Strategie & Management

Jugend forscht: Auf der Suche nach den MINT-Fachkräften von morgen

Sven Baszio im CHEManager-Interview über den MINT-Nachwuchs in Deutschland und die Rahmenbedingungen für Bildung und Forschung

17.09.2018 -

Jugend forscht ist Deutschlands bekanntester Nachwuchswettbewerb. Gegründet 1965 von „stern“-Chefredakteur Henri Nannen und seit der Gründung der gemeinnützigen Stiftung Jugend forscht e.V. 1975 von der Bundesregierung unterstützt verfolgt die Initiative das Ziel, Jugendliche für die MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu begeistern, Talente zu finden und zu fördern. Pro Jahr gibt es bundesweit mehr als 110 Wettbewerbe und das Bundesfinale, das in dieser Wettbewerbsrunde Ende Mai in Darmstadt stattfand. Dort sprach Michael Reubold mit Sven Baszio, dem geschäftsführenden Vorstand der Stiftung Jugend forscht e.V. über die Wettbewerbsthemen, die Motivation der Jungforscher und die Qualität der MINT-Förderung in Deutschland.

CHEManager: Herr Baszio, das Ziel von Jugend forscht ist es, Jugendliche für MINT-Fächer zu begeistern, aber auch, die Öffentlichkeit für die Bedeutung der naturwissenschaftlich-technischen Themen für den Innovationsstandort Deutschland zu sensibilisieren. Wie bekannt ist Jugend forscht nach mehr als einem halben Jahrhundert?

Sven Baszio: Jugend forscht ist eine sehr starke Marke, mehr als 80 Prozent der Deutschen kennen den Wettbewerb Jugend forscht. Allerdings wissen viele Menschen von Jugend forscht eben nicht viel mehr, als dass es ein Nachwuchswettbewerb ist. Daran müssen wir arbeiten! Und dann gibt es auch immer noch das Vorurteil, dass wir nur etwas für die Besten, für die Überflieger sind. Aber das stimmt nicht. Jeder, der Spaß an Naturwissenschaften hat, ist bei uns richtig. Das müssen wir noch klarer transportieren, gegenüber Schülerinnen und Schülern wie auch gegenüber Lehrkräften.

Glaubt man den Statistiken, ist die Zahl der eingereichten Projekte in den mehr als fünf Jahrzehnten seit Gründung von Jugend forscht kontinuierlich gestiegen und liegt seit fünf Jahren immer über der 5.000er-Marke. Was lesen Sie zwischen den Zeilen, erkennen Sie Trends?

S. Baszio: Wenn wir die Verteilung der Projekte über die Fachgebiete betrachten, zeichnen sich in der Tat einige Trends ab. Favorit war in den in den vergangenen Jahren regelmäßig die Biologie mit mehr als 20 Prozent der angemeldeten Jungforscher. Es folgen die Fachgebiete Technik und Chemie. Auch in der Physik und in Mathematik/Informatik sind wir traditionell immer sehr gut aufgestellt. Unser Sorgenkind, wenn man das so sagen kann, ist momentan das Fachgebiet Geo- und Raumwissenschaften. Hier hätten wir gerne ein paar Anmeldungen mehr.

Können Sie bei den eingereichten Projekten inhaltliche Trends feststellen? Wie machen sich zum Beispiel gesellschaftliche Themen wie Nachhaltigkeit oder Ressourcenschonung bemerkbar?

S. Baszio: Ja, da gibt es einen eindeutigen Trend. Wir stellen immer wieder fest, dass die jungen Forscher aktuelle Themen umgehend aufgreifen. Gerade die heutige Jungforschergeneration ist tatsächlich bereit, Aufgaben anzunehmen, die wir ihnen übertragen. Das gilt auch für die gesellschaftlichen Herausforderungen, die ihnen unsere Generation hinterlässt. Derzeit stehen da insbesondere „grüne Themen“ im Fokus. Die Jungforscherinnen und Jungforscher befassen sich unter anderem mit dem Klimawandel und der Energiewende, aber es geht auch um die Frage, wie wir die wachsende Weltbevölkerung ernähren können. Diese Themen bewegen und beschäftigen die jungen Menschen. Es ist spannend zu sehen, wie nah die Jugend am Puls der Zeit ist.

Was sind denn aus Ihrer Erfahrung die Treiber, woher kommt die Motivation der jungen Forscher? Welche Rolle spielt dabei der familiäre Hintergrund und welchen Einfluss haben die Schulen?

S. Baszio: Gerade haben wir über die großen Fragen und Trends gesprochen. Aber zumeist sind es einzelne Erfahrungen, die die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt, in ihrem unmittelbaren Umfeld machen, die ihr Interesse wecken und aus denen dann ein Jugend forscht-Projekt hervorgeht. Das Schöne ist, dass die Jugendlichen dann in der Regel völlig unbelastet und „unverbildet“ an ihre Fragestellung herangehen. Sie verfolgen sie mit einer gewissen Hemmungslosigkeit – und zwar im besten Sinne. Was im Lehrbuch steht, wird nicht unbedingt akzeptiert, sondern hinterfragt oder sogar zunächst einmal ignoriert. Und dann wird es interessant, denn die Jungforscher entwickeln so oftmals ganz neue, kreative Ideen und erkennen immer wieder auch ganz neue Zusammenhänge.

Bedarf es einer Art Forscher-Gen, um bei Jugend forscht teilzunehmen? Kann man sagen, dass die Jungforscher, die beim Wettbewerb mitmachen, schon mit einer wissenschaftlichen Laufbahn liebäugeln, oder aber durch die Teilnahme dazu animiert werden?

S. Baszio: Es scheint so, denn wir stellen bei unseren Alumni-Programmen, durch die wir mit unseren Ehemaligen in Kontakt bleiben, immer wieder fest, dass neun von zehn Jungforscherinnen und Jungforschern eine akademische Laufbahn einschlagen, ein MINT-Fach studieren und ihre berufliche Karriere dann auch in einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung oder an einer Hochschule starten. Es sind tatsächlich die MINT-Fachkräfte von morgen, die bei Jugend forscht teilnehmen.

Die meisten Jugend forscht-Projekte lassen sich nicht unbedingt zu Hause im Wohnzimmer oder im Garten erarbeiten. Welche Rolle spielen die Schulen?

S. Baszio: Die Schulen sind ohne Zweifel das Rückgrat von Jugend forscht. Vor allem die Lehrkräfte spielen eine entscheidende Rolle. Sie bringen nicht nur ihre fachliche Kompetenz ein, sondern investieren bei der Betreuung der Forschungsprojekte auch viel von ihrer Freizeit.

Derzeit findet ein Generationswechsel statt, weshalb wir eine große Zahl neuer Projektbetreuerinnen und Projektbetreuer benötigen. Leider stellen wir immer wieder fest, wie schwer es ist, Lehrkräfte dafür zu gewinnen, sich ehrenamtlich bei Jugend forscht zu engagieren. Das ist zum Teil verständlich, denn für die Lehrkräfte bedeutet es, dass sie am Freitagnachmittag oder am Samstagvormittag das Schullabor aufschließen und dort mit den Jugendlichen arbeiten. Das steht in keinem Arbeitsvertrag und verdient unseren Respekt. Auf der anderen Seite berichten uns viele Projektbetreuer, wie viel berufliche und persönliche Zufriedenheit sie aus ihrem Jugend forscht Engagement ziehen.

Müsste es in einem Industrieland wie Deutschland nicht eine gesellschaftliche Aufgabe sein, junge MINT-Talente zu fördern?

S. Baszio: Zunächst gilt es, Brücken zwischen schulischen und außerschulischen MINT-Förderinitiativen zu bauen. Hier gibt es leider immer noch einen gewissen Graben, der aus meiner Sicht gar nicht existieren müsste. Als außerschulische Initiative wollen wir den Schulen die Hand reichen und Partner von Lehrkräften sein, die ihre Talente aus der Schule heraus weiterentwickeln und gezielt fördern wollen. Und wir möchten inhaltliche, gestalterische und infrastrukturelle Räume bieten, damit die Jugendlichen ihre Projekte erarbeiten können.

Dazu nutzen Sie Ihr Netzwerk, dem auch Förderer wie Industrieunternehmen und Forschungsorganisationen angehören.

S. Baszio: Rund 250 Unternehmen und Institutionen fördern uns und mehr als 8.000 Ehrenamtliche engagieren sich bei Jugend forscht – das ist die größte öffentlich-private Partnerschaft ihrer Art in Deutschland und meines Wissens nach weltweit einmalig. Unser Netzwerk lebt davon, dass alle Partner an einem Strang ziehen, um MINT-Bildung zu fördern. Durch dieses große und gesellschaftlich so breit verankerte Netzwerk sind wir auch in den Regionen so gut vernetzt, sodass wir jedem Jugendlichen gezielt weiterhelfen können.

Aber nochmals: eine gesellschaftliche Aufgabe wie diese benötigt auch eine breite Unterstützung der Öffentlichkeit. Sie haben begeisterte Jungforscher, Förderer aus Wirtschaft und Wissenschaft, aber es scheint, als stehe insbesondere in Deutschland ein großer Teil der Öffentlichkeit dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt immer noch eher skeptisch gegenüber.

S. Baszio: Meiner Beobachtung nach genießen Forschung und Wissenschaft in fast allen anderen europäischen Ländern ein höheres Ansehen als in Deutschland. Vielen Ländern gelingt es tatsächlich, ihren wissenschaftlichen Nachwuchs zu feiern. Davon sind wir leider noch ein gutes Stück entfernt. Dies lässt sich allein daran ablesen, dass bei dem europäischen Pendant von Jugend forscht, dem European Union Contest for Young Scientists, kurz EUCYS, viele internationale Delegationen mit einem großen Pressetross anreisen. Die Plätze für die deutschen Medienvertreter bleiben jedoch leider regelmäßig leer, weil das öffentliche Interesse offenbar nicht vorhanden ist. Wir haben in Deutschland anscheinend ein Problem damit, den Wert von Wissenschaft und vielleicht sogar den Wert von Bildung allgemein anzuerkennen. Das ist im angelsächsischen Raum und auch in Mittel- und Osteuropa anders, da ist auch die Reputation eines Professors oder eines Lehrers eine ganz andere als bei uns.

Wenn wir schon beim Vergleich mit anderen Ländern sind, müssen wir auch über die Qualität der Bildung generell sprechen, Stichwort PISA-Studien. Sind solche Studien wirklich auch für den MINT-Bereich repräsentativ?

S. Baszio: Eine wichtige Erkenntnis ist sicherlich, dass wir noch mehr für Bildung tun müssen. Dabei geht es nicht zuletzt um ein Mehr an Vernetzung, denn wir haben bereits unzählige Initiativen. Der Verein „MINT-Zukunft schaffen“ hat in ganz Deutschland insgesamt über 16.000 MINT-Initiativen für Schüler gezählt. Das reicht von einem Aktionstag bis zu Jugend forscht. Die Lehrkräfte werden geradezu überwältigt von MINT-Angeboten, erhalten aber zu wenig Orientierung, um diese Informationen zielführend verarbeiten zu können.

Was wir in Deutschland brauchen ist einerseits eine Qualitätsdiskussion darüber, welche MINT-Initiativen greifen, und andererseits eine bessere Vernetzung der vielen qualitativ hochwertigen Initiativen entlang der Bildungskette – einer Bildungskette, die stark ist, die trägt, und die dafür sorgt, dass uns künftig kein MINT-Talent verloren geht.

Ich glaube, es ist eine deutsche Eigenheit, dass wir Angst haben, Qualitätsdiskussionen zu führen. Im Rahmen des nationalen MINT-Forums, in dem auch Jugend forscht Mitglied ist, arbeiten wir gerade daran, Qualitätsstandards zu formulieren. Ich glaube, dass das ein Ansatz wäre, eine gewisse Struktur in dieses System zu bringen und darauf aufbauend eine ineinandergreifende Kette von Initiativen zu bilden.

Aber man darf nicht vergessen: Jede MINT-Initiative braucht zwei Dinge, erstens Geld und zweitens Ehrenamt. Geld ist im MINT-Bereich derzeit reichlich vorhanden. Tatsächlich ist das Ehrenamt die knappste Ressource. Was wir brauchen, sind die ehrenamtlich engagierten Lehrkräfte. Diese für die MINT-Bildung so wichtigen Multiplikatoren sollten als starkes Netzwerk wirken.

Und außer den Lehrkräften, die die Schülerinnen und Schüler ehrenamtlich betreuen, benötigt man noch eine gute Experimentierausrüstung an den Schulen.

S. Baszio: Richtig, aber die Ausstattung der Schulen ist im MINT- Bereich zum Teil leider eher schlecht. Jetzt kann man natürlich nicht erwarten, dass jede Schule so ausgestattet ist, dass sie zu einem Jugend forscht-Stützpunkt werden und durchgehend hochwertige Projekte hervorbringen kann, aber sie sollte eine vernünftige Grundausstattung haben, um guten naturwissenschaftlichen Unterricht zu ermöglichen.

Und wenn Schulen dies nicht leisten können, dann muss unser Netzwerk von außerschulischen Partnern aktiv werden und helfen, dass Universitäten oder Schülerforschungszentren diesen Schülern einen Platz für die Arbeit an ihren Projekten schaffen und ihnen so die Möglichkeit bieten, an Jugend forscht teilzunehmen.

Wir haben in jedem Bundesland einen sogenannten Sponsor Pool, der Mittel an Schüler vergibt, wenn ihre Schulen das erforderliche Geld für Jugend forscht-Projekte nicht selbst aufbringen können. So beschaffte Geräte können die Schulen anschließend weiternutzen.

Sie haben Schülerforschungszentren angesprochen. Was verbirgt sich genau dahinter?

S. Baszio: Schülerforschungszentren erlauben naturwissenschaftlich-technisch interessierten Jugendlichen, ihre eigenen Ideen in Forschung und Technik unter optimalen Bedingungen, insbesondere individuell betreut, über einen längeren Zeitraum umzusetzen. Derzeit gibt es bundesweit rund 100 dieser außerschulischen Lernorte, die ich gerne „Sportvereine für MINT-Athleten“ nenne. Damit immer mehr dieser Einrichtungen in den verschiedenen Regionen entstehen können, haben wir gemeinsam mit der Joachim-Herz-Stiftung einen Konzeptwettbewerb gestartet und so die Gründung vieler neuer Schülerforschungszentren erfolgreich angestoßen.

Wie kommen Sie auf „Sportvereine für MINT-Athleten“?

S. Baszio: Im Sport haben wir Strukturen, die talentierte junge Sportler fördern. In jedem kleinen Fußballverein weiß der Trainer, wen er anrufen muss, wenn er glaubt, ein Talent entdeckt zu haben. Diese Strukturen bis hin zu den Fußballleistungszentren hat der DFB aufgebaut. Im MINT-Bereich haben wir so ein stringentes Fördersystem, in dem Talente von einer Ebene zur nächsten weitergereicht werden, nicht. Aber da müssten wir hin. Bei Fußball-Talenten erwarten wir im Übrigen nicht, dass sie aus dem Schulsport kommen. Im Hinblick auf den MINT-Bereich herrscht hierzulande aber offenbar immer noch die Vorstellung, allein die Schulen seien für die Talentförderung zuständig.

Ich wäre froh, wenn es mit den Schülerforschungszentren zumindest schon einmal flächendeckend „Vereine“ vor Ort geben würden, in denen sich Jugendliche mit Spaß und Talent treffen und unter Anleitung eines „Trainers“ ausprobieren könnten. An diesen Inkubatoren können großartige Projekte entstehen. Uns ist wichtig, dass diese Orte nicht mit einer bestimmten Schulform verbunden sind, denn wir hätten gerne bei Jugend forscht noch viel mehr Anmeldungen von Schülern nicht-gymnasialer Schulformen, weil wir fest davon überzeugt sind, dass auch dort viele MINT-Talente vorhanden sind. Wir haben ein viel größeres Potenzial, das wir derzeit noch nicht effektiv genug ausschöpfen.

Je größer dieses Potenzial und je effektiver die Förderung, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass unter den MINT-Nachwuchskräften auch wirtschaftlich interessierte Jungwissenschaftler sind, die auf Basis ihrer Ideen ein Unternehmen gründen wollen. Da wartet dann die nächste Hürde. Sind die Förderung von Start-ups und die Verfügbarkeit von Risikokapital in Deutschland ebenfalls ein Manko?

S. Baszio: Manko würde ich es nicht nennen, aber wir haben da noch deutliches Entwicklungspotenzial, gerade beim Thema Venture Capital. Die Risikobereitschaft, zu investieren, und die Summen, die als Venture Capital in Deutschland zur Verfügung stehen, sind bei weitem nicht so hoch wie anderswo.

Es gibt zwar öffentliche Förderprogramme, aber die sind schwer zugänglich und kommen gerade für Freigeister wie solche Jungunternehmer zum Teil ein wenig angestaubt daher. Und auch das Thema Pitching hat sich in Deutschland noch nicht ganz so etabliert. Es gibt aber durchaus einige Vereinigungen, die dafür sorgen, dass Investoren mit jungen Gründern zusammengebracht werden. Ich habe bei unseren Alumni die Erfahrung gemacht, dass es denjenigen, die fokussiert sind und die gründen wollen, letztlich auch gelingt, dass erforderliche Geld zu akquirieren.

Kontakt

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