Industriepolitik: Wie gelingt die Energiewende?
Interview mit Prof. Uwe Schneidewind, Wuppertal-Institut, und Dr. Utz Tillmann, VCI
Die Energiewende ist derzeit eines der größten industriepolitischen Abenteuer in Deutschland. Ihr Ziel ist eine klimafreundliche Energieversorgung bei wettbewerbsfähigen Energiepreisen und hohem Wohlstand. Nicht immer wird dieses durch bestehende Regulierungssysteme erreicht. Prof. Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, und Dr. Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, diskutierten über effektive industriepolitische Maßnahmen, die die Energiewende voranbringen und zugleich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Chemie gewährleisten. Das Gespräch moderierte Dr. Andrea Gruß.
CHEManager: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, kurz EEG, ist das wichtigste Instrument für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland. Ist es ein effektives Werkzeug?
Prof. U. Schneidewind: Es war ein extrem wirksames Instrument – fast zu wirksam. Die regenerativen Energien wurden so schnell zu einem relevanten Anteil unseres Energie-Mixes, dass wir heute darüber diskutieren, bis zu welcher Ausbaustufen das EEG eine ökonomisch sinnvolle Lösung bleibt und uns fragen: Wie geht es weiter? Gibt es andere Wege, um die gleichen Ziele mit geringeren volkswirtschaftlichen Kosten zu erreichen? Die Diskussion wird derzeit sowohl gesamtwirtschaftlich als auch im Hinblick auf einzelne Sektoren intensiv geführt. Rückblickend muss man jedoch sagen, das EEG war eine institutionelle Innovation, die auch international ausgestrahlt hat.
Dr. U. Tillmann: Ich stimme zu, das EEG war effektiv, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu fördern. Anfangs, bei einer relativ geringen Ausbaukapazität, waren die Kosten dafür auch noch tragbar. Heute, bei einem Anteil von über 30 % erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung, sind sie enorm. Seit dem Start des EEG im Jahr 2000 wurde massiv und in steigendem Umfang in die Ausbauförderung investiert. Die EEG-Umlage, die alle Verbraucher über ihre Stromrechnung bezahlen, summiert sich bis heute auf über 194 Mrd. EUREuro. Das ist eine extrem teure Entwicklung, die sich so nicht fortsetzen darf. Strom muss bezahlbar bleiben.
Brauchen wir niedrige oder hohe Strompreise, um die Energiewende und die damit verbundenen Klimaschutzziele umzusetzen?
Prof. U. Schneidewind: Das ist eine spannende Debatte, die derzeit intensiv geführt wird, nicht nur von den betroffenen Industrien, sondern auch aufgrund sozialer Aspekte. Aus ökologischer Sicht bringt es die Formel von Ernst Ulrich von Weizäcker auf den Punkt: Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen. Einer der wichtigsten Effekte des EEG war, dass Strom teurer geworden ist und so ein Anreiz zum Energiesparen geschaffen wurde. Denn wir werden die Energiewende nur schaffen, wenn wir unseren Verbrauch entsprechend reduzieren. Das mit dem EEG verbundene Preissignal ist daher aus ökologischer Perspektive durchaus richtungssicher.
Dr. U. Tillmann: Ziel der Energiewende ist es, mit erneuerbaren Energien einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten – zu möglichst kostengünstigen Bedingungen. Das ist im Übrigen auch der Grundsatz beim Emissionshandel. Steigende Energiepreise stehen im Widerspruch zu diesem Ziel. Und das EEG schafft ein weiteres Dilemma: Um Kohlenstoffdioxidemissionen zu verringern und das Klima zu schützen, müssen wir nicht nur den Stromsektor auf erneuerbare Energien umstellen, sondern auch den Einsatz fossiler Energieträger bei der Wärmeerzeugung und im Verkehr reduzieren, zum Beispiel indem wir dort vermehrt Strom aus erneuerbaren Energien nutzen. Durch diese sogenannte Sektorenkopplung steigt jedoch der Stromverbrauch noch weiter an. Um innovative Lösungen wie die Elektromobilität zu fördern, müssen wir daher den Strompreis senken. Auch, um die Industrie in eine wettbewerbsfähige Situation zu bringen, damit sie diese Innovationen schaffen kann.
Inwieweit schwächen hohe Strompreise die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Chemieindustrie?
Dr. U. Tillmann: Diejenigen unserer Mitgliedsunternehmen, die besonders energieintensiv sind, fallen unter die Entlastungsregeln des EEG. In eigenen Umfragen haben wir festgestellt, dass diese Unternehmen international wettbewerbsfähig im Vergleich mit Unternehmen aus den USA und anderen Regionen der Welt sind. Das ist gut so. Aber das gilt leider nur für etwa 140 unserer insgesamt rund 1.700 Mitgliedsunternehmen. Auch unter den anderen sind energieintensive Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Sie müssen die Kostenbelastung durch die EEG-Umlage von derzeit 6,88 ct/kWh irgendwie „veratmen“, um ihre Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen am Weltmarkt anbieten zu können.
Prof. U. Schneidewind: Wir sollten unterscheiden zwischen Argumenten zur Wettbewerbsfähigkeit – die man sehr ernst nehmen muss – und der Grundaussage: Energie muss teuer sein. Denn wenn auch in Zukunft Innovationen nur dann möglich sind, solange Energie günstig ist, setzen wir völlig falsche Anreize im Hinblick auf die globalen ökologischen Herausforderungen. So wird beispielsweise die Digitalisierung zu einem gewaltigen Anstieg des Stromverbrauchs in einigen Sektoren führen. Ohne hohe Anreize, Informations- und Kommunikationstechnologien möglichst energiesparsam und -effizient voranzutreiben, werden wir riesige Probleme bekommen.
Auf der anderen Seite stehen wir vor der Herausforderung, dass es eben einzelne Industrien gibt, die sich im internationalen Wettbewerb befinden oder sehr energieintensiv sind, selbst wenn sie durch ihre Produkte gewaltige Energieeinsparungen in ihren Kundenindustrien erzeugen. Hier brauchen wir sinnvolle Lösungen. Denn eine energieeffiziente Informations- und Kommunikationstechnologie oder der Umbau des Mobilitätssektors wird nur mit moderner Chemie gelingen.
Wie könnte ein zukunftsfähiges Instrument aussehen, um die Energiewende umzusetzen? Welche Kriterien muss es erfüllen?
Dr. U. Tillmann: Um die Energiewende zu bewältigen, benötigen wir viel und kostengünstigen Strom. Das EEG bedarf daher einer grundsätzlichen Reform. Das Fördersystem, so wie es heute existiert, sollte eingestellt und die EEG-Umlage über die nächsten 20 Jahre abgebaut werden. Sie sollte nur noch bei Bestandsanlagen zum Tragen kommen. Neuanlagen sollten dagegen ab 2019 über den Bundeshaushalt finanziert werden. Zum einen, weil die Energiewende eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Zum anderen, weil Netzausbau und der Ausbau erneuerbarer Energien miteinander verbunden und synchronisiert werden müssen. Von einer Finanzierung über den Bundeshaushalt versprechen wir uns eine bessere parlamentarische Kontrolle der Kosten und perspektivisch eine Abnahme der derzeit hohen Belastung aller Stromkunden.
Prof. U. Schneidewind: Das EEG in seiner Ursprungsform war im Wesentlichen darauf aus, einen Nischensektor im Energiemarkt in die Menge zu bringen. Wenn man solch ein Instrument, das der Expansion dient, mit immer mehr Zusatzsteuerungsaufgaben überfrachtet, kann es sehr schnell ineffizient werden. Wichtig ist daher, dass jetzt Vorschläge gemacht werden, um die neuen Kopplungsherausforderungen, zum Beispiel die Infrastrukturplanung für Netze und Speichersysteme, stärker zu synchronisieren. Außerdem müssen wir Kapazitätsmärkte schaffen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Wenn man auf höhere Energiepreise als das grundsätzlich richtige Steuerungssignal setzt, muss man sektorspezifisch prüfen, wo bestimmte Ausnahmeregeln Sinn machen und wie sie gestaltet werden. Eine Automobilindustrie muss man nicht vor zu teuren Preisen für fossile Energien schützen, sie braucht diese Anreize. Eine hoch kompetitive deutsche Chemieindustrie, die in den letzten Jahren auf hohem Niveau die Dekarbonisierung und Energieeffizienz vorangetrieben hat und in einem komplett globalisierten Wettbewerb steht, braucht dagegen klar definierte Übergangs- und Ausnahmeregeln.
Ein Ersatz für die klassischen EEG-Regeln könnte zum Beispiel eine verbesserte Form des Emissionshandels oder eine direktere Form der CO2-Bepreisung sein. Für die Gestaltung eines solchen Systems bedarf es eines institutionellen Engineerings. Leider ist die Haltung gegenüber einer intelligenten institutionellen Steuerung sehr negativ. Häufig steht sie unter der Kritik zu starker oder zu komplexer Regulierung. Dagegen wird die Entwicklung eines hochkomplexen neuen Motors in der Automobilindustrie oder eines komplexen Moleküls in der Chemie zu Recht als positive Innovationsleistung wahrgenommen.
Die deutsche Chemiebranche unterliegt als energieintensive Industrie seit 2013 dem europäischen Emissionshandel. Ist dies ein wirksames Instrument zum Klimaschutz?
Prof. U. Schneidewind: Nach der reinen ökonomischen Lehre ist ein mengenbasiertes Handelssystem ein effizienter Weg, um Emissionen zu reduzieren. In der politischen Realität wurden jedoch zu viele Zertifikate ausgegeben, sodass deren Preis verfallen ist. Hierdurch fehlt die Lenkungswirkung. Es gibt für die Teilnehmer keinen wirklichen Anreiz mehr Emissionen einzusparen, obwohl dies kostengünstig realisierbar wäre. Wenn man am Emissionshandel festhält, ist es wichtig, die Zahl der Zertifikate erheblich einzuschränken, damit die europäischen Klimaschutzziele erreicht werden können. Zudem wird diskutiert, einen Mindestpreis einzuführen. Dieser gäbe jedem, der in eine CO2-Reduktionsmaßnahme investiert, die Sicherheit, dass sich seine Investition amortisiert. In Großbritannien gibt es eine solche Regelung seit vielen Jahren und sie hat sich erfolgreich etabliert.
Dr. U. Tillmann: Aus unserer Sicht ist der Emissionshandel ein funktionierendes System. Solange man an den Grundfesten eines Handelssystems festhält und aus dem mengengesteuerten kein preisgesteuertes System macht, ist alles in Ordnung. Gründe für den Überschuss an Zertifikaten sind erstens Gutschriften für Firmen, die in anderen Regionen der Welt in Klimaschutzmaßnahmen investiert haben, und zweitens die Wirtschaftskrise im Jahr 2009, die zu einem Produktionsrückgang geführt hat. Derzeit gibt es etwa 1,7 Mrd. Zertifikate zu viel am Markt, das entspricht ungefähr den Emissionen der europäischen Industrie und der Energiewirtschaft von einem Jahr. Da aber die Zertifikate jährlich stark reduziert werden – derzeit um 1,7 % und ab 2020 um 2,2 % – wird es automatisch zu einer Minderung kommen. Eine weitere Preissteuerung ist nicht notwendig.
Derzeit umfasst das System jedoch nur 50 % der Emissionen in Europa, die der Industrie und der Energieerzeuger. Landwirtschaft, Verkehr und private Haushalte verursachen jedoch ebenso große Mengen an Treibhausgasen. Hier gibt es hohe Einsparpotenziale, die mit klugen nationalen Maßnahmen erschlossen werden sollten. Zusätzliche nationale Klimaschutzziele für die Industrie führen dagegen zu einer doppelten Regulierung und sind nicht sinnvoll.
90 % der Kohlendioxidemissionen entstehen außerhalb Europas, etwa 20 % in den USA. Wie kann Klimaschutz weltweit – und ohne die USA – gelingen?
Dr. U. Tillmann: Mit dem Emissionshandel verfügt die EU über ein Instrument, mit dem Treibhausgase verlässlich reduziert werden. Ein Emissionshandel auf G20-Ebene würde den Großteil der globalen Industrieemissionen erfassen und wäre daher ein wirksamer Schritt zu mehr Klimaschutz weltweit und mehr fairem Wettbewerb. Ein G19-Emissionshandel ohne die USA hat dagegen deutlich weniger Wirkung. Aber wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Kündigung des Pariser Abkommens durch die USA wird erst in vier Jahren wirksam. Bis dahin kann noch viel passieren.
Unabhängig davon müssen wir entgegenwirken, dass es zum sogenannten Carbon Leakage kommt. Es darf nicht passieren, dass Unternehmen aufgrund der hohen CO2-Kosten Produktion aus Europa in Regionen mit geringeren Klimaschutzanforderungen verlegen.
Prof. U. Schneidewind: Wenn wir den globalen Klimaschutz ernst nehmen, bedeutet das eine massive Entwertung heutiger fossiler Rohstoffressourcen. Denn wir dürfen nur noch einen Bruchteil dessen, was an Kohle, Erdgas oder Erdöl in der Erdkruste gebunden ist, in die Atmosphäre bringen. Davon sind bestimmte Länder und Regionen massiv betroffen. Hier muss man über selektive Lösungen nachdenken.
Das aktuelle Verhalten der USA zeigt, dass wir über die Stabilisierung des bestehenden Klimaregimes nachdenken müssen. Wir müssen weg von der Erpressbarkeit, dass einzelne wichtige Spieler den globalen Prozess blockieren können. Dies gelingt, in dem wir über neue Bündnisarchitekturen, sozusagen Netzwerke von Willigen nachdenken, die ihr gemeinsames klimapolitisches Engagement mit anderen Anreizsystemen koppeln, zum Beispiel Marktzugängen oder Handelsabkommen. Im Übrigen gibt es auch, und gerade in den USA viele dieser Willigen. Dies macht die große positive Resonanz vieler Bundesstaaten, Städte und Unternehmen deutlich, die nach der Erklärung von Präsident Trump aus dem Klimaschutzabkommen von Paris aussteigen zu wollen, deutlich gemacht haben, dass sie nach wie vor zu der Verpflichtung stehen.
Die hier diskutierten industriepolitischen Maßnahmen zu Energiewende und Klimaschutz wirken sich unmittelbar auf die Wettbewerbsfähigkeit und damit auf das Wachstum der deutschen Chemieindustrie aus. Welche Entwicklung erwarten Sie für die deutsche Chemie?
Dr. U. Tillmann: Die Zukunftsperspektive der deutschen Chemie ist gut. Die Kombination aus Forschung und Produktion in Deutschland generiert Wachstum, was wiederum zu neuen Investitionen führt. Das ist unsere Zukunftssicherung. Die darf nicht aufgelöst werden. Denn ohne Wachstum käme es zu Rückschritt und damit zu weniger Investitionen. Bereits seit 2012 liegen die Investitionen deutscher Chemieunternehmen im Ausland über den Inlandsinvestitionen. Große Anlagen entstehen derzeit in den USA; Treiber ist hier nicht der Markt, sondern die Energiepreise.
Unser Update der Prognos-Studie ,Chemie „2030“ zeigt auch, dass sich die Struktur der deutschen Chemieindustrie verändern wird. Es wird mehr Spezialchemie und Pharma geben, der Anteil der Basischemie geht zurück.
Prof. U. Schneidewind: Ökologisch betrachtet muss die Chemiebranche eine „Schrumpfungsindustrie“ sein: Sie muss mit weniger Stoffeinsatz und sehr viel weniger Energieeinsatz neue künstliche Stoffe produzieren, die unsere Welt in den nächsten Jahrhunderten, Jahrtausenden prägen werden. Ich hoffe, dass die Industrie in 50 bis 70 Jahren mit einem Drittel der Energie auskommt und etwa ein Zehntel an Stoffmengen. Es wird darauf ankommen neue Stoffe und Produkte mit extrem hoher Intelligenz und Langlebigkeit zu produzieren, die weitgehend in Kreisläufen geführt werden. Hierzu braucht es ein hochinnovatives Umfeld.
Dr. U. Tillmann: Die Chemie steht für innovative und intelligente Lösungen, die sie vor allem für ihre Kunden in der Industrie erarbeitet. Aber sie entwickelt auch zahllose Produkte für den täglichen Bedarf der Menschen. Und die Weltbevölkerung wächst weiter. Daher sehe ich diesen drastischen Schrumpfungspfad bei der Produktionsmenge nicht. Richtig ist aber: Es findet eine evolutionäre Weiterentwicklung der Branche statt, deren Trend eher einem qualitativen als quantitativen Wachstum folgt.
Prof. U. Schneidewind: Was das ökonomische Wachstum der deutschen Chemieindustrie angeht, bin ich sehr optimistisch. Sie bleibt auch künftig eine Wachstumsindustrie. Zwar werden Märkte und Produktionsstandorte außerhalb Deutschlands an Bedeutung gewinnen, aber intelligente Chemie wird auch weiterhin an einem wissens- und innovationsstarken Standort wie Deutschland entstehen. Die Chemieindustrie kann daher gelassen an die von Herrn Tillmann beschriebenen Umbauprozesse herangehen. Denn mittel- und langfristig wird die Chemieindustrie der absolute Gewinner des Umbaus dieser Welt in eine klimagerechte Welt sein.