CO₂-frei – Gewinn für Industrie und Umwelt
Studie zeigt Wertpotenzial der Dekarbonisierung von 200 Mrd. EUR pro Jahr
Die vierte Energietransformation ist dringend notwendig. Aber wie geht die Industrie damit um? Auf der einen Seite steht die ökologische Notwendigkeit, auf der anderen Seite der ökonomische Einsatz. Die aktuelle Studie des Beratungsunternehmens Accenture „Energizing Industry 2030“ schätzt das Wertpotenzial der CO2-reduzierenden Technologien auf bis zu 200 Mrd. EUR pro Jahr für die energieintensiven Branchen in Europa.
Der Energiewandel ist kein neues Thema auf der Agenda. Zu Anbeginn der Industrialisierung konnte man sich kaum vorstellen, wie Maschinen ohne Kohle und Dampf arbeiten, und doch folgten Öl und Gas. Dieses Mal stehen die Vorzeichen anders. Es sind nicht ausschließlich wirtschaftliche Gründe, die den Wechsel bei Energieproduktion und -verwendung erfordern. Die vierte Energietransformation dient der Internalisierung externer Klimakosten, und dies gelingt nur mit technologischem Wandel, wirksamen finanziellen Anreizen und kluger Regulierung.
Das Gebot der Stunde lautet Reduktion von CO2-Emissionen. Doch auch in der aktuellen Studie zeigt sich deutlich: Die Umstellung auf klimaneutrale Technologien schreitet zu langsam voran. Dabei haben die dort angesetzten Modellberechnungen gezeigt: Die Dekarbonisierung der Industrie Europas ist eine bedeutende Chance für Energieproduzenten und Energieverbraucher. Es ist möglich, auch ökonomisch von der positiven Dynamik in Technologie, Investition und Lieferkette zu profitieren. Branchenkonvergenz, Umstellung auf serviceorientierte Modelle, Kreislaufwirtschaft – das sind Trends, die den Stellenwert CO2-freier Energiequellen verstärken.
Strategien und Modelle mit Erfolg
Vielen Führungskräften der Industrie fehlte bisher der Nachweis, dass die Dekarbonisierung tatsächlich einen Mehrwert für ihr Unternehmen schaffen kann. Die Studie „Energizing Industry“ setzt genau an diesem Punkt an und formuliert auf dieser Grundlage Strategien zur Bewältigung struktureller Herausforderungen. Ein Ergebnis: Die Modellierung der Effekte verschiedener Technologien zeigt, dass bis 2030 rund 200 Mrd. EUR Nettowert durch Dekarbonisierung erwirtschaftet werden können – allein in der Schwerindustrie Europas.
Accenture hat eine detaillierte Analyse über die Chancen und Herausforderungen zur Dekarbonisierung der Industrie erstellt. Um die Auswirkungen der Energiewende auf die europäische Industrie zu untersuchen und die bisherigen Fortschritte besser zu verstehen, wurde eine Modellierung der Effekte und Wertbeiträge verschiedener Technologien vorgenommen, zur Fundierung hat Accenture eine Studiengruppe von 30 Unternehmen zusammengestellt. Es folgten Interviews mit Branchenexperten, davon neun aus dem Chemiesektor sowie die Analyse von Patenten, Investitionen und Presseberichten.
Neue Denkansätze und Lösungsvielfalt
Bei der Jahrestagung der Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW) im November 2020 wurde deutlich, welche unterschiedlichen Strategien zur Verringerung des CO2-Ausstoßes Unternehmen entwickelt haben. CHEManager berichtete dazu (Ausgabe 12/2020): Der Großkonzern BASF setzt auf CO2-neutrales Wachstum durch optimierte Verfahrenstechnik, der Spezialchemiekonzern Covestro auf zirkuläre Wirtschaft und nachhaltige Wertschöpfungszyklen und der Industrieparkbetreiber Infraserv Höchst auf die Kombination von Energieerzeugung vor Ort, lokaler Kreislaufwirtschaft und regionalen Clustern für Synergien.
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Die Industrie ist für die Erreichung der Klimaziele ein Schlüsselfaktor, erzeugt sie doch laut dem Global Energy Review der International Energy Agency 2020 rund 20 % der Emissionen und benötigt 25 % der Energie in der EU. Ein durchdachter Mix aus zukunftsweisenden Technologien, ressourcensparenden Maßnahmen und der Steigerung von Effizienz kann den Weg dorthin ebnen.
Ob in der Chemie-, der Metall- und Zementindustrie oder im Energiesektor gibt es Herausforderungen, die für alle gelten: Zum einen drängen Regulierungsbehörden und Regierungen auf Veränderung und üben durch die Kohlenstoffdioxidbesteuerung, das EU-Klimagesetz und das Emissionshandelssystem Druck aus. Zum anderen fordern auch die Verbraucher nachhaltigere Produkte und wollen den eigenen CO2-Abdruck klein halten. In der Folge setzen Investoren auf nachhaltige Anlagen (ESG) und im B2B-Bereich auf Maßnahmen, die den Scope-3-Abdruck verringern. Unsere Analyse zeigt: Europäische Industrieunternehmen unterschätzen noch den wahrgenommenen Wert der Dekarbonisierung bei ihren Kunden und Verbrauchern.
„Europäische Industrieunternehmen unterschätzen den wahrgenommenen
Wert der Dekarbonisierung bei Kunden und Verbrauchern.“
Der Wert der Dekarbonisierung
Trotz der Ungewissheit über die zukünftigen Preise für CO2-Emissionen und Ökostrom zeigt die Analyse, dass sich der jährliche Nettowert der industriellen Entkarbonisierung bei den realistischen Szenarien allein in der Schwerindustrie Europas zwischen 2020 und 2030 von 98 Mrd. EUR auf 202 Mrd. EUR verdoppeln kann. Danach stabilisiert er sich den Prognosen zufolge bis 2040.
Den größten Anteil an dieser Summe haben Wasserstoff mit rund 83 Mrd. EUR und erneuerbare Energien mit 75 Mrd. EUR. 35 Mrd. EUR werden durch den Wechsel zu Gas erwirtschaftet und 9 Mrd. EUR durch höhere Effizienz.
Ab 2030 wird der Anteil an Wasserstoff bis auf 102 Mrd. EUR weiterwachsen und auch erneuerbare Energien bringen bis zu 81 Mrd. EUR Nettowert ein. Schrumpfen wird dagegen der Anteil an Gas und auch das Einsparpotenzial durch effizientere Verfahren stößt an seine Grenzen. In der Chemieindustrie wird das jährliche Nettowertpotenzial auf ca. 40 Mrd. EUR geschätzt, besonders durch einem Umstieg auf Strom aus erneuerbaren Energiequellen u. a. in der energieintensiven Chloralkali-Elektrolyse oder bei der Herstellung von Ethylen, Methanol oder Wasserstoff.
Was hinter den Zahlen steckt
Einfach ausgedrückt: In der Studie wurde nach einer Möglichkeit gesucht, um den Nettowert neuer Energieformen im Vergleich zu etablierten Lösungen zu vergleichen – inkl. ihrer Vor- und Nachteile. Gegengerechnet wurde bspw. das energiebezogene CO2-Emissionsreduktionspotenzial in Tonnen CO2 gegenüber den aktuellen CO2-Werten aus Erzeugung oder Verbrennung. Das Ergebnis umfasst also das Netto-Einsparpotenzial und die Möglichkeit, durch neue Geschäftsfelder zusätzlichen Mehrwert zu schaffen.
Es gibt schon heute führende Trends, die wichtig bleiben, da sie nachgewiesenen finanziellen Nutzen bringen, und andere, die es noch werden. Höhere Effizienz kann bspw. Kosten erheblich senken, stößt aber an technologische Grenzen. Auch der Umstieg auf Gas ist jetzt ein Trend, wird aber langfristig stagnieren – zumal der Einsatz von Gas in vielen Bereichen der Chemie nicht möglich ist. Nicht zu unterschätzen, ist die funktionsübergreifende Zusammenarbeit (Interoperabilität) zwischen industriellen Prozessen und Funktionen.
Für die Industrie bietet sich die Chance, die enormen Kosten der Dekarbonisierung durch Produkte zu amortisieren, die grüne Prozesse unterstützen wie Katalysatoren, Batterien oder auch Verfahren zur Elektrolyse oder zur Verbesserung der Kreislaufwirtschaft in der Kunststoffindustrie – inkl. von Preisprämien durch sog. grüne Produkte.
Andere neue Technologien stehen noch nicht an ihrem Break-Even-Punkt für finanzielle Attraktivität oder ihr Einsatz ist von anderen Faktoren abhängig. Ein Beispiel dafür sind „Kohlenstoffabscheidung und Nutzung“ (CCU) oder „Kohlenstoffabscheidung und Speicherung“ (CCS). In einem moderaten Szenario für CO2-Preise bis 2030 (50 EUR/t CO2 in 2030) verlieren sie ihren Vorteil gegenüber erneuerbaren Energien und Wasserstoff in vielen Bereichen, bleiben aber in der Zementindustrie weiter relevant, weil dort die Produktion nicht emissionsfrei möglich ist. Die Elektrifizierung in der Industrie ist insbesondere bei höherer Prozesswärme nur maßgeblich, wenn auf erneuerbare Energie umgestellt wird. Erneuerbare Energien sind wegen ihres Potenzials, Kostenvorteilen und erfolgreicher Emissionsreduktion vielversprechend.
Der Ausbau des Strom- und Gasnetzes ist langwierig, bedingt durch Regulierung und Politik, aber notwendig, um effiziente Technologie kostengünstig und skalierbar zu nutzen. Ein Beispiel sind die Stromtrassen, die Windenergie aus Deutschlands Nordhälfte in die südlichen Bundesländer bringen soll, deren Ausbau sich aber immer wieder verzögert.
Die Nutzung von Wasserstoff erweist sich als ein weiterer Gewinner zukünftiger Technologie. Allein im industriellen Betrieb wird er bis 2040 mit seinem CO2-Reduktionspotenzial ähnliche Ertragswerte erreichen wie Gas und wird dessen CO2-Vorteil bei besserer Wertschöpfung auf dem Markt noch überflügeln (insb. durch Nutzung vorhandener Gastransportinfrastruktur). Allerdings müssen dafür einige Verfahren kostengünstiger möglich sein. Die Aufspaltung ist noch zu teuer, um mit Wasserstoff hergestellte synthetische Kohlenwasserstoffe als Alternative zu herkömmlichen, aus fossilen Kohlenwasserstoffen erzeugten Kunststoffen zu verwenden.
Wie reif ist die Zukunftstechnologie?
Für die Studie wurden Patentanmeldungen mit Bezug zu CO2 seit 2013 in Europa, den USA, Japan und Südkorea ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass die Entwicklung neuer Technologien oder Anwendungen zur Minderung von Emissionen sich verlangsamen, und sich Patente zunehmend auf Kostenvorteile und den industriellen Maßstab der Technologieanwendungen konzentrieren. Dies unterstreicht die technologische Reife vieler Verfahren und zeigt, dass wir uns bereits mitten in der Energiewende befinden.
Eine wichtige Erkenntnis bleibt, dass die Dekarbonisierung der Industrie und insbesondere der Chemieindustrie trotz des Aufwands und der Kosten auch erhebliche Chancen mit sich bringt. Für die Chemieindustrie gilt es zu definieren, welche Geschäftsmodelle und Strategien aus dieser Entwicklung erfolgreich sein werden. Neue Verfahrenstechniken und Produkte, Kreislaufwirtschaft, der Technologiewandel, die Nachverfolgbarkeit von Materialien vor allem in der Kunststoffindustrie sind Teil der Energiewende.
Autor:
Götz Erhardt, Geschäftsführer und Leiter des Bereichs Grundstoffindustrien und Energie, Accenture GmbH, Kronberg