Anlagenbau & Prozesstechnik

Impfstoffproduktion: „Best-in-class”

Gebäudeleittechnik in der pharmazeutischen Industrie

05.03.2012 -

Die Herstellung pharmazeutischer Produkte verlangt neben ausgereifter Prozesstechnik eine exakte Einhaltung vorgegebener Umgebungsbedingungen - Raumtemperatur, Raumdifferenzdruck, Luftfeuchtigkeit und -qualität sind wichtige Faktoren für Produktqualität und Prozesssicherheit. Für Gebäudeautomationssysteme (BAS, Building Automation System) gelten deshalb ganz spezielle Anforderungen und immer strengere behördliche Vorgaben.

In pharmazeutischen Produktionsanlagen muss die Gebäudeinfrastruktur vom ersten Raumlayout über die bauliche Ausführung bis zum Managementsystem hohen Ansprüchen gerecht werden. Dies gilt besonders in biotechnologischen Anlagen, zu denen auch die Produktion von Impfstoffen gehört. Das Ziel ist die permanente Gewährleistung der Produktreinheit. Heizungs-, Lüftungs- und Klimatechnik (HLK) sorgen rund um die Uhr für kontrollierte Bedingungen. Bei Regelung, Überwachung und behördengerechter Aufzeichnung und Archivierung sämtlicher produktionsrelevanter Umgebungsbedingungen dürfen keine Fehler auftreten - eine Herausforderung, der sich Gebäudeautomationssysteme stellen müssen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Betrieb von Reinräumen. Diese unterliegen den strengen Regularien der deutschen und europäischen Aufsichtsbehörden, aber auch der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA).
Beim Betrieb von Reinräumen dürfen festgelegte Grenzwerte für luftgetragene Partikel sowie für die mikrobielle Kontamination von Luft oder Oberflächen nicht überschritten werden. Im Rahmen der Validierung, also des Nachweises, dass der entsprechende Produktionsprozess ein Produkt mit den spezifizierten Eigenschaften erzeugt, greifen speziell für Reinräume z. B. der Annex 1 des EU GMP (Good Manufacturing Practice) Leitfadens, der „Aseptic Guide" der FDA, die ISO-Standards 14644 und 1340-1 sowie die Vorgaben der VDI 2083.

Betrieb von Biotech- und Pharma-Anlagen
Ein namhaftes, weltweit operierendes Pharmaunternehmen hat im Rahmen eines europäisches Vorzeigeprojektes eine neue Produktionsanlage für Impfstoffe - bestehend aus Lagergebäude für Ausgangsprodukte, Produktionsgebäude, Qualitätskontrollgebäude und Energiezentrale - an einem Standort in Deutschland in einer sehr kurzen Bauzeit errichtet. In der Produktionsanlage soll aseptisch, also unter den höchsten Anforderungen an die Keimfreiheit der Präparate, produziert werden („aseptic processing"). Durch einen in weiten Teilen identischen Kernprozess können in zwei Produktionslinien innerhalb eines Produktionsbetriebes zwei aktive Virenstämme zeitgleich verarbeitet werden. Dies sorgt für komplexe Anforderungen in der Handhabung: Die Klimatechnik muss einen Luftaustausch zwischen den entsprechenden Reinraumbereichen sicher verhindern. Bei der Zuführung von Medien und Saatviren über den Versorgungsgang, bei Ausfall von einzelnen HLK-Komponenten, starken Luftdruckschwankungen oder bei Wartungsstillständen müssen deshalb Regel- und Steuerungsparameter in großem Umfang situativ angepasst werden.
Neben dem sicheren Erkennen und Erfassen dieser Zustände ist die umfangreiche Veränderung der Parameter eine regelungstechnische Herausforderung, die bislang besonders vor dem Hintergrund der Validierbarkeit unlösbar schien. Insbesondere beim Umgang mit „neuen" oder in ihrer biologischen Gefährdung höher eingestuften Erregern zur Herstellung entsprechender Impfstoffe, wie zum Beispiel bei Pandemien oder dem SARS Erreger, legt man deshalb bei der Validierung besonderes Augenmerk auf das BAS.
Im vorliegenden Projekt wurde ein BAS auf Basis von Simatic PCS 7 realisiert, mit dem man dem Anspruch als Exzellenzzentrum zur Herstellung von Impfstoffen gerecht werden will. Die Wahl auf das Prozessleitsystem von Siemens fiel insbesondere wegen seiner ausgeprägten Integrationsfähigkeit und offenen Schnittstellen. Ziel war es, sämtliche Gebäude des neuen Werks, von der Produktion über das Lager und die Prüflabore bis zum angeschlossenen Blockheizkraftwerk, in einem einheitlichen, durchgängigen System zu integrieren.

Engineering-Partner
Für die Planung, Errichtung und Programmierung der Gebäudeinfrastruktur und des Managementsystems suchten die Projektverantwortlichen einen Partner, der den innovativen Ansatz in Spezifikationen fassen und weiter verfeinern sollte. Um die ambitionierten Termine halten zu können, wurden Erfahrungen im Pharmaumfeld und Detailkenntnisse von Simatic PCS 7 vorausgesetzt. Man entschied sich für die Stadler+Schaaf Mess- und Regeltechnik GmbH, ein Unternehmen, das seit über 25 Jahren ganzheitliche Lösungen für die Automation in der Prozess- und Fertigungsindustrie bietet. Das Unternehmen ist zertifizierter „Process Control System Simatic PCS 7 Specialist".
Im Projekt wurde Stadler+Schaaf mit der Detailplanung, Programmierung, Lieferung, Montage, Verkabelung und Inbetriebnahme des gesamten Building Automation Systems mit mess- und regeltechnischen Ausrüstungen, ca. 2.700 Feldgeräten, 180 Schaltschränken für Motor Control Center (MCC) und Automationskomponenten, beauftragt. Das BAS kommt in unterschiedlichen Bereichen zum Einsatz: Es sorgt für die gewünschten Raumkonditionen in den Laboren, im Warenlager und in der Produktion und wird als Managementsystem für die zentrale Energieversorgung genutzt.

Zentrale Energieversorgung mit Blockheizkraftwerk
Die Energiezentrale versorgt das Werk nicht nur rund um die Uhr mit elektrischer Energie, sondern stellt auch Dampf, Druckluft und Kälte bedarfsgerecht zur Verfügung. Von der sicheren Medienversorgung hängt die gesamte Anlagenfunktion ab; vor allem die sensiblen Reinraumbedingungen können nur aufrechterhalten bleiben, wenn die Infrastruktur stimmt. Gut ein Dutzend Teilanlagen mit separaten Steuerungen (Package Units) wie Turbinen, Generatoren etc. sind an das BAS angebunden und können zentral überwacht und gesteuert werden. Zwei hochverfügbare Automatisierungssysteme Simatic S7-417H sorgen für einen störungsfreien Betrieb. Ein implementiertes Lastmanagement verhindert Lastspitzen bei veränderten Anforderungen aus der Produktion.
Ein gestaffeltes Zu- und Abschaltkonzept für Verbraucher trägt ebenfalls zum Lastgleichgewicht sowie zum Maschinen schonenden Betrieb bei. Alle wesentlichen Antriebe sind frequenzgeregelt. Eine besondere Herausforderung war die Umsetzung des „Inselbetriebes", mit dem die kritischen Bereiche des Werks autark von der regionalen Stromversorgung betrieben werden können, z. B. bei einem Störfall im Hochspannungsnetz des Versorgers, Unterbrechung der Zuleitung zum Werk oder einem Trafodefekt. Mit dem installierten M-Bus-System können in Zukunft die Verbrauchswerte der Energieversorgung in die Überwachung und Visualisierung des Building Automation Systems integriert werden.

Umfangreiches Automatisierungsgerüst
Die Produktion erfolgt im Wesentlichen in Reinräumen der Klasse C und D; es kommt biologisches Material mit Sicherheitseinstufung von 1 bis 3 zum Einsatz. Knapp 10.000 Hardware-Signale, über 4.300 virtuell basierte Datenpunkte und insgesamt 14 Simatic-Automatisierungssysteme bilden die Basis des BAS, das in den Anlagen-Funktionsbereichen unter anderem 76 autarke Lüftungs- und Klimaanlagen regelt und steuert. Für die Bedienung und Beobachtung der Anlagen erfolgt über eine Siemens HVAC-Bausteinbibliothek (Heating, Ventilation, Air Conditioning) mit Funktions- und Bildbausteinen, die für die Anforderungen an die Reinraumparameter entsprechend weiterentwickelt wurde. Die Stabilität der qualifizierten Parameter wird mit komplexen Reglern, zum Beispiel neu entwickelten Druck-/Volumenstromkaskadenreglern, sichergestellt. Eine automatisierte Parameterumschaltung verhindert ein Überschwingen der Klimaanlagen.
Ein besonderes Sicherheitsmerkmal ist die Messung von Gaskonzentrationen in den Qualitätsprüflaboren: Um der Aufkonzentration von Gasen entgegenzuwirken, werden die Lüftungsparameter bei Bedarf automatisch verändert. Partikelzähler in besonderen Arbeitsbereichen überwachen kontinuierlich die Einhaltung der behördlich vorgeschriebenen Reinraumbedingungen. Ein paralleles, vom BAS unabhängiges und qualifiziertes Monitoringsystem liefert für jeden Reinraum valide Daten. Sämtliche Sensoren sind kalibriert und gewährleisten die vorgeschriebene Rückverfolgbarkeit.
Die Offenheit von Simatic PCS 7 ermöglichte die einfache Integration eines Brandschutzklappensteuerungssystems für mehr als 200 Brandschutzklappen auf Basis eines 2-Draht- Feldbusses (Actuator-Sensor-Interface) via Modbus. Die Kommunikation für einen Großteil der Package Units und Feldkomponenten erfolgt über Profibus DP. So können neben Prozesswerten beispielsweise auch Diagnosedaten der Feldgeräte hochperformant an das BAS geliefert werden.
Eine Kopplung an ein „PI System", ein Produkt von OSIsoft LLC zur leistungsfähigen Datenanalyse und -archivierung, wurde über einen OPC-Server realisiert. Neben einem Web-Server, über den ein werksweiter Zugriff auf das BAS sichergestellt wird, ist das Simatic PCS 7 Add-on-Produkt „Alarm Control Center" im Einsatz. Mit dem modularen Alarm-Management-System wurde die gesamte BAS-Alarmierung aufgebaut.

Validierung, Archivierung, Wartung
Da im Rahmen der Validierung für sämtliche Systeme, die Einfluss auf die Produktqualität haben, der Nachweis erbracht werden muss, dass sie die spezifizierten Anforderungen im Einsatz erfüllen, gilt dies auch für das BAS. Der Einsatz des Siemens-Prozessleitsystems erleichterte den sonst aufwendigen Genehmigungsprozess, da es aufgrund der verwendeten Standards bereits für den Einsatz in validierungspflichtigen Produktionsanlagen konzipiert ist. Dementsprechend kann es als bereits getestete Standard-Herstellersoftware eingestuft werden.
Betrachtet man die reinen Hardwarekosten, so ist die realisierte Lösung sicherlich kostspieliger als andere. Betrachtet man aber das Projekt und seinen Lebenszyklus als Ganzes, wird schnell deutlich, dass allein durch die qualifizierbaren Schnittstellen oder das zentrale Engineering beachtliche Zeit- und Kostenersparnisse erreicht werden. Simatic PCS 7 erfüllt auch im Bereich der Dokumentation, Archivierung und Wartung zukünftige Anforderungen, sowohl von Seiten der Behörden als auch der Anwender.
Das Building Automation System unterstreicht als ein besonderes Element den innovativen Anspruch des Projektteams des Kunden bei der Errichtung der Anlage. Dass dieser Anspruch vollständig erfüllt wurde, zeigt unter anderem die Auszeichnung für dieses Neubau-Projekt in einer Kategorie des renommierten „Facility of the Year Award". Mit der Ausführung des BAS durch Stadler+Schaaf wurde ein Standard geschaffen, der auch in anderen Werken und bei anderen Unternehmen eingesetzt werden kann. So können künftig auch weitere Standorte und Kunden von der Durchgängigkeit, dem einheitlichen Monitoring und der unkomplizierten Qualifizierung des BAS auf Basis von Simatic PCS 7 profitieren. 

Kontakt

Siemens AG Industry Automation Division

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