Wort „Konkurrenz“ heißt wörtlich „Wettlauf“, und den gewinnt man nur, wenn man losläuft.
Kann man sich dabei an den vielzitierten Leuchtturmprojekten orientieren?
T. Tauchnitz: Natürlich ist es sinnvoll, schnell mal was auszuprobieren. Aber von großen publikumswirksamen Leuchtturmprojekten halte ich gar nichts. Man soll kein Geld dafür einsetzen, nur damit das Management ein Blinken sieht. Fangen Sie dort an, wo Sie Geld verschwenden oder womit Sie Geld verdienen können. Womit Sie die Zukunft Ihrer Firma sichern. Dort sind Ihre Schätze verborgen. Und diese Stellen müssen Sie selbst herausfinden! Ein Externer kann Sie bei der Suche unterstützen, aber Ihre verborgenen Schätze kennen nur Sie und die Mitarbeiter vor Ort.
Passen Sie bitte auf, wenn Ihnen tolle Werkzeuge angeboten werden, Hardware, Software oder Infrastruktur. Bevor Sie nicht wissen, wo Ihre Schätze liegen, nützen Ihnen die Werkzeuge gar nichts. Künstliche Intelligenz kann beispielsweise Zusammenhänge erkennen, aber das nützt Ihnen nur, wenn Sie wissen, wo Sie der Schuh drückt und wo Sie Geld verdienen können.
"Die technische Umsetzung lohnt sich nur, wenn am Ende Geld gespart oder neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden."
Ich möchte aus Ihrem Gesamtkonzept keinen Flickenteppich machen, aber trotzdem die Digitalisierung in der Prozessautomation herausgreifen. Wie setzt man hier an?
T. Tauchnitz: Wie besprochen: Identifizieren Sie Punkte, die Ihnen wehtun oder die für Sie attraktiv sind. Dann gehen Sie Schritt für Schritt vor: Erst müssen Sie Daten erfassen oder diese, wenn sie schon auf irgendwelchen Systemen vorliegen, miteinander verbinden. Hierfür gibt es inzwischen viele gute Werkzeuge und Methoden. Dann müssen Sie die Zusammenhänge, die Strukturen und den Kontext herstellen. Die Echtzeitdaten eines Sensors nützen Ihnen nur etwas, wenn Sie auch wissen, welcher Produktionsschritt gerade läuft, welche Sollwerte gelten und ob aktuell Produkt fließt oder nicht. Erst wenn Sie dieses Wissen zusammengetragen haben, können Sie die modernen Werkzeuge wie Big Data oder Artificial Intelligence einsetzen.
Vieles von dem, was heute als Methoden angeboten wird, sind alte Hüte. Über Asset Management oder Predictive Maintenance haben wir schon vor 20 Jahren gesprochen. Aber es war damals unwirtschaftlich: Es lohnte sich einfach nicht, für jeden einzelnen Anwendungsfall ein Team von Prozess- und IT-Spezialisten einzusetzen. Was wirklich neu ist und jetzt den Durchbruch bringen wird, sind Standards. Eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Datenmodelle. Wenn der Computer weiß, was ein Objekt vom Typ „Wärmetauscher“ ist, kann er automatisch eine Auswertung über alle meine Wärmetauscher machen – und dann kostet es fast nichts mehr.
Welche Rolle spielt der digitale Zwilling dabei?
T. Tauchnitz: Der digitale Zwilling ist das vollständige digitale Abbild eines Gerätes oder eines Prozesses. Bildlich gesprochen ein „Datentopf“, der alles sammelt, was man über das Objekt weiß. Das können die technischen Daten des Geräts sein, CAD-Zeichnungen, Daten für eine Simulation, die aktuelle Verdrahtung, aber auch die aktuellen Sensordaten in diesem Moment.
Für die Implementierung von diesem Datentopf hat die Plattform Industrie 4.0 eine konkrete Realisierung erarbeitet, die jetzt wohl auch zum Standard wird: Die sogenannte Verwaltungsschale. In diese Schale kommen alle Daten, die ich zur Verwaltung des Objekts benötige, oder besser gesagt: zur digitalen Verwendung. Diese Verwaltungsschale hat einen eindeutigen Namen, den Identifier, verweist auf das entsprechende reale Asset und besteht dann aus beliebig vielen Teilmodellen. Die eben genannten Daten wie CAD-Zeichnungen werden dann in Teilmodelle geschrieben, und diese werden so weit wie möglich standardisiert. Wenn ich die Masse des Geräts benötige, frage ich im Teilmodell „Technische Daten“ nach dem Wert des Merkmals „Gewicht“. Und weil dieser Begriff auf eine global gültige und eindeutige Referenz verweist, erhalte ich den richtigen Wert, egal in welcher Sprache und aus welchem Land die Verwaltungsschale vorliegt.
Auch wenn ich kein strikter Befürworter von Anglizismen bin: Sollte man nicht lieber generell den Begriff „Asset Administration Shell“ statt der so bürokratisch klingenden „Verwaltungsschale“ verwenden?
T. Tauchnitz: Leider klingt das nur in unseren deutschen Ohren besser: „Administration“ weckt für den Engländer genauso unattraktive Assoziationen wie für uns das Wort „Verwaltung“. Da hilft dann nur die Flucht in die Abkürzungen: VWS und AAS sind noch nicht emotional besetzt.
Und was ist das „Digitale Typenschild“, das auf der SPS-Messe 2019 vorgestellt wurde?
T. Tauchnitz: Das digitale Typenschild ist eine erste Anwendung der Verwaltungsschale. Es wurde vom ZVEI zusammen mit der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg realisiert. Es verweist auf die Internetadresse beim Hersteller, unter der die Daten des betreffenden individuellen Geräts zu finden sind. Sozusagen die Geburtsurkunde mit allen Unterlagen, die der Hersteller zur Verfügung stellen muss: Technische Daten, Zeichnungen, Zertifikate, Bedienungsanleitungen und andere. Und diese Unterlagen werden – natürlich – als Verwaltungsschale bereitgestellt. So kann der Käufer automatisch auf alle benötigten Daten zugreifen und sie zum Beispiel für sein Engineering-Tool nutzen. Und er sollte sich überlegen, ob er die ganze Verwaltungsschale herunterlädt und dann selbst weiterpflegt, oder ob er mit dem Gerätehersteller verabredet, dass dieser die Daten lebenslang pflegt. Beides hat Vor- und Nachteile. Wenn die Verwaltungsschale beim Betreiber liegt, ist die Aktualisierung und die Integration in seine Systeme einfacher. Wenn sie beim Hersteller liegt, kann dieser seine speziellen Diagnosealgorithmen anwenden und perfekte Wartungsempfehlungen erstellen. Man kann dem Hersteller für diesen Zweck aber auch den selektiven Zugriff auf die Daten seiner Geräte einräumen. Wie gesagt: Für die Pflege der Verwaltungsschale sollten die Betreiber schnellstmöglich ein Konzept entwickeln. Es wäre ausgesprochen dumm, die Daten nur auf dem Rechner des Projektingenieurs abzuspeichern!
Kann der digitale Zwilling wirklich das vollständige Abbild aller Objekte sein – sowohl für eine Schraube als auch eine Fabrik?
T. Tauchnitz: Ja, genau das ist das Ziel! Aber natürlich müssen die digitalen Zwillinge hierarchisch strukturiert sein. Der Zwilling der Schraube bleibt der Schraube zugeordnet, zumindest im Flugzeugbau mit seinen Dokumentationspflichten. Der digitale Zwilling eines Geräts verweist dann auf die Zwillinge aller Komponenten, also auch der Schrauben. Das Gerät wiederum gehört in eine Zelle, die in eine Fertigungsstraße, die in ein Produktionsgebäude, das in die Fabrik. Insofern kann man sich vom digitalen Zwilling der Fabrik bis zu den Schrauben herunterhangeln. Bei Schrauben ist das vielleicht nicht so relevant. Aber wenn der Fabrikleiter die Stromverbräuche aller Geräte auswerten will, kann er diese durch Abfrage der digitalen Zwillinge automatisch ermitteln.
"Was wirklich neu ist und den Durchbruch bringen wird, sind Standards, eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Datenmodelle."
Wir haben jetzt ausführlich die Digitalisierung in der Prozessautomation diskutiert – wie fügt sich diese in das von Ihnen eingangs skizzierte Gesamtkonzept der Digitalisierung ein?
T. Tauchnitz: Richtig: Wir haben in der Adlerperspektive begonnen und sind bis zur Schraube heruntergegangen. Aber das eine geht ohne das andere nicht. Digitalisierung funktioniert nur, wenn die Fabrikkomponenten elektronisch Daten austauschen können, und dazu braucht man eine gemeinsame, sprich standardisierte Sprache. Das ermöglicht die vertikale, horizontale und lebenslange Datenintegration. Andererseits lohnt sich die technische Umsetzung nur, wenn am Ende Geld gespart oder neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden. Wir wollen ja nicht „herumdigitalisieren“, wie es Frau Sonnevend von Bayer auf der NAMUR-Hauptsitzung 2019 so treffend gesagt hat, sondern es geht um Geld, um Arbeitsplätze, am Ende um ein gutes Leben.
ZUR PERSON
Thomas Tauchnitz studierte in Hannover Elektrotechnik und promovierte im Bereich der Regelungstechnik. Er arbeitete 32 Berufsjahre in der chemischen und pharmazeutischen Industrie im Schwerpunkt Automatisierungssysteme und engagierte sich 25 Jahre lang in der NAMUR, zuletzt als Vorstandsmitglied. Seit 2018 ist er selbständiger Consultant in den Bereichen Industrie 4.0, Automatisierungstechnik und Engineering-Tools.