EU-Kommission stuft Titandioxid als „möglicherweise krebserregend“ ein
Erstmals wird eine Substanz auf Basis von stoffunspezifischen, allgemeinen Partikeleffekten eingestuft
Das Weißpigment Titandioxid ist nun doch von der EU-Kommission als „mit Verdacht auf krebserzeugende Wirkung durch Einatmen“ eingestuft worden. Die Kommission hat am 4. Oktober 2019 entschieden, TiO2 zu klassifizieren – und das obwohl sich die Mehrheit der Experten der Mitgliedsstaaten noch auf einer Sitzung am 18. September 2019 dagegen ausgesprochen hatte.
Während bisher die Zustimmung der Experten nötig war, kann die Kommission durch eine im Juli dieses Jahres erfolgte Verfahrensumstellung auf einen sogenannten Delegierten Rechtsakt nun auch im Alleingang eine solche Entscheidung treffen. Bereits im Vorfeld zur Sitzung im September kündigte die Kommission an, unabhängig von den Einwänden der Experten im Verfahren fortschreiten zu wollen.
Sollten weder der Rat noch das Europäische Parlament innerhalb von zwei Monaten Einspruch gegen die Entscheidung einlegen, würde sie 20 Tage nach Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft treten. Rechtlich verbindlich würden Einstufung und Warnhinweise nach Ablauf einer Übergangsphase von 18 Monaten, das heißt voraussichtlich ab Sommer 2021, so der Verband der Lack- und Druckfarbenindustrie (VDL).
Die deutschen Farben-, Lack- und Druckfarbenhersteller sind davon überzeugt, dass Titandioxid in ihren Produkten sicher ist. Die Branche wird sich daher weiter dafür einsetzen, dass Titandioxid unter Berücksichtigung der gesetzlichen Gesundheits- und Arbeitsschutzstandards nicht als Gefahrstoff eingestuft wird. Sie hat angekündigt, die Kommissionsentscheidung rechtlich überprüfen lassen. „Die CLP-Klassifizierung ist für Stoffe gedacht, die aufgrund ihrer individuellen Eigenschaften gefährlich sind“, sagte Martin Engelmann vom VDL und fügte hinzu, dass es "ernsthafte Zweifel" an der Rechtmäßigkeit des Kommissionsvorschlags gebe. Da das Expertengremium RAC in seiner Stellungnahme eine intrinsische Gefahr durch Titandioxid "im klassischen Sinne" verneint habe, sei die Kommission gesetzlich verpflichtet gewesen, zurück zum RAC zu gehen und um Klärung der regulatorischen Antwort zu bitten, sagte er. Außerdem hätte die Kommission andere Optionen wie eine Harmonisierung der Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz bewerten sollen.
Heike Liewald, Geschäftsführerin des Verbands der Mineralfarbenindustrie (VDMI), kritisiert die Entscheidung: „Dies ist für uns in keiner Weise nachvollziehbar. Die Einstufung ist weder aus toxikologischer Sicht begründet, noch wird sie einen positiven Effekt im Gesundheits- oder Umweltschutz haben.“
Mit der Einstufung von TiO2 wird damit erstmals ein Stoff auf Basis von stoffunspezifischen, allgemeinen Partikeleffekten eingestuft. Dies ist nicht im Sinne der CLP-Verordnung. „Die Brüsseler Behörden hätten gut daran getan, sich dem Vorschlag von Deutschland anzuschließen, Titandioxid über den allgemeinen Staubgrenzwert im Rahmen des Arbeitsschutzes zu behandeln. Deutschland hatte bereits vor über einem Jahr die Einrichtung einer Expertengruppe vorgeschlagen, die einen harmonisierten, europäischen Grenzwert für derartige Stäube erarbeiten sollte.
Auch der Verband der Chemischen Industrie (VCI) appellierte zuvor an die Brüsseler Behörde, sich dem Vorschlag Deutschlands anzuschließen, Titandioxid über einen allgemeinen Staubgrenzwert im Rahmen des Arbeitsschutzes zu behandeln. „Die EU-Kommission sollte im Sinne des Binnenmarktes einen europa-einheitlichen Arbeitsplatzgrenzwert für schwer lösliche Stäube festlegen, statt einen wissenschaftlich nicht fundierten Präzedenzfall zu schaffen“, begründete Gerd Romanowski, VCI-Geschäftsführer Technik und Umwelt, den Vorschlag der Branche. Nach Auffassung des VCI handelt es sich nicht um eine stoffspezifische Wirkung des Weißpigments, sondern um eine allgemeine Wirkung von Stäuben auf die Lunge.
Diese Chance ist nun vertan, stattdessen wurde ein Präzedenzfall geschaffen: Die zur Begründung der Einstufung herangezogenen Argumente lassen sich auch auf andere Stoffe mit ähnlicher Staubproblematik übertragen, was weitere Einstufungen einzelner Stoffe aufgrund von stoffunabhängigen Effekten zur Folge haben könnte“, begründet der VDMI die Kritik.
TiO2 ist der mit Abstand wichtigste Rohstoff der Lack-, Farben- und Druckfarbenindustrie. Gleichwertige Alternativen gibt es nicht. Die Einstufung von TiO2 und die damit verbundenen, folgenschweren Konsequenzen sind unverhältnismäßig, der Nutzen der Einstufung konnte von der EU-Kommission bisher nicht belegt werden. Dies sind nur einige Gründe, warum Verbände und Unternehmen aus vielen Industriezweigen im Vorfeld für eine detaillierte Folgenabschätzung geworben haben, wie sie in einer Interinstitutionellen Vereinbarung zur besseren Gesetzgebung für Delegierte Rechtsakte auch festgehalten wurde. Die EU Kommission verweigerte jedoch ein solches Vorgehen.
Pulverförmige Produkte mit TiO2 müssen jetzt eingestuft und gekennzeichnet werden. Ergänzend sind Zusatzkennzeichnungen für flüssige und feste Gemische mit Titandioxid vorgesehen, unabhängig davon, ob überhaupt eine Freisetzung von Titandioxid am Arbeitsplatz oder beim Verbraucher zu erwarten ist.
„Verbraucher kommen nicht mit Titandioxidstaub in Kontakt, in nahezu allen Fällen ist Titandioxid in Lacken, Farben oder Kunststoffen in eine Matrix aus Bindemittel gebunden“, sagt Heike Liewald und schließt sich damit dem Gutachten des europäischen Gremiums zur Risikobewertung (RAC) an. „Eine Gefahrenkennzeichnung an Produkten, die nicht gefährlich sind, führt einerseits zu einer übermäßigen Verunsicherung der Verbraucher und birgt andererseits die Gefahr, dass die Verwender abstumpfen und solche Hinweise nicht mehr ernst nehmen.“
Auswirkungen wird die Einstufung in vielen Bereichen und Anwendungen haben, auch dort wo Titandioxid gar nicht eingeatmet werden kann, bspw. ergeben sich gravierende Konsequenzen im Recycling- und Abfallbereich: Produkte, die mehr als 1 % Titandioxid enthalten, werden zu gefährlichem Abfall. Dies betrifft zum Beispiel die Entsorgung rund der Hälfte aller Kunststoffprodukte und Bauschutt. Eine aktuelle Studie der Kunststoffindustrie, der Pigmenthersteller und der Recycler zeigt, dass in Deutschland beispielsweise etwa 400.000 t Kunststoffe wegen der Einstufung zukünftig nicht mehr recycelt werden können.
Titandioxid ist das am häufigsten verwendete Weißpigment und wird seit Jahrzehnten sicher verwendet. Aufgrund seiner einzigartigen technischen Eigenschaften wird es breit und vielfältig in nahezu allen Bereichen und Anwendungen eingesetzt, am häufigsten in Farben, Lacken, Kunststoffen und in Papier. Darüber hinaus wird es zur Farbgebung in Kosmetik, Lebensmitteln, Pharmazeutika, Bauprodukten oder Email und Keramik genutzt. Titandioxid ist in vielen dieser Anwendungen nicht 1:1 zu ersetzen.
Hintergrund für die Einstufung ist die Befürchtung, dass Arbeiter an Lungenkrebs erkranken könnten, wenn sie bei der industriellen Herstellung und Verarbeitung Staubemissionen u.a. von Titandioxid ausgesetzt sind. Die Kommissionsentscheidung stützt sich auf eine mehr als 20 Jahre alte Studie, bei der Ratten über einen sehr langen Zeitraum staubförmiges Titandioxid einatmen mussten. Die dabei festgestellte Reaktion ist allerdings nicht stoffspezifisch für Titandioxid, sondern charakteristisch für eine Vielzahl von Stäuben. Es gibt in dieser oder anderen Studien keine Hinweise auf eine Gefahr für Menschen. Im Gegenteil: Untersuchungen über Jahrzehnte an ca. 24.000 Arbeitern, u.a. in Deutschland, haben kein erhöhtes Risiko für eine Tumorentwicklung festgestellt.
Der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und den Berufsgenossenschaften liegt kein einziger Fall einer anerkannten Berufskrankheit aufgrund von TiO2 vor. Dies liegt auch an den strengen Staubgrenzwerten am Arbeitsplatz, die in den meisten EU-Mitgliedstaaten gelten und auf Titandioxidpulver und titandioxidhaltige Pulvergemische anwendbar sind. Deutschland ist mit seinem besonders strengen Grenzwert von 1,25 mg/m3 international Vorreiter.
Zahlreiche weitere Unternehmen und Verbände betroffener Wirtschaftskreise hatten die Brüsseler Einstufungspläne für Titandioxid im Vorfeld kritisiert, darunter auch der Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie (GKV), dessen Hauptgeschäftsführer Oliver Möllenstädt nun auch befürchtet, dass „die Einstufung von Titandioxid nicht nur keinen Nutzen für Verbraucher und Arbeitnehmer bringt, sondern sogar der Ressourceneffizienz und der Kreislaufwirtschaft erheblich zu schaden droht.“