Anlagenbau & Prozesstechnik

Integriertes Engineering

Industrie 4.0 braucht durchgängige Kommunikation über den gesamten Lebenszyklus

24.01.2013 - Für die Planung und Betriebsbetreuung werden viele unterschiedliche Systeme verwendet. So gibt es jeweils eigene gewerkespezifische Engineering-Systeme z.B. für PLT-Planung, Apparateplanung und Rohrleitungsplanung, andererseits gerätespezifische Tools z.B. für Prozessleitsysteme und Betriebsdateninformationssysteme. Zwischen diesen Systemen müssen in der Planungsphase sowie bei allen Änderungen und Ergänzungen in der Betriebsphase Daten transportiert werden.

Angesichts der Möglichkeiten und Zielsetzung von integrierten Konzepten wie Industrie 4.0 ist jetzt die Zeit reif, integrierte Engineering-Tools zu realisieren. Der Begriff Integration als „Bildung übergreifender Ganzheiten" ist relativ einfach definiert. Der Begriff Engineering wird im weiten Sinn verstanden als sämtliche Prozesse zur Planung und Dokumentation von verfahrenstechnischen Anlagen in ihrem Lebenszyklus. Für ein integriertes Engineering gibt es drei Herausforderungen:

  • Systemvielfalt: Die heute verwendete Systemvielfalt im PLT-Bereich mit Prozessleitsystem, Sicherheits-SPS, Feldgeräte-Parametrierung, Betriebsdateninformationssystemen, Advanced Process Control und anderen Systemen führt zu einer entsprechenden Vielfalt von Planungssystemen.
  • Lebenszyklus: Das integrierte Engineering muss nicht nur die Planungsphase, sondern auch die Betriebsphase abdecken. Es erfordert also ein langfristiges Zusammenspiel der beteiligten Komponenten.
  • Gewerkevielfalt: Ein integriertes Engineering muss nicht nur die Prozessleittechnik abdecken, sondern auch die verfahrenstechnische Planung, die Aufstellungsplanung, Rohrleitungen, Apparate, Bauplanung, Genehmigungsplanung und ähnliche.

Kontinuierlicher Datenaustausch
Zwischen den genannten Systemen muss - wenn man sie integrieren will - der kontinuierliche Datenaustausch sichergestellt sein. Je mehr Systeme, desto mehr Schnittstellen müssen vorhanden sein. Anforderungen an solche Schnittstellen sind gemäß der NAMUR-Empfehlung NE 139 „Informationsschnittstellen in der Prozessautomatisierung; Betriebliche Eigenschaften" die Integrität, Nachhaltigkeit, Durchgängigkeit und Handhabbarkeit. Außerdem erfordern die Schnittstellen einen definierten Workflow, in dem festgelegt wird, wer die Verantwortung für welche Daten hat und wie bei Änderungen vorzugehen ist, damit die Beteiligten die Änderung berücksichtigen können.
Jede manuelle, also nicht integrierte und automatische Schnittstelle ist ein zusätzlicher Arbeitsschritt sowie eine mögliche Fehlerquelle. Das Magische Dreieck im Projektmanagement, in dem Zeit, Kosten und Qualität zu optimieren sind, wird durch die manuellen Schnittstellen belastet. Aufwand entsteht durch Datentransfer, Datenkonsolidierung, Datenkontrolle und Fehlerbeseitigung. Im globalen Wettbewerb stellt das integrierte Engineering einen Wettbewerbsvorteil dar.

Automatisierung von Schnittstellen
Die Idee des integrierten Engineerings und damit die Automatisierung von Schnittstellen wird seit vielen Jahren diskutiert, war mit den bisher vorhandenen Technologien jedoch offensichtlich nicht zu realisieren. Inzwischen gibt es verschiedene Realisierungsideen:

  • Werkzeuge bzw. Werkzeug-Suiten mit einer zentralen Datenbank: Hier sind die Daten nur an einer Stelle abgelegt, und die verschiedenen Werkzeuge arbeiten nur mit diesen Daten und haben verschiedene Sichten darauf. Ein Beispiel hierfür ist Comos PT von Siemens.
  • Funktionale Schnittstelle zwischen CAE-System und Leitsystem: Hier wird im CAE-System neben der allgemeinen Planung (R&I-Schema, Rohrleitungsplanung, Elektrotechnik, MSR-Technik) auch die Funktionsplanung durchgeführt mit Verriegelungen und Ablaufketten. Ein Compiler erzeugt aus dieser Funktionsplanung den Code für ein Prozessleitsystem. In der NAMUR-Hauptsitzung 2011 wurde in einem Workshop über ein bei der Sanofi-Aventis Deutschland durchgeführtes Pilotprojekt mit Comos PT und PCS 7 von Siemens berichtet.
  • Schnittstelle zwischen CAE-System und Leitsystem via NAMUR-Container: Der beschriebene Ansatz mit einer Schnittstelle zwischen CAE und PLS wird vom NAMUR-Arbeitskreis 1.10 verallgemeinert vorangetrieben. Über einen sogenannten NAMUR-Container wird ein standardisierter File-Transfer zwischen verschiedenen CAE-Systemen und verschiedenen Prozessleitsystemen definiert. Hier ist ein NAMUR-Arbeitsblatt in Vorbereitung.
  • Automation Service Bus: Dieser von Prof. Biffl et al. vorgeschlagene Ansatz stellt einen Integrationsmechanismus dar, in dem heterogene Softwarelandschaften die Kommunikation zwischen beliebigen Spezialwerkzeugen erlauben. Voraussetzung dafür ist natürlich wie auch beim NAMUR-Container eine allgemein anerkannte, genau spezifizierte Schnittstellenbeschreibung.

Fragen zur Realisierung
Die Beispiele zeigen, dass die Realisierung eines integrierten Engineerings kein „Sonntagsspaziergang" ist. Sowohl der Zugriff vieler Werkzeuge auf eine einzige Datenbank als auch die Integration unterschiedlicher Datenbanken über standardisierte Schnittstellen erfordern einen hohen Standardisierungs- und Implementierungsaufwand. Die Forderung, über verschiedene Gewerke und über Jahrzehnte funktionieren zu müssen, verdeutlicht diese hohe Anforderung. Einige Kernfragen sind:

  • Wer sind die Nutznießer eines solchen integrierten Engineerings? Die Betriebstechniken der Betreiber? Die In-house-Engineering-Gruppen der Betreiber? Die projektorientierten Kontraktoren? Die Hersteller von Geräten und Systemen? Die Hersteller von Engineering-Werkzeugen? Durch die veränderten Werkzeuge und Abläufe ändern sich auch Geschäftsmodelle und Wettbewerbsvorteile.
  • Werden diese Nutznießer den Aufwand einer solchen Standardisierungs- und Entwicklungsaufgabe tragen wollen und können?
  • Welche Verbände wie NAMUR, GMA und ZVEI können welche Beiträge hierzu leisten? Wie sieht die internationale Verbreitung und Normung aus?
  • Diese Fragen und möglichen Hindernisse müssen aber zügig überwunden werden, denn die technischen Möglichkeiten und Anforderungen bleiben nicht stehen. Die Initiative „Industrie 4.0", das „Internet der Dinge" und der Ansatz „Cyber-Physical Production Systems" setzen eine durchgängige Kommunikation der beteiligten Engineering-Systeme voraus, und zwar über den gesamten Lebenszyklus eines Produktionssystems hinweg.

Blick in die Zukunft
Abschließend sei ein Anwendungsbeispiel für Industrie 4.0 in der Prozessindustrie skizziert. Wenn beispielsweise ein Ersatzventil aus dem Lager genommen wird, könnte ein PC Kontakt mit diesem Ventil und dem Wartungspersonal aufnehmen. Es wird angegeben, welches Ventil ersetzt werden muss. Das Ventil prüft seine Eignung für diesen Einbauort, übernimmt die Parameter des Vorgängers, lädt die aktuelle Feldbusversion, führt einen Selbsttest durch. Der PC lädt das Formular für die Qualifizierung, die Einbauanleitung und listet die benötigten Werkzeuge für die Montage auf. Dann kann das Gerät unmittelbar eingebaut und in Betrieb genommen werden. Die beschriebenen, automatisch ablaufenden Schritte des Ventils und PCs setzen voraus, dass die in den verschiedenen Engineering-Werkzeugen und im Internet vorhandenen Daten rund um die Uhr und viele Jahre lang zugänglich sind. Mit anderen Worten: dass ein integriertes Engineering vorhanden ist.

Dieser Artikel fasst einen Vortrag zusammen, der am 09.11.2012 auf der NAMUR-Hauptsitzung gehalten wurde. Eine ausführliche Präsentation dieses Vortrages erscheint in der atp edition.

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