Chemierohstoffe aus Sprudelwasser?
Treibhausgasneutralität ist das Ziel, nicht Defossilierung
Die Reduktion der CO2-Emissionen wird häufig als Dekarbonisierung bezeichnet, gemeint ist dabei jedoch in der Regel Defossilierung, d.h. der Verzicht auf den Einsatz fossiler Kohlenwasserstoffe als Energieträger oder Rohstoff. Begründet wird der Anspruch damit, dass der im Erdöl, Erdgas oder in der Kohle enthaltene Kohlenstoff irgendwann nach der Anwendung als Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt. Das stimmt aber nicht. Eine grobe Kohlenstoffmassenbilanz der chemischen Industrie Europas ergibtdass in der Tat momentan ein Drittel des eingesetzten Kohlenstoffs bei der Herstellung von Chemikalien als Treibhausgas in die Atmosphäre gelangt. Die Industrie arbeitet mit Hochdruck daran, diesen Anteil durch Einsatz neuer Technologien rasch zu reduzieren. Man sieht aber auch, dass nach der Nutzung der Chemikalien und Materialien mehr als drei Viertel des in der Anwendung von Chemikalien und Materialien vorhandenen Kohlenstoffs in Abfall oder Klärschlamm gebunden wird und eben nicht in die Atmosphäre entweicht.
Organische Chemie ist ohne Kohlenstoff nicht möglich
Das Net-Zero-Ziel ist in der organischen Chemie, also dort, wo Kohlenstoff als Rohstoff eingesetzt wird, besonders schwierig zu erreichen. Das Treibhausgasproblem ist ganz am Anfang der Wertschöpfungskette bei den organischen Grundbausteinen zu lokalisieren. Allein sieben davon, nämlich Ethylen, Propylen, Butadien, Benzol, Toluol und Xylole sowie Methanol sind für mehr als die Hälfte der in der Produktion entstehenden CO2-Emissionen verantwortlich.
Die organischen Grundbausteine sind der Legobaukasten der Chemiker. Aus diesen wenigen Bausteinen plus noch einmal gut die gleiche Menge an Luft und Wasser bauen die Chemiker tausende Polymere, d.h. Kunststoffe, Kautschuke und Synthesefasern, und über 150.000 verschiedene organische Chemikalien zusammen, die in mehr als 90 % aller Branchen eingesetzt werden.
Häufig ist uns gar nicht mehr bewusst, dass die organischen Chemikalien in unglaublich vielen Produkten enthalten sind, manchmal versteckt. Windräder oder Wasserstofftanks, die Frontscheibe oder das Panoramadach im Auto, die Fotovoltaikanlage, der neue Computer, das neue Smartphone oder die Lipide in Covid-19-Impfwirkstoffen sind ohne organische Chemie nicht herstellbar. Es mutet von daher erst einmal verwunderlich an, dass man den Einsatz von fossilen Kohlenwasserstoffen auch als Rohstoff grundsätzlich verhindern will, um dann genau wieder Kohlenwasserstoffe und andere organische Chemikalien daraus herzustellen.
Kohlenstoff im Kreis fahren reicht bei Weitem nicht zur Kohlenstoffversorgung
Was kann und sollte man also tun, um in der organischen Chemie die Net-Zero-Ziele zu erreichen? Die Energie- und Stoffeffizienz weiter zu erhöhen, beim Design von Produkten auf Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit zu achten und fossile Kohlenwasserstoffe durch biogene zu ersetzen sind sinnvolle, aber begrenzte Maßnahmen.
Grundsätzlich sinnvoll ist es, wenig neuen Kohlenstoff in das System einzutragen und Kohlenstoff möglichst nicht mit Sauerstoff in Verbindung zu bringen. Die Wiederverwendung von Bauschutt, Kunststoffabfällen, Alttextilien, Batterien oder Elektronikbauteilen zeigt bereits gute und gangbare Wege. Es gilt aber auch Grenzen und Herausforderungen der zirkulären Wirtschaft zu beachten, die nach Region und Materialstrom sehr unterschiedlich sein können.
Selbst wenn die Branche all dies tut, wird sie voraussichtlich nur 40-50 % des Net-Zero-Ziels erreichen. Was ist mit den verbleibenden 50-60 %? Wo sollen die kohlen- und wasserstoffhaltigen Stoffe herkommen? Hier schlägt die Politik eine kreative Lösung vor, auf die man erst mal kommen muss: Kraft-, Heiz- und Chemierohstoffe aus Sprudelwasser!
„Momentan gelangt ein Drittel des eingesetzten Kohlenstoffs bei der Herstellung von Chemikalien als Treibhausgas in die Atmosphäre.“
Sprudelwasser als Rohstoff für die zukünftigen Kraft-, Heiz- und Chemierohstoffe?
Es klingt ein bisschen verrückt, ausgerechnet aus Trinkwasser und Kohlensäure, also quasi aus Sprudelwasser, die Kraft-, Heiz- und Chemierohstoffe der Zukunft herzustellen. Und das ist es auch. Dabei soll der Kohlenstoff aus CO2-Abgasen energieintensiver Industrien, wie Energie-, Stahl-, Zement- und Raffineriewerken, kommen, statt diesen aufzufangen, zu verflüssigen, zu transportieren und sicher zu speichern (Carbon Capture and Storage, CCS) oder mit dem CO2 zumindest teilweise CO in Synthesen zu ersetzen.
Den Wasserstoff will man aus Trinkwasser herstellen, welches mit großen Mengen erneuerbaren Stroms elektrisch in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird. Aus den beiden Gasen CO2 und Wasserstoff produziert man dann „grünes Synthesegas“, welches direkt in „grünes Methanol“ umgesetzt wird. Aus diesem kann man dann die eingangs beschriebenen organischen Grundbausteine oder grüne Kraft- und Heizstoffe herstellen, die zunächst als Drop-ins den fossilen Kraft- und Heizstoffen beigemischt werden. Bei deren Verbrennung wird das mühsam aus den Abgasen aufgefangene CO2 aber wieder frei. Es mutet ein bisschen wie ein CO2-Tauschgeschäft an, wo die CO2-Emissionen nicht wirklich reduziert, sondern nur in eine andere Anwendung verschoben werden. Der wesentliche Unterschied ist, dass für die Endanwendung kein Kohlenstoff aus fossilen Kohlenwasserstoffen mehr benötigt wird.
Momentan wird Wasserstoff aus Erdgas herstellt. Dabei erhält man 1 kg Wasserstoff aus 2 kg Erdgas und 4,5 kg Wasser und als ungewünschtes Begleitprodukt 5,5 kg CO2. Beim vorgeschlagenen grünen Wasserstoff aus Wasser erhält man 1 kg Wasserstoff aus 9 kg Wasser. Das Hauptproblem ist aber die äußerst geringe Energieeffizienz. Es ist fast elfmal so viel Energie zur Wasserstoffherstellung aus Wasser nötig wie aus Erdgas. An diesen thermodynamischen Gesetzmäßigkeiten werden auch technologischer Fortschritt, Subventionen und Skaleneffekte nichts ändern.
„Sieben organische Grundbausteine sind für mehr als die Hälfte der in der Produktion entstehenden CO2-Emissionen verantwortlich.“
Jetzt mag man einwenden, dass grüner Wasserstoff eine gute, chemische Nutzung von erneuerbarer Energie im Überschuss sei. Das ist richtig, aber z. B. Pumpspeicher sind eine sehr viel effektivere Form der Stromspeicherung. Man mag zudem einwenden, dass sich das bei steigenden CO2-Preisen ändern wird. Nun eher nicht. Denn die europäische Chemieindustrie ist immer stärker auf Exporte angewiesen. Eine Verteuerung würde zunächst einmal nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern. Da könnte die Dekarbonisierung leicht zu einer Deindustrialisierung der Chemieindustrie in Europa werden.
Gewinner könnten vor allem chinesische Chemieproduzenten sein, die bis 2035 9.300 TWh erneuerbare Energie zugebaut haben werden. Dieser Grünstrom kann in China dann sehr effizient und vor allem mit relativ geringen Investitionen in grüne Chemikalien und Materialien umgesetzt werden. Das technische Synthesegas-Know-how ist aufgrund der in China noch weit verbreiteten Kohlechemie vorhanden.
Ja, zur europäischen und nationalen, grünen Wasserstoffstrategie – aber CCU?
Es ist aber nun einmal das Interesse der Politik, den grünen Wasserstoff in Ermangelung von technischen Alternativen als zukünftigen Energieträger zu etablieren. Massive Investitionen und Unterstützungen werden bereitgestellt. Unklar ist, ob grüner Wasserstoff ein sich selbst tragendes Geschäftsmodell sein wird. Das Ergebnis wird vermutlich unterschiedlich für verschiedene Anwendungen sein. Brennstoffzellen im Schwerverkehr, in der Schifffahrt oder in stationären Anwendungen, der direkte Wasserstoffeinsatz in Langstreckenflugzeugen, der Einsatz als Reduktionsmittel und somit Koksersatz in der Stahlherstellung, die Herstellung von grünem Ammoniak oder das „Upgrading“ von Biomasse oder bei der Abfallvergasung scheinen technisch und kommerziell erreichbare und sinnvolle Anwendungen von grünem Wasserstoff zu sein. Der Einsatz des grünen Wasserstoffs in Kombination mit CO2 zur Herstellung von Chemierohstoffen erscheint dagegen weniger sinnvoll als der Einsatz von Low-Carbon-Wasserstoff (blau oder türkis) in Kombination Kohlenstoffquellen, die labiler und energiereicher als CO2 sind (C, CO, Biomasse, Haus- und Industrieabfälle).
Für Regulatoren gilt, das eigentliche Ziel der Reduktion der Treibhausgase in die Atmosphäre im Fokus zu behalten und nicht, wie z.B. in der EU-Taxonomie, durch das Setzen harter Grenzwerte, die zudem auch noch für Altanlagen als auch Neuinvestitionen gleich sind, Technologien quasi vorzugeben. Dies kann sehr leicht dazu führen, dass Technologien etabliert werden, die außerhalb der EU keinen Markt finden und Innovationen in alternative Technologien ausbleiben und sinnvolle Übergangstechnologien quasi ausgeschlossen werden. So werden nicht nur die Klimaziele nicht erreicht, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der ganzen Chemieindustrie gefährdet.
Autor
Zur Person
Wolfgang Falter ist auf Nachhaltigkeitsstrategien und deren Umsetzung in Unternehmen, vor allem der Prozessindustrien, spezialisiert. Der promovierte Chemiker ist seit 2015 Partner bei Deloitte und leitete die weltweiten Chemietätigkeiten des Beratungsunternehmens. Seit 2020 hat er als Leiter des Sustainability Services Boards übergreifend die Verantwortung für das Nachhaltigkeitsthema übernommen.
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