Logistikdienstleister benötigen Spezialwissen
Herausforderungen und Chancen der Kontraktlogistik in der chemischen Industrie
Das Geschäftsfeld Kontraktlogistik hat in den letzten Jahren über viele Branchen hinweg erheblich an Bedeutung gewonnen. In der aktuellen Top 100 Studie (Klaus / Kille, Universität Erlangen-Nürnberg) wird z.B. für das Jahr 2003 der Markt für Kontraktlogistik allein in Deutschland auf ein Potential von insgesamt ca. 67,3 Mrd. € beziffert, was 40% des geschätzten Gesamtumsatzvolumens des Logistikmarktes (in Höhe von rund 168 Mrd. €) entspricht. Dieselbe Studie veranschlagt dabei für die Kontraktlogistik eine Fremdvergabequote von 23% oder ca. 15,6 Mrd. €.
Jenseits aller Schätzungsgenauigkeiten und Unsicherheiten, die mit solchen Zahlen zwangsläufig einhergehen, besteht in der Logistikbranche die einhellige Auffassung, dass Kontraktlogistik ein attraktives Geschäftsfeld darstellt, das überdurchschnittliche Margen im sonst eher ertragsschwachen Markt für Logistikdienstleistungen verspricht. Die verladende Wirtschaft profitiert dabei von innovativen Logistikkonzepten, die auf der Basis kundenindividuell zugeschnittener Lösungen sowohl Kostensenkungen als auch Leistungssteigerungen zugleich ermöglichen sollen. Beispielsweise hat zum 1. Januar 2006 KarstadtQuelle wesentliche Teile ihrer Logistik (Versorgung der Warenhäuser, Kleiderlogistik, Großgutlogistik) in die Hände der DHL Exel Supply Chain übergeben. 3.600 Beschäftigte wechselten zu einem neuen Arbeitgeber über und mehrere 100.000m² Logistikimmobilien samt Einrichtungen bekamen einen neuen Eigentümer. KarstadtQuelle konnte Immobilien in Liquidität verwandeln, Arbeitskosten senken und gab im Zuge dessen die Hoheit über die operative Prozessabwicklung auf.
Solche Kontraktlogistik-Arrangements gründen auf einer engen Zusammenarbeit zwischen Verlader und Logistikdienstleister, basieren dabei auf längerfristigen vertraglichen Regelungen und sehen eine (z.T. erhebliche) Erweiterung des Verantwortungs- und Aufgabenbereiches des Logistikdienstleisters in der Wertschöpfungskette vor. Es liegt auf der Hand, dass mit dieser Erweiterung auch die Anforderungen an die Kompetenzen und die Professionalität des Logistikdienstleisters steigen.
Chemische Industrie übt noch Zurückhaltung
Obwohl die Kontraktlogistik in einigen Branchen, wie beispielsweise im Handel oder auch der Automobilindustrie, einen etablierten Markt für die Fremdvergabe logistischer Leistungen darstellt, sind Kontraktlogistiklösungen in der chemischen Industrie bisher nicht stark verbreitet. Für die Chemiebranche (chemische Industrie und chemischer Großhandel) schätzen Klaus und Kille das Umsatzvolumen in der Logistik auf insgesamt 6,7 Mrd. €. Den Anteil des Kontraktlogistikmarktvolumens hieran beziffern sie auf ca. 2,1 Mrd. € oder 30%. Es liegen bisher keine verlässlichen Zahlen darüber vor, wie hoch die Fremdvergabequote für die Kontraktlogistik in der Chemiebranche insgesamt ausfällt. Die geringe Anzahl an Erfahrungsberichten in der Fachpresse wie auch die übereinstimmende Einschätzung von einschlägigen Fachleuten bestätigen, dass das Konzept der Kontraktlogistik in der Chemieindustrie bisher auf keine breite Akzeptanz stößt.
Die Ursachen hierfür sind in den spezifischen Logistikanforderungen der Chemiebranche zu suchen. Als eine wichtige Ursache lassen sich beispielsweise die im Gefahrgut begründeten, hohen Sicherheitsansprüche anführen. Unfälle mit kritischen Chemieprodukten verursachen massive Schäden für Mensch und Umwelt, mit denen i.d.R. dann ein beträchtlicher Imageverlust der verladenden Chemieunternehmen einhergeht. Aufgrund mangelnder Alternativen haben gerade die verladenden Unternehmen der chemischen Industrie in der Vergangenheit einschlägige Kompetenzen im Bereich der Gefahrgutlogistik entwickelt und in Form eigener Logistikgesellschaften oder -abteilungen implementiert. Mangelndes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Logistikdienstleistungsbranche, gepaart mit der Befürchtung, das entwickelte Know-how im Zuge eines etwaigen Outsourcings zu verlieren, lässt viele Unternehmen daher bei der Vergabe umfangreicher Kontraktlogistiklösungen zögern. Die Befürchtung, sich dazu noch in eine allzu große Abhängigkeit von einzelnen „Lead Service Providern" zu begeben, lässt eine Fremdvergabe lediglich ausgewählter Teilleistungen an eine Vielzahl von Logistikdienstleistern zu, ohne dabei die übergreifende Dispositionshoheit aus den Händen zu geben.
Fremdvergabe in Logistik-Teilleistungen
Entsprechend dieser Vergabepraxis haben sich viele Logistikdienstleister in der Chemiebranche auf eben solche Teilleistungen wie z.B. Gefahrgut-Handling, Tanktransporte oder Silodienste für bestimmte Produktgruppen spezialisiert. Die differenzierten Anforderungsprofile erfordern dabei zumeist jeweils eine spezielle Zertifizierung und vergleichsweise hohe Investitionen in Spezialequipment, wie z.B. spezielle Transportbehälter. Dies schränkt das Aktionsfeld der Logistikunternehmen stark ein. Denn für ein Angebot umfassender, komplexer Kontraktlogistikleistungen wären weitere, beachtliche Investitionen in zusätzliche Kompetenzfelder notwendig. Neben dieser horizontalen Ausrichtung des Leistungsangebots kann auch eine vertikale Erweiterung stattfinden, indem entlang der Wertschöpfungskette auch die Auftrags- und Lieferströme der Vorlieferanten einem Logistikdienstleister übertragen werden.
Ungeachtet dieser Hemmnisse auf Verlader- und Dienstleisterseite, gibt es erste Ansätze, Kontraktlogistik in der chemischen Industrie umzusetzen. So bietet das Beispiel der Chemion Logistik einen ersten Schritt in diese Richtung, indem umfangreiche Dienstleistungen für das Kohlekraftwerk im Bayer Chemie Park in Uerdingen übernommen wurden. Zunächst war Chemion lediglich für die Beförderung der am Standort notwendigen Kohle und die entsprechenden Bahnrangierarbeiten zuständig. Aufgrund der guten Erfahrungen in der Zusammenarbeit sowie mit dem Ziel, Schnittstellen zu reduzieren und eine zuverlässige und bedarfsgerechte Gesamtlösung zu erhalten, wurde die gesamte Steuerung der internen Logistik an Chemion übertragen. Das erweiterte Dienstleistungspaket umfasst neben Transport und Verladung auch die kontinuierliche Versorgung der Kohlebunker sowie das Überwachen, Betreiben, Unterhalten und Säubern der Förderanlagen. Dieses Beispiel kann als ein Ansatz für Kontraktlogistik in der Chemiebranche interpretiert werden. Es zeigt aber auch auf, dass Kontraktlogistik für kritische Prozesse, insbesondere beim Gefahrgut-Handling, offensichtlich noch wenig Anwendung findet.
Kompetente Partner „auf gleicher Augenhöhe"
Dennoch ist davon auszugehen, dass im Zuge des Trends zur Konzentration auf Kernkompetenzen, der über alle Branchen erkennbar ist, ein weiteres Outsourcing von Logistikleistungen stattfinden wird. Dieser Trend gilt auch für die Logistik in der Chemieindustrie. Für Logistikdienstleister bedeutet es, sich in Zukunft diesen Anforderungen zu stellen, um kompetent umfassende Kontraktlogistikleistungen in der Chemie offerieren zu können. Dazu müssen sowohl umfangreiches Fach- als auch Management-Wissen aufgebaut werden. Insbesondere das für diese Branche notwendige Spezialwissen in verschiedenen Produktgruppen und Prozessbereichen zählt zu den erforderlichen fachlichen Kompetenzen und ist durch einschlägige Zertifizierungen zu dokumentieren. Hierbei empfiehlt es sich, eine Fokussierung hinsichtlich der in Zukunft anzubietenden Dienstleistungen vorzunehmen, um nicht durch den Umfang der aufzubauenden Kenntnisse überfordert zu werden.
Im Rahmen der notwendigen Managementkompetenzen sind zudem Professionalität, ein Customer Relationship Management sowie Kenntnisse im Anlaufmanagement zu berücksichtigen. Insbesondere in der Angebotsphase ist ein professionelles Auftreten notwendig, um Vertrauen seitens eines Chemieunternehmens aufzubauen und so den Grundstein für eine langfristige Zusammenarbeit zu legen. Professionalität lässt sich zusätzlich durch eine starke Beratungskompetenz demonstrieren.
Mit innovativen, speziell auf die Logistikanforderungen des Verladers zugeschnittenen Lösungskonzepten wird dem potentiellen Kontraktgeber verdeutlicht, einen kompetenten Partner „auf gleicher Augenhöhe" vor sich zu haben, der auch in Zukunft die von ihm zu übernehmenden Prozesse sicher handhaben kann. Dazu gehört auch das sichere Implementieren der Prozesse durch ein strukturiertes Anlaufmanagement seitens des Logistikdienstleisters. Managementkompetenzen sind im Anlauf unverzichtbar, da insbesondere während der Anlaufphase umfangreiche Planungsmaßnahmen für eine störungsfreie Übernahme der Prozesse zu treffen sind. So gilt es beispielsweise, Personal- und Immobilienübergänge zu regeln, eigene Infrastruktur in Form von Gefahrgutlagern oder Förderanlagen aufzubauen oder komplexe, teilweise chemiespezifische IT-Systeme zu integrieren. Individuell auf das Chemieunternehmen zugeschnittene Prozesse und Lösungsansätze müssen etabliert werden, ohne die Logistikkosten aus dem Auge zu verlieren. Dieses spezielle Projektmanagement ermöglicht es, die jeweiligen Aufgaben, die mit Art und Umfang eines Kontraktlogistikprojektes variieren, planbar und leichter umsetzbar zu machen. Dies erhöht die Qualität der neu aufgesetzten Logistikprozesse und ermöglicht eine kurze Anlaufzeit.
Vorteile der Kontraktlogistik herausarbeiten
Kernaufgabe der Logistikdienstleister wird es in Zukunft sein, die Wissensdimensionen des technischen und Managementorientierten Know-hows zu entwickeln oder zu verfeinern. Damit bietet sich ihnen die Chance, die Verlader aktiv von den beiderseitigen Vorteilen einer Kontraktlogistiklösung zu überzeugen.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die Kontraktlogistik Potentiale für die Chemieindustrie im Hinblick auf Innovation, Kostensenkung und Leistungssteigerung der logistischen Prozesse bietet. Die Voraussetzung für ein Heben dieser Potentiale bilden seitens der Logistikdienstleister das Angebot eines Leistungsportfolios für die Kontraktlogistik unter Berücksichtigung der speziellen Rahmenbedingungen der Chemieindustrie, die Professionalisierung des Customer Relationship Management sowie der Aufbau von Kompetenzen im Anlaufmanagement kontraktlogistischer Projekte. Die Verlader der chemischen Industrie sollten sich ihrerseits der Vorstellung öffnen, dass Sicherheits- und Gefahrgutanforderungen auch kompetent von Logistikdienstleistern erfüllt werden können.