100 Jahre VAA – ein starker Partner für Akademiker
Vom Bund für Chemiker zu Deutschlands größtem Führungskräfteverband
Damit ist er eine der ältesten Arbeitnehmerorganisationen in Deutschland. Heute vertritt der VAA die Interessen von rund 30.000 außertariflichen und leitenden Angestellten sowie hoch qualifizierter Fachkräfte in der Chemie- und Pharmaindustrie. Andrea Gruß sprach mit Hauptgeschäftsführer Gerhard Kronisch über die Anfänge der Akademikergewerkschaft, ihre größten Erfolge und aktuelle Herausforderungen.
CHEManager: Herr Kronisch, die Wurzeln des VAA gehen auf die Zeit der Weimarer Republik zurück. In welchem gesellschaftlichen Umfeld entstand die Vereinigung?
Gerhard Kronisch: Am 10. Mai 1919 haben sich Chemiker und Ingenieure in Halle an der Saale zusammengetan und den Bund angestellter Chemiker und Ingenieure, kurz Budaci, gegründet, aus dem später der VAA hervorging. Es war die Zeit der Arbeitsrechtsgesetzgebung: Damals entstanden das Betriebsrätegesetz, der Vorläufer des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes, und die Tarifsvertragsordnung, der Vorläufer des heutigen Tarifvertragsgesetzes.
Ein wesentlicher Grund für das Bedürfnis der Chemiker nach einer kollektiven Interessensvertretung war die Unsicherheit nach dem Ersten Weltkrieg. Die Industrie lag darnieder. Die Führungskräfte wollten an ihrem Aufbau mitwirken und ihre Arbeitsbedingungen mitgestalten. Die ersten Entwürfe der Tarifvertragsordnung sahen jedoch nicht vor, dass leitende Angestellte Tarifverträge abschließen durften. Doch wie wir wissen, kam es anders: Die Tarifvertragsordnung wurde 1920 verabschiedet und nur kurze Zeit später hatte der Budaci den ersten Reichstarifvertrag für akademisch gebildete Angestellte der chemischen Industrie vereinbart.
Wie hoch war das Gehalt eines Chemikers zu dieser Zeit?
Gerhard Kronisch: Im Jahr 1924 – als sich die Währung nach den Jahren der Inflation wieder stabilisiert hatte – verdiente ein Chemiker 2.880 Reichsmark im zweiten Berufsjahr. Das würde heute etwa 11.200 EUR entsprechen. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 betrug das tarifliche Mindestgehalt eines Chemikers mit Masterabschluss im ersten Berufsjahr etwa das Sechsfache (vgl. Grafik letzte Seite).
Abgesehen davon sind die Akademikertarifverträge heute in weiten Passagen vom Wortlaut identisch mit dem Reichstarifvertrag aus dem Jahr 1920. Bereits damals wurden lange Kündigungsfristen von maximal zwölf Monaten zum Quartalsende bei einer 15-jährigen Betriebszugehörigkeit vereinbart. Weitere wichtige Punkte für Chemiker und Ingenieure waren die 100 prozentige Karenzentschädigung bei Wettbewerbsverboten und die Regelung einer Erfindervergütung. Letztere sind heute im Arbeitnehmererfindungsgesetz geregelt.
Wie ging es weiter mit dem Verband nach der Weimarer Republik?
Gerhard Kronisch: 1933 wurden alle Gewerkschaften, und damit auch der Budaci, gleichgeschaltet. Der Verband löste sich durch Vorstandsbeschluss auf. Mitglieder wurden in nationalsozialistische Strukturen überführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Akademiker in der Chemie 1946 zunächst in einer Unterorganisation der IG Chemie zusammengefunden. ls die Gewerkschaft zum Generalstreik für die Sozialisierung der Wirtschaft aufrief, kam es zum Bruch. Die Akademiker verließen die Gewerkschaft und gründen im Jahr 1948 in Leverkusen, Höchst und Ludwigshafen den Verband angestellter Akademiker als Nachfolgeorganisation des Budaci.
Was waren weitere Meilensteine in der Arbeit des VAA?
Gerhard Kronisch: Der nächste große Schritt für die Organisation war die VAA-Einkommensumfrage. Anfang der 1950er Jahre ist der Aufschwung in Deutschland deutlich zu spüren. Das spiegelte sich auch in den Erträgen der Unternehmen wider, allerdings nicht in den Vergütungen der Akademiker. Der VAA handelte seit 1954 Gehaltstarifverträge für seine Mitglieder aus, die die ersten fünf Berufsjahre tarifierten. Doch was kommt danach? Was ist eine angemessene Bezahlung für außertarifliche Angestellte nach dem fünften Jahr? Zur Beantwortung dieser Frage wurde die VAA-Einkommensumfrage entwickelt. Diese Gehaltstransparenz wurde damals von den Arbeitgebern sehr kritisch gesehen. Man empfand es als ungehörig, dass wir die Einkommen unserer Mitglieder abfragten und miteinander verglichen. Dem VAA wurde sogar das Recht dazu abgesprochen. Den Arbeitgebern gefiel es nicht, dass dadurch die Gehaltsdifferenzen innerhalb der chemischen Industrie offengelegt wurden.
Wie hoch sind diese Einkommensdifferenzen heutzutage?
"In einem Chemiekonzern verdoppelt
sich in etwa das Entgelt eines Chemikers vom
Berufseinstieg bis zur Pensionierung."
Gerhard Kronisch: Bis heute wird die Höhe des Gehalts eines außertariflich angestellten Chemikers stark durch die Unternehmensgröße bestimmt. Mitarbeiter in Unternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten verdienen nach den Ergebnissen unserer Umfrage etwa ein Drittel mehr als Mitarbeiter in kleineren oder mittelständischen Unternehmen. Zudem sind die Karrieremöglichkeiten in Großunternehmen größer, und damit auch die Gehaltsentwicklung. Bei einer durchschnittlichen Karriere in einem Chemiekonzern verdoppelt sich in etwa das Entgelt eines Chemikers vom Berufseinstieg bis zur Pensionierung.
Welche weiteren Erfolge haben Sie für Ihre Mitglieder erzielt?
Gerhard Kronisch: Ein Kernthema, das uns bis heute bewegt, ist die Rolle der leitenden Angestellten im Unternehmen: Sind sie verlängerter Arm des Arbeitgebers oder sind sie Arbeitnehmer? Im VAA herrscht breiter Konsens: Leitende Angestellte sind Arbeitnehmer genau wie Tarifangestellte oder AT-Mitarbeiter. Sie üben jedoch vielfach Arbeitgeberfunktionen aus. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 schloss sie aus der Betriebsverfassung aus. Sie durften sich nicht an der Wahl des Betriebsrats beteiligen. Der VAA setzte sich für eine eigene Interessensvertretung dieser Gruppe ein. Der erste freiwillige Sprecherausschuss leitender Angestellter entstand 1968 in den Chemiewerken Hüls. Fünf Jahre später gab es bereits über 100 freiwillige Sprecherausschüsse, vor allem in der Chemiebranche und in der Versicherungswirtschaft.
Wie viele leitende Angestellte gibt es in der Chemie?
Gerhard Kronisch: In der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist der Anteil der leitenden Angestellten im Verhältnis zur Mitarbeiterzahl relativ hoch. Heute liegt er im Schnitt bei 4 % in Chemieunternehmen, in Pharmaunternehmen zum Teil sogar über 10 %. Das hängt mit der Forschungsintensität der Branche zusammen. In anderen Industriezweigen, zum Beispiel der Metall- oder Automobilindustrie, stellen leitende Angestellten deutlich unter 1 % der Gesamtbelegschaft.
Welche Rolle spielen leitende Angestellte bei der unternehmerischen Mitbestimmung?
Gerhard Kronisch: 1976 trat das Mitbestimmungsgesetz in Kraft. Es regelt, wie Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eines Unternehmens mit mehr als 2.000 Mitarbeitern zu beteiligen sind. Innerhalb der Unternehmensverfassung erkannte der Gesetzgeber die Gruppe der leitenden Angestellten von Beginn an als Arbeitnehmer an. Bis zur Anerkennung der Sprecherausschüsse in der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung war es jedoch noch ein langer Weg. Das Sprecherausschussgesetz wurde erst im Jahr 1988 unter der Regierung von CDU und FDP vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Damit waren die leitenden Angestellten nicht mehr länger aus der Betriebsverfassungsordnung ausgegrenzt. Zu verdanken war dies der erfolgreichen Lobbyarbeit des VAA und der ULA bei der FDP, die ein Befürworter des Gesetzes war.
Seit den 1970er Jahren ist die Globalisierung vorangeschritten. Welche Bedeutung hat Mitbestimmung heute?
"Irgendwo findet der Kampf statt.
Entweder auf der Straße
oder am Verhandlungstisch."
Gerhard Kronisch: Die deutsche Mitbestimmung ist ein Erfolgsmodell. Aus meiner Sicht könnte sie zum Exportschlager werden. Die betriebliche Mitbestimmung über Betriebsrat und Sprecherausschuss sowie die Unternehmensmitbestimmung im Aufsichtsrat ist die beste Gewähr dafür, dass Arbeitnehmerinteressen in einer Weise berücksichtigt werden, die auch den Unternehmen dient. Der letzte Streik in der deutschen Chemieindustrie liegt Jahrzehnte zurück: Die Chemiearbeiter gingen zuletzt im Jahr 1971 vier Wochen in den Ausstand.
Wenn es den Mitarbeitern gut geht, dann geht es auch dem Unternehmen gut. Oder, um es mit den Worten unseres ehemaligen VAA-Vorsitzenden Thomas Fischer zu sagen: Irgendwo findet der Kampf statt. Entweder auf der Straße – wie wir es in Italien oder Frankreich beobachten – oder am Verhandlungstisch. Durch die Digitalisierung gewinnt die Mitbestimmung nochmals an Bedeutung. Die Arbeitswelt verändert sich. Aufgrund flexibler Arbeitsmodelle und durch mobiles Arbeiten steigt die Eigenverantwortung des Mitarbeiters. Eigenverantwortlichkeit und Mitbestimmung sind ganz nah beieinander.
Wie verändert sich Führung vor dem Hintergrund dieser Entwicklung?
"Führung braucht
heute eine neue Vertrauenskultur."
Gerhard Kronisch: Führung braucht heute in erster Linie eine neue Vertrauenskultur. Mitarbeiter, die mobil arbeiten, können nur begrenzt durch Einzelanweisungen geführt werden. Vielmehr gilt es, ein Team zu selbstbestimmtem Arbeiten zu motivieren. Klare Regeln, wer wann und wo mobil arbeitet, können helfen, eine funktionierende Vertrauenskultur zu schaffen. Zudem haben Vorgesetzte darauf zu achten, dass mobiles Arbeiten nicht zu Arbeitsverdichtung oder Selbstausbeutung führt. Ein Vorgesetzter muss diesbezüglich eine Vorbildfunktion einnehmen. Viele Unternehmen haben inzwischen in ihren Leitlinien verankert, dass Vorgesetzte ab einer bestimmten Uhrzeit keine Mails mehr verschicken. Das hat auch einen arbeitsrechtlichen Hintergrund: Leitende Angestellte mit Führungsfunktion sind dafür verantwortlich, dass Mitarbeiter das Arbeitszeitgesetz einhalten.
Das Gesetz stammt im Übrigen aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts und könnte aus Sicht des VAA durchaus flexibilisiert werden. Als Akademikergewerkschaft haben wir hier jedoch nur einen geringen Einfluss. Arbeitsgesetzgebung funktioniert in Deutschland nur, wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Arbeitgeberbände sich einig sind. Das Bundesarbeitsministerium hat daher in den letzten Jahren nur wenige Gesetze im Arbeitsrecht auf den Weg gebracht.
Sie sprachen es bereits an, die Arbeitswelt verändert sich durch die Digitalisierung. Wo sehen Sie hier wesentliche Herausforderungen?
Gerhard Kronisch: Experten stellen die These auf, dass es 80 % aller Arbeitsplätze des Jahres 2030 heute noch nicht gibt. Das bedeutet umgekehrt, dass es viele Arbeitsplätze, die wir heute haben, 2030 nicht mehr geben wird. Hierauf sind die Unternehmen noch nicht vorbereitet. Ich sehe es daher als wichtige Aufgabe der leitenden Angestellten und für uns als Interessensvertretung, das Thema Qualifizierung immer wieder auf den Tisch zu bringen. Wir müssen Sorge dafür tragen, dass Mitarbeiter für die Digitalisierung vorbereitet sind.
Wie kann das gelingen, wenn wir die Arbeitsplätze der Zukunft zum Teil noch gar nicht kennen?
Gerhard Kronisch: Bei der fachlichen Qualifikation gibt es sicherlich noch viele Fragenzeichen. Sicher ist, wir müssen Mitarbeiter fit machen für mehr Eigenverantwortlichkeit, selbstständiges Arbeiten und einen wertschätzenden Umgang miteinander. Führungskräfte von morgen müssen hier eine Vorbildfunktion einnehmen und zudem die Fähigkeit besitzen, Mitarbeiter zu motivieren und ihnen Sicherheit zu vermitteln.
Zur Person
Gerhard Kronisch ist seit dem Jahr 2002 Hauptgeschäftsführer des VAA – Führungskräfte Chemie. Der Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht studierte Rechtswissenschaften an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und in Paris. Er ist bereits seit 1990 für den Verband tätig und baute in den 1990er Jahren das Berliner Büro des VAA auf, dessen Leitung er bis 1997 innehatte.