Deutsche Chemiecluster müssen Wettbewerbsvorteile weiterentwickeln
Unter der Lupe
Viele Konzerne in der Prozessindustrie brechen im letzten Jahrzehnt ihre integrierten Strukturen auf. Es entstehen spezialisierte Pharma-, Pflanzenschutz-, Basis- und Spezialchemikalienkonzerne. Die verbleibenden Werke und deren Werksdienste werden teilweise den Unternehmen direkt zugeordnet, teilweise entstehen neue, mittelständische Servicekonzerne. Die Eigentümer dieser Servicekonzerne sind größtenteils die Major User am Standort oder die Alt-Eigentümer von Grund und Boden.
Die Geschäftsmodelle der Standortservicegesellschaften sind unterschiedlich:
- Cost Center des Eigentümerkonzerns
- den Standortgesellschaften zugehörige, marktorientierte Servicegesellschaften
- fremde, spezialisierte Standortbetreiber- und -manager.
Zwischen diesen Modellen gibt es Mischformen. Es gibt strategische Ziele, die alle in diesem Markt aktiven Standortgesellschaften verfolgen müssen. Dazu zählt, einen klaren strategischen Fokus zu definieren, die Effektivität zu erhöhen und die Effizienz der Abläufe zu verbessern.
Die Standortbetreiber bieten die Leistungen Grund und Boden, infrastrukturelle Leistungen, das Management der Facilites (u. a. Gebäude) und Standortservices wie Logistik oder Technik an. Diese Betreiber haben besonders die Ziele Kostensenkung, Servicementalität und Kundenorientierung (modulare Produkte, bedürfnisgerechte Preisgestaltung) zu erreichen. Der Standortmanager, verantwortlich für die Entwicklung und Vermarktung des Standortes, kann eine separate Gesellschaft oder eine Funktion des Standortbetreibers oder Eigentümers sein. Die strategischen Ziele sind in jedem Fall differenzierend vom Betreiber. Die Erhöhung der Kundenorientierung steht hier für gezielte Kundenansprache der fokussierten Neuansiedlung und Vereinfachung von Ansiedlungsprozessen (Projektmanagement, Genehmigungen, Welcome-Pakete/ -preise). Die intensive Betreuung von Schlüssel- und Neukunden wirkt dem Weggang von Betrieben entgegen und soll neue Investitionen anregen. Die größte Herausforderung resultiert aus dem strategischen Ziel, das eigene Standortgeschäftsmodell partielle oder komplett auf neue, dritte Standorte zu übertragen.
Die von den Standortdienstleistern gewählten Geschäftsmodelle tragen theoretisch den strategischen Zielen Rechnung. Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass Kooperationsmodelle der Standortpartner (Eigentümer, Kunden, Standortbetrieb, Standortmanagement) die Erreichung der langfristigen Ziele behindern und die Unternehmensentwicklung in eine strategische Warteschleife gerät.
Aus all diesen Einschätzungen wird deutlich, dass seit dem Entstehen dieser Branche vorwiegend an den technokratischen Zielen (Organisationsstrukturen, Effizienz, Kosten) gearbeitet wurde. Die nachhaltige Auseinandersetzung mit einem zukunftsfähigen (> 5 Jahre), wachstumsfähigen Geschäftsmodell und einer realistischen Vision wurde nur in Ansätzen geführt. Verhaltensintensive Themen wie Servicementalität wurden gemieden und die Kür der strategischen Ziele, die Generierung von nachhaltigem Wachstum, nur selten durchdrungen und umgesetzt.
Wird dieser Aktivitätsindex mit der Entwicklung der Standortdienstleister verglichen, wird festgestellt, dass die Top-Standorte sowohl durch Kostenvorteile als auch durch Kundenorientierung weiter entwickelt sind. Alle großen und wettbewerbsfähigen Standortdienstleister (Kosten/ Preise, Größe, Leistungsangebot) sind innerhalb der großen Ansiedlungsgebiete der Chemie zu finden. Dies sind vorrangig Gebiete um Houston (USA), Shanghai (China) oder Antwerpen/Rotterdam (Benelux). Diese Gebiete zeichnen sich aus durch etablierte Vorstufen (Ölindustrie), exzellente Versorgung mit Rohstoffen (Cracker-Produkte, Strom, Gas), eine hervorragende logistische Infrastruktur, einen lokalen Abnehmermarkt und hoch qualifiziertes Personal. Die Standortdienstleister in diesen Gebieten sind sowohl seitens der Kosten (Economies of scale) als auch durch ihre Kundenorientierung (Ansiedlungs- und Genehmigungsprozesse) ein Magnet für neue Investitionen. Im Wettbewerb um europäische Investitionen müssen die deutschen Chemiecluster Rhein-Main, Niederrhein/Ruhrgebiet und Nord- sowie Ost-Deutschland ihre Wettbewerbsvorteile herausstellen und weiterentwickeln. Es ist erforderlich, auch an den strategischen Zielen mit den „High-Hanging-Fruits" zu arbeiten und intelligente Geschäftsmodelle zu etablieren. CMC² hat im Zusammenhang mit den beschriebenen strategischen Zielen polarisierende Thesen aufgestellt. Dazu einige Beispiele:
Polarisierende Beispielthesen zum strategischen Fokus:
- Der Standortbetrieb ist ohne Übertragung des partiellen oder gesamten Geschäftsmodells auf andere Standorte und damit Erzeugung von Wettbewerb ein Cost Center-Geschäftsmodell und muss auch entsprechend geführt werden.
- Der USP eines Standortes (Betrieb und Management), häufig als synergetisches Modell dargestellt, und der Nutzen eines integrierten „Vereinsmodells" (Standort als Verein mit Mussleistungen und Wahlleistungen) ist für potentielle Kunden nicht transparent.
- Die Funktionalisierung des Standortbetriebes, Auflösung des integrierten Standortbetreibermodells, ist nicht aufzuhalten - Spezialisten für Technik, Logistik, Facility Management, Entsorgung und Energien übernehmen Teile des Standortbetriebes.
Polarisierende Beispielthesen zur Übertragung des Geschäftsmodells:
- Die Abhängigkeit des Standortes (Standortmanagement) von seinen auf die Produktion und den Absatz von Chemie-, Pharma- oder Pflanzenschutzprodukten fokussierten Anteilseignern behindert das Wachstum durch Übertragung des Geschäftsmodells auf andere Standorte.
- Der Austausch der Anteilseigner (gleichzeitig strategische Kunden des Standortmanagements und Standortbetriebes) durch Anteilseigner mit dem Kerngeschäft Standortbetrieb ist an strategisch wichtigen Standorten unmöglich.
- Die strategische Kooperation von Standortdienstleistern in deutschen Chemieclustern wird durch die übergreifende Kunde-/Wettbewerbersituation an den Standorten kein mögliches Wachstumsmodell.
Die neue Branche der Standortdienstleister hat sich sehr erfolgreich von der Werksorganisation zu einem professionellen Serviceanbieter entwickelt. Die Kunden der prozessorientierten Industrie (Chemie, Pharma, Pflanzenschutz) konnten durch diese Entwicklung umfangreiche Wettbewerbsvorteile erzielen. Die Branche selber erlebt eine Seitwärtsbewegung, bei der viele Hausaufgaben (Effizienzsteigerung, Kostensenkungen) nachgeholt werden können. Dabei werden einige Front-Runner-Standorte von Nachzüglern eingeholt. Die nächste revolutionäre Stufe (Veränderung zum Serviceunternehmen und Wachstum durch Konsolidierung) erreichen die Standorte, die ihre Betreiber- und Managerrolle klar differenziert und professionell aufstellen und konsequent die strategischen Wachstumsfragen klären und umsetzen.