Aufschluss zum Industrie-4.0-Spitzenfeld
Ansatzpunkte zur erfolgreichen Digitalisierung von Fertigungs- und SCM-Prozessen
Doch es gibt drei Handlungsfelder, in denen sich Industrie-4.0-Exzellenz erreichen lässt: neben der Nutzung integrierter Datenflüsse sollten eine Online-Verfügbarkeit kritischer Prozessdaten sowie Prozessverbesserungen mit Hilfe neuer Technologien Priorität haben.
Im BASF-Werk Schwarzheide ist eine Rührmaschine im Einsatz, die in mehrfacher Hinsicht Superlative erreicht. Die Anlage besteht aus einem ca. 12 m hohen Reaktor mit integriertem 250-Kilowatt-Rührer sowie zwei nachgelagerten Aufbereitungsbehältern, die jeweils mit einem 90-Kilowatt-Rührer ausgerüstet sind. Neben den Leistungswerten überzeugen auch die „digitalen“ Qualitäten: Predictive Maintenance Technologien ermöglichen eine vorausschauende Wartung, welche u.a. die kompletten Motoren-Leistungswerte erfasst. Zudem werden die Überwachungsergebnisse sowie die laufenden Messwerte in eine unternehmenseigene Cloud übertragen.
Effiziente Prozesse dank integrierter Datenflüsse
Sicherlich fällt dieses Beispiel in die Kategorie der „Digitalisierungs-Champions“. In anderen Fabriken der Branche entspricht der digitale Reifegrad aber – überspitzt gesagt – durchaus noch einer Industrie 2.0 statt einer Industrie 4.0. Dabei sind die Digitalisierungsoptionen vorhanden. Vor allem eine vertikale und horizontale Integration der Datenflüsse könnte in der chemischen Industrie die Sicherheit und operationale Exzellenz weiter steigern.
Etwa beim zentralen Thema des ‘vertikalen Datenflusses‘: hier werden Daten von den Sensoren der Maschinen ggf. über das Prozessleitsystem, das MES (Manufacturing Execution System) bis hin zur ERP-Ebene (Enterprise Resource Planning) ohne Medienbruch übertragen. Mit Hilfe dieser Informationen lässt sich, ohne die Risiken eines manuellen Ablesens oder Eingebens von Werten, transparent die Entscheidung zur Chargen-Freigabe treffen und dies mit durchgehendem Zugriff z.B. auf Maximalwerte wie auch komplette Temperaturkurven.
„Viele Fabriken sind vom Reifegrad der Industrie 4.0 noch weit entfernt.“
Der Datenfluss an sich ist häufig bereits in gut auswertbaren Strukturen vorhanden. Leider wird diese Chance zur Informationsgewinnung aber viel zu selten genutzt, da viele Unternehmen weiterhin an Papier gebunden sind. Vor allem im Zuge der Anschaffung neuer Maschinen sollte man auf die Unterstützung aller relevanten Kommunikationsstandards achten, um dann das neue Equipment nahtlos in die bestehende Architektur einbinden zu können.
Online-Verfügbarkeit kritischer Prozessdaten sicherstellen
Eine typische Herausforderung beim Umstieg auf einen weitgehend papierlosen Informationsfluss besteht darin, dass die häufig über Jahre gewachsenen IT- und OT-Infrastrukturen viel zu komplex für einen „Neustart per Knopfdruck“ sind. Stark variierende Reifegrade in der Kommunikationsfähigkeit von Maschinen und der weiteren IT-Infrastruktur sowie anhaltender Kostendruck lassen vielerorts nur eine Weiterentwicklung in Einzelschritten zu. Ebenso muss das Fachwissen der Mitarbeiter sowohl für eine solche Integration als auch für den weiteren, richtigen Umgang mit den (neuen) Maschinen und Technologien auf einem hohen Stand sein. Das gemeinsame Ziel dieser Schritte sollte lauten, dass zuerst die vorhandenen Systeme bestmöglich miteinander korrespondieren: etwa, wenn die im MES durch den Operator validierten Daten aus Fertigungsprozessen in aggregierter Form an das ERP-System weitergegeben und dort verarbeitet werden.
Parallel dazu können Einzelwerte (Zeitreihen) von Prozessdaten übergreifend in großen Datenbanken gespeichert werden, z.B. in sog. Historian-Lösungen oder in dezentralen Cloud-Anwendungen. Auf diesem Wege macht das Unternehmen die gesamten Produktionsdaten zentral verfügbar und kann u. a. den Einfluss bestimmter Parameter auf Produktqualität und Ausbeute statistisch oder mittels KI-Mechanismen untersuchen. Ausgehend von einem ‘Golden Batch‘ werden bspw. retrospektiv mehrdimensionale Verlaufskurven aus den Prozessdaten einer Referenz-Charge erzeugt und prospektiv für die Bewertung des laufenden Herstellungsprozesses eines Auftrags genutzt.
„Zuerst sollten die vorhandenen Systeme bestmöglich miteinander korrespondieren.“
Eine ‘Online-Verfügbarkeit‘ der Informationen bedeutet in diesem Fall, dass Mitarbeiter innerhalb eines Standortes zu jedem Zeitpunkt auf alle für ihren Arbeitsbereich relevanten Daten zugreifen und zum Beispiel Prozessabläufe ablesen und Maschinenauslastungen in Echtzeit überprüfen können. Hilfreich sind in diesem Kontext auch Technologien wie externe intelligente Sensoren für die Datenerfassung, eine Bereitstellung von Daten via WLAN sowie die virtuelle Lokalisierung von Schwachstellen und Erschütterungen im Materialfluss.
Neue Spielregeln für den Technologieeinsatz
In der chemischen Industrie liegt die zentrale Herausforderung bei der Digitalisierung oftmals nicht in der Komplexität des Fertigungsprozesses, sondern in der Varianz des Produktportfolios. Überflüssige Arbeitsschritte, Fehler und Intransparenz ab dem Zeitpunkt, an dem das Produkt die Linie verlässt, stellen hier häufig einen erheblichen Kostentreiber dar. Dementsprechend kann es sich lohnen, auch Anschlussprozesse in der Lagerhaltung und im Supply Chain Management auf Einsatzoptionen für Digitalisierungs-Tools und IoT-Devices hin unter die Lupe zu nehmen.
Bei der Einführung solcher Technologien sind allerdings viele Entscheider – zu Recht – skeptisch: lohnt sich der Aufwand, die Mitarbeiter sowie Zeit und Anschaffungskosten für Innovationen zu investieren, die beim ersten Einsatz schon veraltet sein können? Die Digitalisierung setzt in dieser Hinsicht völlig neue Spielregeln: Hardware wie Sensoren, Kameras und Prozessoren sind zu wesentlich geringeren Einkaufspreisen und bereits mit industriespezifischen Modifikationen erhältlich. Der Einsatz von IoT-Devices wie Sensoren oder Trackingmodulen ist kosten- und planungsseitig einfach realisierbar, etwa beim Containermanagement.
Gemeinsam Wertschöpfungspotenziale aktivieren
Allerdings zeigt sich in der Praxis auch, dass gute Werkzeuge nicht die zentrale Rolle bei einer erfolgreichen Digitalisierung spielen. Diese liegt in der Verantwortung der Mitarbeiter. Und eben dieser Herausforderung müssen sich vor allem die Führungskräfte stellen: Wie bringen sie den Mitarbeitern die Digitalisierung nahe? Wie entkräften sie Ängste und Vorurteile? Was motiviert das Team, gemeinsam neue Wertschöpfungspotenziale zu erschließen? Dieses Umdenken gelingt, wenn die Mitarbeiter frühzeitig in den Prozess der digitalen Transformation miteinbezogen werden und eigene Ideen einbringen können – ganz egal, ob der Anwendungsfall ein 250-Kilowatt-Rührer oder die automatisiere Erfassung eines einzelnen Prozesswerts ist.
Best Practice Beispiel Prozessdigitalisierung: Containermanagement
Einsatzszenario:
Ein Chemieunternehmen bewegt eine Flotte von 500.000 Containern über mehrere Ländergrenzen auf dem Land-, Luft- und Seeweg hinweg. Die Herausforderung: den Verlust von jährlich ca. 3.000 Containern deutlich zu reduzieren.
Vorgehen:
Überwachung des Status aller Behälter sowie Support bei Nutzungs- und Reinigungsprozessen mit Hilfe von IoT-Technologien. Zudem wurde eine betriebseigene Trackinglösung eingeführt, um die Container im Lager schnell auffindbar zu machen.
Ergebnisse:
Signifikante Senkung der Verlustrate, mehr Transparenz und Effizienz beim Reinigungsprozess der Container. Die Anzahl neu erworbener Container ging deutlich zurück, da je Standort transparent ist, welche Container wo verfügbar sind.
ZUR PERSON
Christoph Piller ist seit mehr als 20 Jahren als Berater in der Prozessindustrie tätig. 2011 wechselte er in die MSG-Gruppe und verantwortet dort als Vorstand die Branche Life Science & Chemicals. Seine inhaltlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der digitalisierten Produktion und in der Compliance von IT-Systemen. Seine berufliche Laufbahn begann der studierte Informatiker in der Medizingeräteentwicklung von Roche Diagnostics.