Reach: Herausforderung und Chanche zugleich
12.02.2012 -
Reach: Herausforderung und Chanche zugleich
Reach kann als eine strategische Chance zum Werterhalt bzw. zur Steigerung des Unternehmenswertes angesehen werden, wenn das Top-Management sich rechtzeitig um die Vorbereitung und Koordination kümmert
Die bisherige Auseinandersetzung mit Reach wurde beherrscht durch Diskussionen über die Komplexität der Gesetzgebung und vor allem über die direkten Kosten, die auf die Unternehmen für eine Registrierung zukommen. Lange Zeit wurde die Beobachtung der Regulierung von der Vorstandsetage in vielen Unternehmen auf die zweite oder dritte Führungsebene übertragen und die Prognose lediglich der direkten Kosten stand im Fokus. Indirekte Kosten von Reach, wie z. B. Aufwendungen für zusätzlich erforderliche zeitliche und personelle Ressourcen oder Anpassungen des IT-Systems etc., wurden nicht in eine Gesamtevaluation einbezogen.
Eher untergeordnet wurde auch der Einfluss des Gesetzes auf das Produktportfolio, damit auf die Ertragslage, auf den Business Plan und daraus folgend auf den Unternehmenswert diskutiert. Schließlich gehört es zu den vorrangigen Aufgaben des Managements, den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern.
- Sind die von Reach betroffenen Substanzen bereits identifiziert, intern inventarisiert und zu erwartende Kosten quantifiziert?
- Ist die Liefer- und Wertschöpfungskette Reach-stabil oder ist mit dem Wegfall von Rohstoffen entlang der Lieferkette zu rechnen?
- Hat das Management eine ausreichende Informationsgrundlage für die durch Reach ggf. anstehenden strategischen Portfolioentscheidungen?
- Lassen sich Preiserhöhungen zur Überwälzung der Reach- Kosten durchsetzen?
- Finden strategische Belange von Reach im Business Plan (direkte und indirekte Kosten müssen berücksichtigt werden) sowie bei Transaktionen (Reach Due Diligence) angemessene Berücksichtigung?
Praxisbewertung nach Zukunftserfolgsverfahren
Zu den in der Praxis am häufigsten angewandten Bewertungsverfahren zählen die Ertragswertmethode und das Discounted-Cashflow-Verfahren. Beide Bewertungsverfahren sind grundsätzlich gleichwertig und führen bei gleicher Prämissensetzung zu identischen Ergebnissen, da sie auf derselben investitionstheoretischen Grundlage (Kapitalwertkalkül) fußen.
Da sich demnach der Unternehmenswert aus dem Barwert der zukünftig den Eigentümern zufließenden Erträge bzw. (Free) Cash Flows aus dem Unternehmen ergibt (Diskontierung erfolgt mit adäquatem Kapitalkostensatz), lässt sich die mögliche Auswirkung von Reach auf den Unternehmenswert ableiten:
Bei etlichen Produkten müssen die erwarteten Cash Flows ggf. revidiert werden, margenschwache Produkte werden durch Reach möglicherweise unprofitabel und müssten konsequenterweise aus dem Produktionsprogramm entfernt werden. Bei geschäftspolitisch möglicherweise unvermeidbarem Festhalten an unprofitablen Produkten ergeben sich dann unter Reach-Einfluss negative Auswirkungen auf den Unternehmenswert.
Unerkannte Tragweite
Die Tragweite und die Betroffenheit in vielen Industriezweigen sind oftmals nicht bekannt oder werden unterschätzt. Viele Mittelständler verwenden Chemikalien oder Zubereitungen in ihren Rezepturen, um ihren Kunden spezielle, individuelle Lösungen anbieten zu können. Oftmals sind die verwendeten Chemikalien kleinvolumige Spezialitäten, in denen häufig auch ein hohes Maß an vertraulichem Formulierungswissen steckt. Damit besteht zum einen die Gefahr auf Kundenseite, dass diese Produkte in der Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen, da sie vom Lieferanten wegen zu hoher Kosten im Vergleich zum Ertragspotential nicht registriert werden.Damit können ganze Produktlinien wegfallen, was bis zur Bedrohung der Existenz eines Unternehmens gehen kann.
Zum anderen besteht die Gefahr der Offenlegung von Betriebsgeheimnissen, die auf Kundenseite möglicherweise zu einer Neuüberlegung bzgl. der Sourcing- Strategie führt. Daher sollten im Rahmen einer professionellen Vorbereitung auf Reach auch die Rechtsbeziehungen einer Reach-Prüfung unterzogen werden:
- Ist die von Reach vorgesehene gemeinsame Nutzung von Stoffdaten unter verschiedenen Verwendern rechtlich ausreichend abgesichert (intellectual property rights)?
- Soweit Registrierungskonsortien vorgesehen sind: Welche tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen sind für Registrierungskonsortien zu schaffen?
- Wurden die bestehenden Verträge der Lieferkette und die eigenen Unternehmens- AGB auf die neuen Pflichten nach Reach angepasst. Sind die rechtlichen Risiken bei Störungen in der Lieferkette aufgrund von Reach abgesichert?
- Insb. bei Transaktionen: Welche rechtlichen Risiken bestehen in der Lieferkette? (“Supply-Chain Due Diligence”)
- Wie ist rechtlich mit Anordnungen und Weisungen der Reach-Agentur im Vorregistrierungs- und Registrierungsprozess umzugehen? Welche rechtlichen Abwehrmaßnahmen gibt es?
Das Anbieterportfolio für Rohstoffe kann und wird sich verändern. Es ist zu befürchten, dass kleinere Lieferanten zukünftig ausfallen, wenn es sich für diese nicht lohnt, selbst zu registrieren und sie keinen Zugang zu Konsortien haben. Somit können auf der Anbieterseite Oligopole oder gar Monopole entstehen. Insbesondere wird Reach auch von Unternehmen ernst genommen, da die „Reach Readiness“ des Zielunternehmens im Rahmen einer darauf zugeschnittenen Due Diligence nachgewiesen werden muss. Wenn diesbezüglich Restbedenken bleiben, kann sich dieser Umstand in verminderter Preisbereitschaft der strategischen Investoren oder der Finanzinvestoren äußern.
Chancen durch Reach
Nach Ansicht vieler Marktteilnehmer und Experten werden diejenigen Marktteilnehmer als Gewinner aus der Reach- Gesetzesinitiative hervorgehen, die sich professionell vorbereitet haben. Welche Chancen können sich aus der Reach-Einführung ergeben?
Aus Abb. 1 wird ersichtlich, dass Reach nicht nur als ein einmaliger Kostenaufwand betrachtet werden kann, sondern nahezu alle wichtigen Unternehmensbereiche nachhaltig betrifft. Von der Rechnungslegung (z. B. Rückstellungsbildung) bis zum Schutz des geistigen Eigentums (Konsortienbildung), von der Einbindung von Reach in die bestehende Compliance-Struktur des Unternehmens, über die Sicherstellung der Lieferkette (Supply Chain Management) bis zum Business Development und der Geschäftsführung (Business- Plan-Revision): Eine einseitige Betrachtung von Reach würde der Tragweite und den inhärenten Interdependenzen sicher nicht gerecht werden. Vielmehr kann nur durch eine ganzheitliche Betrachtung der Einflüsse von Reach auf das Unternehmen der Komplexität Rechnung getragen werden.
Reacheck your Portfolio
Insbesondere Spezialanbieter aus dem Mittelstand der chemischen Industrie mit Jahresumsätzen zwischen 10 und 50 Mio. € zeigen sich nach einer Umfrage von der IKB-Bank besonders durch Reach betroffen. Da gerade die breiter diversifizierten Produktportfolien mitunter eine signifikante Anzahl an un- oder wenig profitablen Produkten enthalten, wäre eine erste Komplexitätsreduktion die Identifikation der margenschwachen oder unprofitablen Produkte (Transparentmachung der Profitabilität auf Produktebene).
Auch das Thema Überkapazitäten könnte auf diese Art und Weise angegangen werden: Wo technisch machbar – könnte Kapazität für hochprofitable Produkte geschaffen und möglicherweise ungenutzte, jedoch vorgehaltene Kapazität für wenig profitable oder gar unprofitable Produkte reduziert werden. Evtl. können auch Kapazitäten abgebaut werden, was die Fixkostenbasis senkt und damit in Richtung der Optimierung des Unternehmenswertes wirkt. Bei einem systematischen Analyse- und Streamlining- Prozess des Produktprogramms ergibt sich in vielen Fällen bereits eine Reduzierung der weiterhin im Produktprogramm verbleibenden Substanzen. Dadurch kann nicht nur die Komplexität reduziert werden, sondern der Unternehmer spart sich zusätzlich die durch Reach veranlassten Kosten für die aus dem Portfolio entfernten Chemikalien.
M&A durch Reach
Als weiterer Punkt innerhalb der strategischen Überlegungen zu Reach sollte auch das globale Wettbewerbsumfeld und die konjunkturelle Situation der Chemie einbezogen werden. Die Transaktionsdynamik in der Chemie hat signifikant Fahrt aufgenommen und die Transaktionsvolumina in den vergangenen Jahren haben stark zugenommen. Die Bewertungen der Unternehmen nähern sich teilweise wieder den Höchstständen aus den Jahren 2000/2001.
Die hohen Multiples, anhaltend hoher Anlagedruck der Private Equity-Branche sowie der von vielen Marktteilnehmern prognostizierte Abschwung der Chemie-Konjunktur ab 2008/2009 dürften schließlich in einigen Fällen die Anteilseigner bzw. das Management anregen, den Unternehmensverkauf als strategische Option in Erwägung zu ziehen und – noch vor dem Durchlaufen der komplexen Reach-Compliance- Prozesse – über die preisoptimale Veräußerung ihres Unternehmens nachzudenken. Der letztgenannte Punkt gewinnt insbesondere bei denjenigen Unternehmen eine besondere Bedeutung, die sich ohnehin durch die Globalisierung der Wertschöpfung und/oder – wie insbesondere in Deutschland zunehmend zu beobachten ist – hinsichtlich der Nachfolgeregelung herausgefordert sehen.