Kohlendioxid als Rohstoff
Ein Umweltproblem wird zur Innovationsquelle für Produkte und Geschäftsmodelle
CO2 ist auf der einen Seite ein Abfallprodukt der industriellen Produktion, andererseits ist Kohlenstoff ein bedeutender Rohstoff der Chemieindustrie. Neue Wege der industriellen CO2-Nutzung bieten Chancen für alternative Wertschöpfungsketten und damit neue Geschäftsmodelle in den beteiligten Industrien.
Maßnahmen zur Reduktion der CO2-Konzentration werden breit diskutiert. Über die Einschränkung der Verbrennung fossiler Energieträger hinaus stellt das Auffangen von CO2 (CC = Carbon Capture) eine weitere Maßnahme dar. Das aufgefangene CO2 würde gelagert (S = Storage) oder weiterverwendet werden (U = Utilization). Bei CCS diskutiert man über das Einlagern von CO2 (Abb. 1, A) hinaus Ideen wie z. B. die Fixierung von CO2 an Gesteine als Carbonate (Abb. 1, B). Die Weiterverwendung von CO2 im industriellen Rahmen (CCU), ein Recycling bereits verwendeten Kohlenstoffs, eröffnet weitere technische Wege und Geschäftsmodelle.
Schon der unmittelbare Einsatz von CO2 umfasst ein weites Portfolio (Abb. 1, C und Tab.1). Der Einsatz von CO2 in der chemischen Synthese eröffnet seinerseits weitere breite Einsatzfelder.
CO2 in chemischer Synthese
Chemische Synthese setzt CO2 über den vollständigen Einbau von CO2 in ein neues Molekül (Abb. 1, D) oder über eine Reduktion von CO2 zu reaktiven C1-Molekülen (Abb. 1, E) ein. Neben der Reduktion von CO2 mit Wasserstoff wird die Entwicklung von photo-, elektro- oder photoelektrochemischen Systemen vorangetrieben. Der signifikant hohe Energiebedarf bei der Reduktion muss konsistenter Weise aus erneuerbaren Energiequellen stammen.
Durch Einbau des vollständigen Moleküls können Carbonsäuren, Carbonate oder Carbamate dargestellt werden. Bekannt ist die Kolbe-Schmitt-Reaktion zur Herstellung der Salicylsäure aus Alkaliphenolaten und CO2 . Durch Entwicklung von geeigneten Katalysatoren will man derartige Reaktionen der industriellen Fertigung näherbringen. Die Erfolge von Covestro bei der Herstellung eines Polyols aus CO2 für das Carbamat Polyurethan sind dafür ein ermutigender Beleg.
Im vom BMBF geförderten Projekt Carbon2Chem mit ThyssenKrupp, Max-Planck-Gesellschaft und Fraunhofer-Instituten wird Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen zur Reduktion von CO2 aus der Stahlerzeugung zur Darstellung von Methanol bzw. den höheren Homologen eingesetzt. Die Dehydration dieser Alkohole liefert das gesamte Spektrum an Olefinen, so dass ein Drop-in dieser CO2-Derivate in die typische Chemielandschaft Downstream des Crackers möglich wird.
Biologie Vorbild industrieller Prozesse
Die Biotechnologie nutzt Enzyme aus Pflanzenzellen zur CO2-Reduktion durch Sonnenlicht oder direkt Mikroorganismen – wie z. B. Algen oder Cyanobakterien – über deren Photosynthese. Algen produzieren ölreiche Fraktionen, während Cyanobakterien Zucker herstellen. Grüne Biotechnologie will dabei Pflanzen so verändern, dass sie möglichst viel Biomasse produzieren (Abb. 1, F), während weiße (oder industrielle) Biotechnologie die Mikroorganismen zur Produktion von industriellen Stoffen optimieren will (Abb. 1, G).
Weltweit haben sich Biotech-Firmen auf Algen oder Cyanobakterien als Biokraftstoff-Produzenten fokussiert. Zum Beispiel verkauft kalifornische Unternehmen Solazyme Algenbiokraftstoff als Mix mit 80 % fossilem Diesel. In Brasilien baut die Firma eine Algenfarm (300.000 t Öl) mit optimierten Algenstämme. Am Standort Berlin experimentiert die US-Firma Algenol mit photosynthetischen Cyanobakterien, die direkt Ethanol produzieren. Unter anderen sind Seambiotic in Israel, Cellana auf Hawaii, USA, Sapphire Energy in Kalifornien, USA, und Cyanotech auf Hawaii, USA, bei Open Pond System aktiv mit Aussicht auf eine günstige Kostenposition an ihren sonnigen Standorten.
Die Firma Synthetic Genomics, die 2005 von den Pionieren der synthetischen Biologie, C. Venter und H. Smith gegründet wurde, will Erkenntnisse bei der Optimierung von Algenstämmen für die Industrie gewinnen. Neben anderen hat der ExxonMobil 600 Mio. USD in die Firma der Genomforscher investiert. Doch die Verluste der Firma LS9 zeigen, dass der biosynthetische Ansatz risikoreich ist.
Im „Algae Science Center“, Mitglied im Bioeconomy Science Center (NRW), werden am Standort Jülich Algen phototroph angezogen, um sie als Grundlage für Biokerosin einzusetzen. Über die Biokraftstoffinitiative Aireg (Aviation Initiative for Renewable Energy in Germany) beteiligen sich auch das internationale Öl- und Gasunternehmen OMV und der Flugzeugbauer Airbus.
Darüber hinaus deutet sich eine Konvergenz von Industriesektoren an. Energieerzeuger auf Basis fossiler Rohstoffe müssen ihren CO2-Ausstoß reduzieren und haben damit einen Rohstoff zur Entwicklung neuer Geschäfte zur Verfügung. So hat sich der Energiekonzern Uniper 2017 aus einem großen CCS-Projekt in den Niederlanden zurückgezogen und verfolgt nun CCU (vgl. CO2 Value Europe Initiative).
Biotechnologie eröffnet
Innovationsmöglichkeiten auf der
Produktseite, für die keine wirtschaftliche
chemische Route existiert.
Neue Geschäftsmodelle
Entlang der CCU-Wertschöpfungskette stehen am Anfang Gewinnung und Aufreinigung des CO2. Aufwand und Kosten werden für den hochangereicherten CO2-Strom direkt an der Immissionsquelle signifikant geringer als für das verdünnte (400 ppm) CO2 aus der Luft sein
(vgl. Abb. 2, Spieler 1).
Die anschließende Konversion von CO2 zu Kohlenwasserstoffen bzw. deren Derivate durch aquatische Mikroorganismen würde das Kernstück der CO2-Wertschöpfungskette darstellen (Abb. 2, Spieler 2). Eine Vielzahl von Faktoren, z. B. Effizienz der solaren Strahlung, Aufwand zur Trennung von Zielprodukt und Wasser, Selektivität etc. bestimmt die Ökonomie dieser Umwandlung. Im Fall geringer Selektivität ginge das Produktgemisch an die Raffinerie, welche Fraktionen für den Treibstoffmarkt bzw. Feed für einen Cracker (Abb. 2, Spieler 3 b) zur Verfügung stellt. Eine engere Spezifikation des Zielproduktes als Cracker Feed ist denkbar. Auch ein vorheriges Abschöpfen von hochspezifischen Produkten wie in einer Bioraffinerie, die sowohl hochwertige kleinvolumige als auch weniger ertragreiche Massenprodukte generiert. Bei einer hoch selektiven Konversion zu einem spezifischen Zielprodukt (Verwendung durch Spieler 3 c in Abb. 2) ist eine frühzeitige Abstimmung mit dem Downstream erforderlich.
Innerhalb der CO2-Wertschöpfungskette könnte der erste Schritt (Abb. 2, Spieler 1) von Herstellern technischer Gase dargestellt, der zweite Schritt (Abb. 2, Spieler 2), die Konversion, von einem Newcomer durchgeführt und die folgenden Schritte (Abb. 2, Spieler 3 a – c) könnten aus der vorhandenen industriellen Struktur bedient werden. Damit verlangt diese Wertschöpfungskette nur an einem Punkt ein neues industrielles Element.
Ausblick
Die Nutzung von
Sonnenenergie und CCU-Technologien
verschafft der Industrie eine breitere
geopolitische Unabhängigkeit.
Initiativen wie CO2 Value Europe (CCU) oder Sunrise (zirkuläre Ökonomie basierend auf Sonnenenergie) treiben die Entwicklung eines Masterplans. Die Chancen sind vielfältig: Biotechnologie eröffnet Innovationsmöglichkeiten auf der Produktseite, wie z. B. die Herstellung von Produkten, für die keine wirtschaftliche chemische Route existiert. Die Nutzung von Sonnenenergie und CCU-Technologien ist dabei nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen sinnvoll, sondern verschafft der Industrie eine breitere Rohstoffbasis und damit eine geopolitische Unabhängigkeit. Als Vorreiter der zirkulären Wirtschaft könnte sich die Industrie zudem einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Die entstehende Sektorkonvergenz (Energie, Chemie) und die zunehmende biotechnologische Ausrichtung der Chemieindustrie werden zu neuen Geschäftsmodellen führen. Deren frühzeitige Analyse und Umsetzung für die existenten Spieler oder etwaige Newcomer stehen jetzt an.
Zur Person
Bernhard Kneißel baute als Director der Global Strategy Group der KPMG sowie zuvor bei Stratley die Competence Group Industrial Chemistry auf. Davor trug er in der Chemie- und Versorgungsindustrie Verantwortung als General Manager bzw. Geschäftsführer.
Martin Gruhlke ist Senior Manager der Global Strategy Group der KPMG. Er leitet Wachstums-, Unternehmensstrategie- und Transaktionsprojekte in der Prozessindustrie sowie in der industriellen Fertigung. Gruhlke studierte Wirtschaftsingenieurwesen sowie Wirtschaftsinformatik und promovierte in Maschinenbau.
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