Märkte & Unternehmen

Evonik zeigt sich in der Coronakrise robust

Gut aufgestellt - Evonik gliedert Geschäft in vier Divisionen

15.07.2020 - Rund 80% des Portfolios der Evonik entfallen auf die Spezialchemie; 2010 lag dieser Anteil noch bei 40%

Durch Übernahmen, Verkäufe sowie Maßnahmen zur Kosteneinsparung und für mehr Effizienz hat sich der Konzern in den vergangenen Jahren neu aufgestellt und profitiert nun davon in der Coronakrise. Mit Wirkung zum 1. Juli überführte das Unternehmen sein Segmentgeschäft in die vier Divisionen Specialty Additives, Nutrition & Care, Smart Materials sowie Performance Materials und bündelte die Forschung in einer globalen Einheit. Andrea Gruß sprach mit Harald Schwager, Vorstand für Chemie und Innovation bei Evonik und stellvertretender Vorsitzender des Gremiums, über die Neuaufstellung des Essener Konzerns sowie erwartete und unerwartete Auswirkungen der Covid-19-Pandemie.

CHEManager: Herr Schwager, wie geht es Evonik in der Coronakrise?

Harald Schwager: Wir sind trotz der konjunkturellen Abschwächung solide ins neue Jahr gestartet. Der Umsatz ging im ersten Quartal nur leicht um 1 % zurück. Auch über das zweite Quartal mache ich mir keine Sorgen. Zwar sind wir in der Logistik und in der Produktion aktuell mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, aber wir spüren keine negativen Auswirkungen auf die Produktivität. Unsere weltweit 125 Anlagen laufen. Lediglich zu Beginn der Pandemie gab es an einigen kleineren Standorten staatlich verordnete Stillstände. Allerdings gibt es auch Produkte, bei denen wir einen Absatzrückgang bis zu 30 % spüren.

Führt das zu Kurzarbeit bei ­Evonik?

H. Schwager: Nur vereinzelt in der Produktion. Wenn Sie eine Anlage mit 70 % der Auslastung fahren, ist das meist mit höherem Arbeitsaufwand für Kontrollaufgaben verbunden als ein Betrieb bei hoher Auslastung. Insgesamt sind derzeit nur etwa 330 unserer rund 19.500 Mitarbeiter in Deutschland in Kurzarbeit. Zirka 85 % der Mitarbeiter arbeiten in den Bereichen Catering­service und Messebau, nur wenige in der Produktion. 

Wie funktioniert der Betrieb bei Evonik in Zeiten von Corona? Wie wirken sich die Lockerungen der Schutzmaßnahmen auf Ihre Arbeit aus?

H. Schwager: Wir haben sehr früh und konsequent Maßnahmen ergriffen, um die Gesundheit unserer Beschäftigten bestmöglich zu schützen und zugleich den Betrieb aufrecht zu erhalten. An allen Standorten gelten sehr hohe Hygienestandards. Zugleich wurden in der Produktion unterschiedliche Teams und in der Verwaltung binnen kürzester Zeit, wo möglich, Heimarbeitsplätze geschaffen und die bestehenden flexiblen Arbeitszeitmodelle genutzt, um den Kontakt zwischen den Mitarbeitern zu reduzieren. Die Maßnahmen wurden zunächst weltweit zentral vom Vorstand gesteuert. Seit Juni erfolgt dies regional in den Ländern, denn die Umstände in den USA sind andere als in Deutschland oder China. Insgesamt gab es bei uns bis Anfang Juli 87 Infizierte, davon 50 in Deutschland. 
Aktuell stehen wir vor der Herausforderung: Je stärker die Maßnahmen im zivilen Leben gelockert werden, desto schwieriger wird es für uns, den Mitarbeitern in den Werken zu vermitteln, dass sie sich deswegen umso strikter an die Vorgaben halten müssen. Denn nur eine Hand voll infizierte Mitarbeiter an der falschen Stelle könnte einen hohen Schaden für unser Geschäft bewirken.


„In jedem Kulturkreis, jedem Land wird sich eine
andere ‚neue‘ Normalität nach Corona einstellen."

 

Während andere Chemiekonzerne noch keine Vorhersage für das Jahr 2020 wagen, hat Evonik im Mai seine Prognose für das laufende Jahr nur leicht nach unten korrigiert. Bei welchen Geschäften spüren Sie aktuell eine veränderte Nachfrage?

H. Schwager: Wir haben ein sehr großes Silica-Geschäft und produzieren weltweit etwa 1 Mio. Tonnen Kieselsäure pro Jahr. Aktive Kieselsäuren werden unter anderem bei der Reifenproduktion dem Kautschuk beigemischt, um den Abrieb der Reifen zu senken. Hier haben wir erwartungsgemäß einen Umsatzrückgang in den vergangenen Monaten beobachtet. 
Unerwartet war für uns hingegen der deutliche Anstieg der Nachfrage bei speziellen Kieselsäuren für die Mundpflege. Die Menschen haben offensichtlich während des Lockdowns häufiger Zähne geputzt. Insgesamt gewann Hygiene an Bedeutung. Die Nachfrage nach Haushaltspflege- und Hygieneprodukten stieg. Zudem gab es einen Shift zu den als qualitativ höherwertig eingeschätzten Lieferanten, zum Beispiel bei Windeln. Hiervon haben wir profitiert, weil wir genau diese mit unseren Superabsorbern beliefern. 
Ein gegenläufiger Trend zeichnet sich bei Kosmetika ab: Wenn sich Menschen weltweit weniger treffen, nutzen sie auch weniger Tönung fürs Haar oder seltener einen Lippenstift. Das wird sich negativ auf den Markt für Personal-Care-Produkte auswirken und damit auch auf uns als Zulieferer dieser Branche. 

Wie verändert sich der Markt für Ernährung in der Krise?

H. Schwager: Wenn Menschen sich während einer Krise um ihr Einkommen sorgen, korreliert dies interessanterweise mit einem „Downgrading“ beim Fleischkonsum. Menschen, die früher Rind gegessen haben, essen dann Schwein, Konsumenten von Schweinefleisch Hühnerfleisch und die Esser von Hühnerfleisch steigen auf Gemüse um. In der Regel profitieren in Krisenzeiten weltweit die Produzenten von Hühnerfleisch, und genau das sind wichtige Kunden unserer Aminosäuren sowie anderer Evonik-­Produkte für die Tierernährung.

Wird die Coronakrise die weltweiten Märkte dauerhaft verändern?

H. Schwager: Ja, aber die Auswirkungen der Coronakrise werden abhängig von der Kultur und dem Reifegrad einer Gesellschaft anders ausfallen. Ich erläutere Ihnen das an einem Beispiel: In Deutschland hören Sie derzeit sehr oft, dass sich das Mobilitätsverhalten der Menschen nachhaltig ändern und sich dies negativ auf den Verkauf von Automobilen auswirken wird. Unsere Kollegen aus China berichten genau das Gegenteil. Dort möchten seit Beginn der Pandemie mehr Menschen ein eigenes Auto besitzen, um nicht mit dem Bus fahren zu müssen, in dem sie einer erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind. In jedem Kulturkreis, jedem Land wird sich eine andere „neue“ Normalität nach Corona einstellen. Als international agierendes Unternehmen müssen wir daher weltweit unsere Fühler ausstrecken, um diese Trends zu antizipieren, die Wirkung auf unser Geschäft abzuschätzen und frühzeitig zu agieren. Dabei kommt uns die Neuaufstellung unseres Geschäfts und unserer Forschung ab dem 1. Juli 2020 zu gute.

Was hat sich zum 1. Juli 2020 bei Evonik verändert?

H. Schwager:  Wir haben unsere Konzernstruktur an die vor zwei Jahren definierten Wachstumskerne angepasst. Die bisherigen operativen Segmente wurden in vier Divisionen überführt, die in ihrer Größe und Art der Geschäfte ausgeglichener sind und sich durch klare strategische Rollen, gemeinsame Endmärkte und eine eindeutige Zuordnung der Technologieplattformen leichter steuern lassen. Von den vier Divisionen – Specialty Additives, Nutrition & Care, Smart Materials sowie Performance Materials – sind drei auf Wachstum ausgerichtet; auf diese Sparten werden wir künftig unsere Investitionen konzentrieren. Hier erwarten wir Wachstumsraten von durchschnittlich mehr als 3 % pro Jahr. 
Die vierte Sparte, Performance Materials, umfasst kapitalintensive Geschäfte mit Superabsorbern, Alkoholaten und anderen großvolumigen chemischen Zwischenprodukten, bei denen wir in einem hohen internationalen Wettbewerb stehen. Hier sind keine Großinvestitionen geplant. Diese Geschäfte werden wir mit den bestehenden Kapazitäten weiterentwickeln.

Geht der Konzernumbau mit einem Stellenabbau einher?

H. Schwager: Durch den Konzernumbau werden insgesamt 150 Stellen bis Ende 2021 entfallen, das entspricht jährlichen Einsparungen von 25 Mio. EUR. Dies betrifft durch den Entfall der Legalstrukturen insbesondere administrative Funktionen in den bisherigen operativen Segmenten.

Mit dem Konzernumbau geht auch eine Restrukturierung der Evonik-Forschung einher. Wie ist diese seit Anfang Juli aufgestellt?

H. Schwager: 85 % unserer Forschung erfolgte bislang in den Segmenten. Unabhängig davon gab es kleinere, zentrale Einheiten wie Creavis, die sich auf mittel- und langfristige Innovationsprojekte sowie die Entwicklung der Wachstums- und Nachhaltigkeitsstrategie des Konzerns konzentriert. Zum 1. Juli haben wir unsere weltweit etwa 2.500 Mitarbeiter in der Forschung in einer zentralen Einheit gebündelt, ohne dass sie die Nähe zu ihrem täglichen Geschäft verlieren – quasi eine Bündelung ohne zu zentralisieren. Zeitgleich übernahm Andreas Fischer die Funktion des Chief Innovation Officer von Ulrich Küsthardt, der in den Vorruhestand ging. Neuer Leiter der Creavis ist Steffen Hasenzahl. 

Welche Vorteile verspricht sich Evonik von dieser neuen Struktur?

H. Schwager: Wir wollen dadurch die Forschung bei Evonik besser vernetzen und so noch schlagkräftiger machen. Darüber hinaus bietet eine größere und globale Einheit bessere und neue Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten für unsere Forscher. Die neue Forschungseinheit von Evonik wird über eine eigenes Talent Development verfügen. 
Der inhaltliche Fokus der Evonik-­Innovationsstrategie ändert sich durch die Neuaufstellung nicht. Wir fokussieren uns nach wie vor auf die sechs Wachstumsfelder Sustainable Nutrition, Healthcare Solutions, Advanced Food Ingredients, Mem­branes, Cosmetic Solutions und Additive Manufacturing. Bis zum Jahr 2025 wollen wir mit neuen Produkten und Lösungen in diesen Feldern einen zusätzlichen Umsatz von mehr als 1 Mrd. EUR erzielen. 

Herr Schwager, geben Sie uns abschließend einen Ausblick: Welche konjunkturelle Entwicklung erwarten Sie für die kommenden Monate?

H. Schwager: Wir erwarten eine U-förmige wirtschaftliche Entwicklung, das heißt einen Absturz, gefolgt von einer Phase der Stabilisierung, an die sich dann ein rascher Aufschwung anschließt. Frühestens nach dem dritten Quartal werden wir wissen: Wie lang ist der Schenkel des U? Wenn sich Gesellschaften vernünftig verhalten, wird er kürzer sein. Wenn sich Gesellschaften – oder auch deren politische Führung – unvernünftig verhalten, wird der Schenkel des U länger.

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ZUR PERSON
Harald Schwager
verantwortet seit September 2017 die Ressorts Chemie und Innovation als stellvertretender Vorsitzender des Evonik-Vorstands. Zuvor war der promovierte Chemiker seit rund 30 Jahren für die BASF tätig, zuletzt als Vorstandsmitglied des Konzerns. Schwager studierte Chemie in Karlsruhe und promovierte am Max-Planck-Institut in Mühlheim an der Ruhr. 
 

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