Herausforderung Turnaround
Gute Planung ist das halbe Leben
Die VDI-Betriebsingenieure der Regionalgruppe Rhein-Main-Neckar tauschten ihre Turnaround Erfahrungen aus. Ausführlich besprochen wurden Energiestillstände und das Bilfinger Turnaround Concept (BTC).
Eine wichtige wiederkehrende Aufgabe des Betriebsingenieurs ist die Planung und Abwicklung von Turnarounds – dem Anlagenstillstand, an dem alle wichtigen Prüfungen und Inspektionen an der Produktionsanlage durchgeführt werden. Das wesentliche Ziel eines Turnaround-Managementprozesses ist die erfolgreiche Planung und sichere Abwicklung eines Anlagenstillstands bzw. Turnarounds von minimaler Dauer innerhalb der notwendigen Kosten. 2005 provozierte David Fontenot die Community mit der Aussage, dass aufgrund unzureichender Planung und Ausführung 90 % aller Turnarounds nicht alle vorgegeben Ziele erreichen, 50 % aller Turnarounds ihre Budgets um mehr als 10 % und die geplante Stillstandsdauer um mehr als 30 % überziehen sowie 95 % aller Empfehlungen der abgeschlossenen Turnarounds nicht umgesetzt werden. Ist das heute immer noch der Fall?
Energiestillstände
Timo Krämer, Koordinator der Stillstandsabwicklung Merck, berichtete über die über 50-jährigen Erfahrungen der Energiestillstände, die im Produktionsstandort Merck Darmstadt alljährlich zu Fronleichnam stattfinden und vielfältige Maßnahmen in den unterschiedlichsten Gewerken umfassen.
Jeder Energiestillstand birgt eine besondere Herausforderung, weil der Stillstand nicht nur eine einzelne Produktionsanlage betrifft, sondern das gesamte Werksgelände umfassen kann. Die mit dem Stillstand beauftragte Abteilung steht damit im Spannungsfeld von verschiedenen Anforderungen, Bedarfen und Interessen. Zum einen wird eine schnellstmögliche und vollständige Verfügbarkeit erwartet. Zum anderen bietet der Stillstand die optimale Gelegenheit für Wartungen und Prüfungen an allen Energie- und Produktionsanlagen sowie die Durchführung von Investitionsprojekten. Als zusätzliche Herausforderung sollen auch individuell geplante Einzelmaßnahmen der Ingenieure von Produktion und Energieversorgung integriert werden, und häufig werden dann noch Änderungen in letzter Minute durch Ad-hoc-Priorisierung z. B. bei kurzfristigen Anlagenschäden erforderlich. Im Ergebnis können die benötigten Ressourcen an Material und Personal nur schwer geplant werden. Eine besondere Komplexität birgt dabei das reibungsarme Zusammenspiel der Eigen- und Fremdleistungen.
Stillstandskoordination
Der zentralen Koordination kommt daher eine große Bedeutung zu. Die Aufgaben der zentralen Koordination bei Merck Darmstadt umfassen u. a. eine intensive Abstimmung mit dem Management, das Monitoring der Auftragseingänge mithilfe einer kontinuierlich gepflegten Revisionskennzeichnung, die Planung von Terminen und Ressourcen und insbesondere ein abgestimmter Freezing-Point, nachdem keine weiteren Maßnahmen mehr in den Arbeitsumfang integriert werden bzw. bis zu dem die Ausführung der bis dahin beauftragten Maßnahmen zugesichert wird. Grundlage für die erfolgreiche Abwicklung sind die zentrale werksweite Kommunikation und Stillstandankündigung sowie der Review-Prozess, bei dem im Nachgang die Optimierungsbedarfe zukünftiger Stillstände ermittelt werden.
Die Bedeutung eines erfolgreichen Turnaround-Managements wurde bei Merck Darmstadt früh erkannt und hat sich über die Jahre zu einem „Premiumprodukt“ der Dienstleistung für den Standort Darmstadt entwickelt. Die Instandhaltungsplaner sind die zentralen Ansprechpartner, bieten große Zuverlässigkeit, hohe Transparenz und einen wichtigen Mehrwert für alle Beteiligten in Forschung und Produktion.
Phasenmodell eines Turnaround-Managementprozesses
Ergänzend und alternativ zur werkseigenen Stillstandskoordination bei Merck stellte Dennis Lubsch das Bilfinger Turnaround Concept (BTC) vor. Dieses orientiert sich an dem bewährten Phasenmodell eines professionellen Turnaround-Managementprozesses, wie er in der Richtlinie VDI 2775 Blatt 1 „Turnaround Management; Grundlagen“ (in Vorbereitung) unter Mitwirkung von Dennis Lubsch beschrieben wird. In sechs aufeinanderfolgenden Phasen werden die verschiedenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar geregelt: Definition, Basisplanung, Detailplanung, Vorbereitung (Countdown), Turnaround, Nachbereitung.
Phase 1 umfasst die ersten Aktivitäten, bei denen der Arbeitsumfang, die Budgetierung und die kritischen Aufgaben definiert werden. Bereits zu Beginn führt Bilfinger eine sogenannte Verifikation durch, um die Bereitschaft, die Einhaltung von Best Practices und den Lerntransfer aus dem kontinuierlichen Verbesserungsprozess sicherzustellen.
Anschließend beginnt Phase 2. In dieser Phase erfolgt die Basisplanung des Turnarounds. Es werden die Arbeitsabläufe für das Ab- und Anfahren der Anlage, die Zeit- und Kostenabschätzung sowie die technische Auftragsformulierung und vor- bzw. nachlaufende Maßnahmen festgelegt. Nach Ende dieser Phase wird der vereinbarte Arbeitsumfang eingefroren (Scope Freeze). Nach diesem Zeitpunkt dürfen zusätzliche Maßnahmen nur im Rahmen eines sogenannten Scope-Change-Prozesses in den festgelegten Arbeitsumfang integriert werden. Dabei muss bewertet werden, inwiefern die vereinbarte Zeit- und Kostenplanung aufrechtzuerhalten ist.
In Phase 3 erfolgt die Detailplanung. In dieser Phase wird die Basisplanung weiter spezifiziert. Hier müssen Arbeitspakete erstellt und ggf. ausgeschrieben werden sowie Materialbestellungen und -reservierung vorgenommen werden. Wichtig sind auch die Planung der Infrastruktur sowie die Festlegung eines Organigramms und eines Kommunikationsplans für die nachfolgenden Phasen.
Phase 4 beschreibt die Vorbereitung des Turnarounds und wird als Countdown-Phase bezeichnet. Wichtige Elemente dieser Phase sind Errichtung der Infrastruktur, Erstellung der Baustellenordnung sowie die Integration möglicher Kontraktoren und die Ausführung von Vorarbeiten.
Die Durchführung des Turnarounds erfolgt schließlich in Phase 5, in der die Außerbetriebnahme der Anlage und die Ausführung des sogenannten Kernstillstands erfolgen. Zentrale Anforderungen sind dabei die Sicherstellung der Arbeitssicherheit, die Sicherheitskoordination und die Sicherstellung der Ausführungsqualität. Parallel erfolgt eine zeitnahe Termin- und Kostenüberwachung für die Sicherstellung dieser Erfolgsparameter sowie die Pflege der Dokumentation. Nach Inbetriebnahme ist der Turnaround-Prozess noch nicht abgeschlossen.
In Phase 6 Nachbereitung müssen eventuelle nachlaufende Arbeiten (entsprechend einer möglichen Restpunkteliste) abgearbeitet, die Dokumentation abgeschlossen und die Abrechnung durchgeführt werden. Für die Gesamtbewertung des Turnarounds ist ein Abschlussbericht und die Dokumentation der Lessons Learned einschließlich der Festlegung weiterer Maßnahmen und Verantwortlichkeiten erforderlich. Wenn diese Tätigkeiten erledigt sind, wird das Turnaround-Team entlastet und aufgelöst.
Strategische Fragen des Turnarounds
Die Planung und Durchführung des kompletten Turnarounds auf Basis dieses Phasenmodells mit allen Gewerken sind jedoch nur ein Bestandteil des Bilfinger Turnaround Concept. Darüber hinaus beschäftigt sich das Konzept auch mit den strategischen Fragen des Turnarounds: Wie kann auch in Zukunft der hohe Anspruch an Arbeitssicherheit und Qualität erfüllt werden? Wie und woher können ausreichend Fachkräfte mobilisiert werden? Welche Chancen und Anwendungsmöglichkeiten bietet die Digitalisierung, um den Turnaround effizienter zu gestalten? Die Antworten fasst Bilfinger in den neun Modulen seines Bilfinger- Turnaround-Konzepts (BTC) zusammen.
Eine Lösung ist der Aufbau eines europaweiten Turnaround-Ressourcen-Netzwerkes, welche der Dienstleister bereits gemeinsam mit Betreibern aus mehreren Industrien umsetzt. Dabei können sich interessierte und flexible Mitarbeiter mit ihren Qualifikationen in einer Datenbank registrieren und bei Bedarf leichter gefunden werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der innovativen Informations- und Kommunikationstechnologie sowie in den verfügbaren digitalen Hilfsmitteln für den Turnaround. Dazu gehören Smartphone Apps und mobile Online-Lösungen, die z. B. eine digitale Live-Verfolgung der Arbeitsfortschritte ermöglichen. Dadurch wird die direkte Kommunikation der Beteiligten erleichtert sowie Lauf- und Transportwege reduziert, was neben einer stets aktuellen Fortschrittskontrolle auch eine Erhöhung der Arbeitssicherheit zur Folge hat. Auch kurze Lernvideos, z. B. für Arbeitsanleitungen an kritischen Bau- und Anlagenteilen, leisten einen Beitrag zur Erhöhung der Arbeitssicherheit.
In einer Pilotphase wird derzeit die logistische Nachverfolgung von Equipments wie z. B. Sicherheitsventilen mithilfe kleiner leistungsfähiger Sensoren erprobt. Als einer der international führenden Dienstleister für die Prozessindustrie ist das Turnaround-Management von Bilfinger ein wichtiger Bestandteil des Dienstleistungsportfolios für den gesamten Lebenszyklus einer Prozessanlage.