Die Digitalisierung der Prozessindustrie
Als Enabler für Innovation und Fortschritt wird Digitalisierung zunehmend weniger als Selbstzweck angesehen
Hinkt die Prozessindustrie bei der digitalen Transformation anderen Branchen hinterher? Einer, der es beurteilen kann ist Björn Mathes, seit zwei Jahren stellvertretender Geschäfts-führer der Dechema Ausstellungs-GmbH und mitverantwortlich für die Achema, die Weltleitmesse für Verfahrenstechnik und globaler Treffpunkt für die Prozessindustrie. Michael Reubold befragte ihn zum Stand der Digitalisierung in den Produktionsstätten der Chemie- und Life-Sciences-Industrien und der weiteren digitalen Transformation der Branche.
CHEManager: Herr Mathes, glaubt man Digitalisierungsexperten, hinkt die Prozessindustrie anderen Branchen auf dem digitalen Transformationspfad hinterher. Sehen Sie das genauso?
Björn Mathes: So pauschal würde ich das nicht unterschreiben. Wie weit die Digitalisierung in der Prozessindustrie gediehen ist, hängt sehr stark davon ab, was man darunter versteht und welche Perspektive man einnimmt. Datenerfassung in einem großen Umfang gibt es in der Prozessindustrie seit sehr langer Zeit, als in anderen Branchen Digitalisierung noch kaum eine Rolle spielte. Fortschritte bei der Sensorik haben das in den letzten Jahrzehnten enorm verstärkt. Der Umgang mit enormen Informationsmengen ist der Prozessindustrie quasi in die DNA geschrieben. Die Frage war lange eher, was man mit diesen Daten macht. Hier haben die Entwicklung der Rechnerkapazitäten, Big-Data-Methoden und Machine Learning in jüngster Zeit neue Horizonte eröffnet. Allerdings erfordern derartige Neurungen immer Investitionen, die derzeit nicht jedem Unternehmen leicht fallen.
Der Umgang mit enormen Informationsmengen
ist der Prozessindustrie quasi in die DNA geschrieben.
Wo allerdings noch größere Lücken bestehen, ist bei der nächsten Stufe: die Integration der Daten über verschiedene Verfahrensschritte und über den Prozesslebenszyklus hinweg. Das fängt im Labor an, wo die Integration verschiedener Geräte und Messverfahren häufig genug an fehlenden Standards scheitert, und setzt sich fort bis zur Umsetzung des digitalen Zwillings. Der Idee nach erfordert dieser eine große Einheitlichkeit von Datenformaten und Betrachtungsweisen, die in einer „gewachsenen“ Anlage häufig genug kaum umzusetzen ist. Dazu kommt, dass die Prozessindustrie häufig aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf ein Verfahren schaut. Für jede einzelne Perspektive gibt es in der Regel sehr gute Modelle, die sich allerdings nur schwer in ein „Übermodell“ integrieren lassen.
Kann man digitale Vorreiter und Nachzügler anhand von Branchensegment, Unternehmensgröße oder -art ausmachen oder spielen andere Faktoren eine Rolle für die digitale Reife?
B. Mathes: Ein Faktor ist sicher, wie schnelllebig eine Branche ist – wenn man den Begriff innerhalb der Prozessindustrie überhaupt verwenden kann. Eine Anlage oder ein Verbund, der über Jahrzehnte gewachsen ist, dessen Komponenten aus unterschiedlichen Zeiten stammen und der auf die Produktion zum Beispiel von Grundstoffen optimiert ist, ist schwieriger zu digitalisieren als eine Greenfield-Anlage oder ein Unternehmen, dessen Produkte sich schneller ändern. Dazu kommt die Frage nach dem Mehrwert der Digitalisierung: Was kann ich aus einem Prozess dadurch noch herausholen – oder macht Digitalisierung überhaupt den effizienten Betrieb meines Verfahrens möglich, etwa bei modularen Anlagen?
Digitalisieren um des Digitalisierens willen wird scheitern.
Letztlich müssen sich die Investitionen wenn auch nicht kurz- aber langfristig rechnen. Digitalisieren um des Digitalisierens willen wird scheitern. In vielen Gesprächen mit unseren Kunden und der Achema-Community stellen wir fest, dass die gesamte Branche auf dem richtigen Weg ist. Digitalisierung wird zunehmend weniger als Selbstzweck angesehen, sondern als das, was es ist: Mittel zum Zweck oder besser ausgedrückt: Enabler für Innovationen und Fortschritt.
Was sind die Treiber für die Digitalisierung in der Prozessindustrie, und welche Gründe sehen Sie da, wo sich die Branche eher zögerlich digitalisiert?
B. Mathes: Treiber sind auf jeden Fall die wachsenden Ansprüche an Flexibilität – sei es, weil die Kunden wechselnde Produkte in kleineren Mengen verlangen, sei es, weil durch die erneuerbare Energieversorgung oder variable Rohstoffzusammensetzungen Prozesse ständig angepasst werden müssen. Wer eine neue Anlage baut, wird diese auch auf jeden Fall „durchdigitalisieren“. An einem gewachsenen Standort mit Komponenten unterschiedlichsten Alters stoßen Sie dagegen an vielen Stellen an Grenzen – angefangen von der Datenerfassung bis hin zur vermeintlich profanen Frage, wie Sie an den Sensor kommen und wie die Daten vom Sensor ins System transportiert werden.
Man merkt jedoch auch, dass die private Digitalisierung zunehmend zu einem Mindshift beziehungsweise zu einem geänderten Anspruchsverhalten der Mitarbeiter in der Branche führt. Proprietäre (Daten)Standards beispielsweise werden in der heutigen Plug-and-Play- und Cloud-Welt nicht mehr einfach so hingenommen. Die Erwartungshaltung der Anwender sorgt hier mit für ein Umdenken.
Welche Gewinne und Vorteile können Unternehmen der Prozessindustrie aus der Digitalisierung ziehen?
B. Mathes: In einigen Bereichen liegen die Vorteile ganz deutlich zu Tage: Predictive Maintenance beispielsweise setzt einen hohen Digitalisierungsgrad voraus. Gerade im Bereich von Betrieb und Wartung kann Digitalisierung Fachkräfte ganz erheblich entlasten. Dann können Sie über eine stärkere Digitalisierung Prozesse noch weiter optimieren. Mit einem guten Prozessverständnis und entsprechendem Simulationstool ist das auf der Ebene des Einzelprozesses möglich; wenn Sie an einen ganzen Standort denken, sind die Potenziale aus der „industriellen Symbiose“, also einer werksübergreifenden Optimierung von Rohstoff- und Energieeffizienz, ohne Digitalisierung nicht zu realisieren.
Es gibt aber auch noch andere Aspekte: Die Anforderungen von Kunden und Verbrauchern an Nachhaltigkeit steigen immer weiter. Dafür müssen Sie Ihre Supply Chain sauber dokumentieren. Das funktioniert dank Blockchain in immer mehr Bereichen.
Wie fördert die digitale Transformation Unternehmensziele wie die Stärkung der Innovationskraft und der Wettbewerbsfähigkeit oder die Reduzierung der Produktionskosten und des ökologischen Fußabdrucks?
B. Mathes: Für die Innovationskraft ist ganz entscheidend, was ein Unternehmen mit seinen Daten anfangen kann. Gibt es Möglichkeiten, aus den Daten wirklich neue Schlüsse zu ziehen, etwa durch künstliche Intelligenz? In der Entwicklung pharmazeutischer Wirkstoffe führt die Digitalisierung zu einem Paradigmenwechsel. Statt Trial and Error mit endlosen Experimentalreihen lassen sich Strukturen und Strukturwirkungsbeziehungen mittlerweile sehr gut vorhersagen. Damit beschleunigen sich die Innovationsprozesse um Größenordnungen. Natürlich hat das, ebenso wie die schon erwähnten Faktoren Effizienz und Flexibilität, große Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit.
Der ökologische Fußabdruck profitiert ebenfalls von der Digitalisierung. Zum einen ganz profan, wenn der Ingenieur, statt mit dem Flieger nach Sibirien zu reisen, die Fehlerbehebung über digitale Modelle in Absprache mit Mitarbeitern vor Ort aus der hiesigen Zentrale aus steuern kann. Zum anderen, indem die Nachverfolgung von Produktionsketten möglich wird und damit dann auch eine saubere Berechnung von Lebenszyklusanalysen. Und letztlich bedeutet eine effizientere Produktion entlang der Value Chain immer auch einen geringeren ökologischen Fußabdruck bezogen auf die Produktmenge.
Verhilft die Digitalisierung auch anderen Prozess- oder Fertigungstechnologien wie Mikroreaktionstechnik oder additive Fertigung in der Prozessindustrie zum Durchbruch?
B. Mathes: Die additive Fertigung ist ein gutes Beispiel: Hier hat die Digitalisierung eine wirklich disruptive Technologie ermöglicht. Statt ein Bauteil im Container um die Welt zu schicken, können Sie den Datensatz mailen und das Bauteil vor Ort herstellen. Und der Apparate- und Anlagenbau in der Prozessindustrie zeichnet sich durch geringe Losgrößen aus, hier spielt die additive Fertigung ihre Stärken aus.
Die Mikroreaktionstechnik - oder etwas allgemeiner: Flow Chemistry-Ansätze - haben durch modulare Anlagenkonzepte nochmals einen Schub erfahren. Und genau für solche Konzepte ist die Digitalisierung wiederum ein zentraler Enabler zur effizienten und ökonomisch werthaltigen Produktion.
Wie stellen Sie sich die Chemie- oder Pharmaanlage der Zukunft vor und wann und wo werden wir die ersten solcher Fabriken sehen?
B. Mathes: Ob es „die“ Chemieanlage der Zukunft gibt, daran habe ich meine Zweifel. Ich glaube eher, dass wir eine Differenzierung sehen werden. Betrachten wir den Rohstoffwandel: World-Scale-Anlagen quasi an der Ölquelle werden auf lange Sicht abgelöst werden durch Anlagen unterschiedlicher Dimensionen. Da wird es die Riesenelektrolyseure geben, die auf Basis von Wasserstoff, CO2 und erneuerbaren Energien großskalig produzieren. Denken wir an Biomasse, zeichnet sich eher eine Dezentralisierung ab, bei der mindestens Vorstufen in der Nähe der Rohstoffquelle in kleinerem Maßstab produziert werden. Und bei Impfstoffen sehen wir heute schon Containerlösungen, die je nach Bedarf an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Vakzine produzieren. Zudem wird das schnelle Hochfahren von Vakzinproduktionsstätten, das wir derzeit erleben, die Pharmabranche und ihre Maschinenlieferanten nachhaltig prägen und zu weiteren neuen Ansätzen führen.
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ZUR PERSON
Björn Mathes promovierte 2009 am Fachbereich Chemie der Philipps-Universität Marburg und trat 2010 als Projektmanager bei der Dechema ein. Von 2014 an entwickelte er das B2B-Veranstaltungsformat PRAXISforum. Parallel absolvierte er zwischen 2015 und 2017 einen Executive MBA an der HHL Leipzig Graduate School of Management und der EADA Business School Barcelona. 2017 übernahm Mathes bei der Dechema die Gesamtverantwortung für den Bereich Veranstaltungen und Gremienbetreuung. Seit Februar 2019 ist er stellvertretender Geschäftsführer der Dechema Ausstellungs-GmbH, dem Veranstalter der Achema.