Digitale Geschäftsprozesse in der Chemie
Im Energie- und Rohstoffsektor werden neue Geschäftsfelder auf Basis digitaler Technologien entstehen
Nachfrageschwankungen und Preisfluktuationen auf den Energie- und Rohstoffmärkten begleiten die Chemieindustrie seit meinen ersten SAP-Projekten bei deutschen Chemieunternehmen vor mehr als 30 Jahren. Auch die Finanzkrise, die Coronapandemie und selbst der Klimawandel, verbunden mit der Frage nach dem langfristigen Ausstieg aus fossilen Energieträgern, konnten die Fundamente der Chemieindustrie nicht nachhaltig erschüttern.
Erst der gegenwärtige Krieg in der Ukraine hat die geopolitischen und strukturellen Abhängigkeiten der deutschen Chemieindustrie insbesondere von den russischen Gaslieferungen schlagartig ins öffentliche Bewusstsein geholt. Der Umstieg auf Flüssiggas mit den systematisch höheren Preisen stellt einen massiven Standortnachteil insbesondere für die Grundstoffchemie dar.
Diese „Zeitenwende“ wird so die Strategieetagen der Chemieindustrie sowie ihrer Zulieferer, Kunden und Partner erfassen und zu grundsätzlichen Diskussionen über die Transformation ganzer Wertschöpfungsketten führen.
Digitalisierung als Treiber von Effizienzsteigerungen
Effiziente und sichere Produktion unter sich ändernden Rahmenbedingungen war schon immer eine Priorität für die Chemieindustrie. Lösungen auf Basis digitaler Technologien wie dem Internet der Dinge, künstliche Intelligenz, sowie Augmented Reality und Virtual Reality können helfen, weitere Potenziale zur Einsparung von Rohstoffen und Energie zu erkennen, Produktqualität und Anlagensicherheit zu erhöhen und die Anlagennutzungszeiten auszuweiten.
Effizienzgewinne ergeben sich auch daraus, dass sich repetitive Sachbearbeitungs- und sogar Expertentätigkeiten automatisieren lassen – und zwar in allen Funktionen, sei es bspw. die Klassifizierung von Gefahrgütern in der Gefahrgutlogistik oder die Zuordnung von Zahlungen zu Rechnungspositionen in der Buchhaltung. So zählt SAP bereits mehr als 100 Anwendungen in seinem ERP System, die dergleichen ermöglichen.
Digitale Technologien halten auch Einzug in die Laboratorien und helfen, bessere Lösungen vor allem schneller zu finden, indem Laborexperimente zumindest teilweise durch die Simulation von Lösungen auf Basis historischer Labordaten abgelöst werden.
Catena-X als Beispiel eines industrieübergreifenden Business-Netzwerks
Verbesserte Kollaboration entlang ganzer Wertschöpfungsketten
Die chemische Industrie ist eng in Wertschöpfungsnetze entlang von Lieferketten und über Branchengrenzen hinweg eingebunden. Hier sehen wir erhebliche Potenziale, nicht nur die bestehenden Prozesse durch mehr digitale Transparenz über Unternehmensgrenzen hinweg zu optimieren. Ein Beispiel hierfür ist Catena-X – eigentlich eine Plattform der Automobilindustrie. Aber diese ist für viele Chemieunternehmen ein wichtiger Absatzmarkt und andersherum sind Chemieunternehmen wichtige Automobilzulieferer. Die chemische Industrie wird hier als Lieferant vieler Industriezweige gefordert sein, sich an mehreren Plattformen zu beteiligen, die sich entlang industrieller Wertschöpfungsketten bilden.
Die direkte digitale Zusammenarbeit mit Lieferanten und Kunden verkürzt Innovationszyklen in der Spezialchemie und optimiert die Gestaltung und Auslastung von Anlagen im Grundstoffsegment.
Zunehmend Bedeutung erlangt auch der Austausch von Informationen über die Nachhaltigkeit von Produkten mit dem sog. Product Footprint als herausragendes Beispiel. Aber auch Herkunftsnachweise spielen eine Rolle, um dem Lieferkettengesetz genügen zu können oder den Anteil rezyklierter oder nachwachsender Rohstoffe nachvollziehbar belegen zu können.
Und schließlich gilt es, nicht nur die Fabrik papierfrei zu machen, sondern auch die Kommunikation mit Geschäftspartnern, indem z.B. Sicherheitsdatenblätter und Analysezertifikate nicht nur als PDF, sondern voll elektronisch übermittelt und maschinengelesen werden können und das Signieren von Vertragsdokumenten elektronisch stattfindet.
„Die direkte digitale Zusammenarbeit mit Lieferanten und Kunden verkürzt Innovationszyklen in der Spezialchemie.“
Differenzierung durch innovative Geschäftsmodelle und Dienstleistungen
Seit Jahren experimentieren die Innovationsführer in der Chemieindustrie auf der Suche nach differenzierenden Produkten und Dienstleistungen mit dem Übergang vom Verkauf ihrer Produkte hin zu ergebnisorientierten Leistungen. Dazu gehört z.B., Autolacke nicht mehr zu verkaufen, sondern stattdessen die lackierten Karosserieteile in Rechnung zu stellen. Der Nutzen für die Autohersteller ist klar: sie verlagern die Verantwortung für das Ergebnis an die Experten für Lacksysteme. Genauso klar ist der Vorteil für den Anbieter: ein tieferer Einstieg in die Wertschöpfungskette erlaubt eine stärkere Differenzierung von Wettbewerbern.
Diese Konzepte lassen sich aber nur effizient und erfolgreich umsetzen, wenn die Geschäftsanwendungen die neuen Prozesse auch nahtlos unterstützen können. SAP-Kunden profitieren hier von Systemen, die Geschäftsprozesse nahtlos über Unternehmensgrenzen hinweg verbinden können.
Strategische Agilität als Wettbewerbsvorteil
Klimawandel und die geopolitischen Entwicklungen und Verwerfungen der letzten Monate werden von den Unternehmen am besten bewältigt werden, die in den letzten Jahren in strategische Agilität investiert haben. Dazu gehören analytische Systeme, die Geschäfts-Performance in allen Dimensionen in Echtzeit überwachen und transaktionale Systeme, die eine schnelle Umsetzung von M&A-Aktivitäten erlauben.
Die Anpassung der Chemieindustrie an unsere neue Realität wird eine Welle von strukturellen Änderungen auslösen, die über die Branchengrenzen hinausgehen und Lieferanten, Dienstleister und Kunden erfassen wird.
Fazit
Die Gesellschaft erwartet eine Transformation zu Rohstoffen, erneuerbaren Energien, Produkten und Dienstleistungen, die nicht nur nachhaltig sind, sondern auch aus politisch stabilen freiheitlichen Demokratien stammen. Ein Blick auf den geografischen und politischen Globus zeigt schnell die Größe dieser Herausforderung, und die Lautstärke der Forderungen wird vielleicht abnehmen, wenn die Auswirkungen dieser Transformation in vollem Umfang sichtbar werden.
Speziell im Energie- und Rohstoffsektor werden ganz neue Geschäftsfelder und Partnerschaften auf Basis digitaler Technologien entstehen. Solchen Unternehmen, die ihre Strategien, Geschäftsmodelle und Prozessplattformen schnell und flexibel auf dynamische Markt- und Wettbewerbsanforderungen anpassen können, gehört die Zukunft.
Autor:
„Unternehmen, die ihre Strategien, Geschäftsmodelle und Prozessplattformen schnell und flexibel auf dynamische Markt- und Wettbewerbsanforderungen anpassen können, gehört die Zukunft.“