Die Schwächen des Pharmastandortes Deutschland
Verliert Deutschland in der Schlüsselindustrie Pharma international den Anschluss?
Nach Ansicht von Branchenverbänden muss Deutschland aufpassen, in dieser Schlüsselindustrie nicht den Anschluss zu verlieren. Die Mahnungen zeigen in der Politik zumindest teilweise Wirkung.
Der US-Pharmakonzern Eli Lilly investiert über 2 Mrd. EUR in den Bau eines Standorts im rheinland-pfälzischen Alzey und will zudem 100 Mio. USD in die Förderung der deutschen Life-Sciences- und Biotech-Branche stecken. Mit Investitionen von bis zu 1 Mrd. EUR will der japanische Pharmakonzern Daiichi Sankyio seinen bayerischen Standort Pfaffenhofen in den nächsten Jahren zu einem internationalen Innovationszentrum ausbauen. Und der ebenfalls japanische Pharmakonzern Takeda hat 300 Mio. EUR in seinen Standort Singen investiert, um dort einen Impfstoff gegen die Tropenkrankheit Denguefieber zu produzieren.
Angesichts solcher Großinvestitionen internationaler Pharmaunternehmen scheint es gut um den Pharmastandort Deutschland zu stehen. Tatsächlich bescheinigen ihm Marktkenner gewisse Stärken. So sagt Jasmina Kirchhoff, Pharmaexpertin des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) im Gespräch mit CHEManager (> Link zum Interview). „Es gibt eine Reihe von Pharmaunternehmen, die schon seit Jahren und Jahrzehnten hier am Standort forschen, entwickeln und produzieren. Das würden sie nicht machen, wenn sie hier nicht auch gute Voraussetzungen finden würden. Deutschland ist ein starker alter Chemie- und Pharmastandort. Man kennt sich hier also aus mit der komplexen, anspruchsvollen pharmazeutischen Produktion. Außerdem gibt es wichtige Zulieferindustrien vor Ort.“ Darüber hinaus verweist die IW-Wissenschaftlerin auf den starken akademischen Forschungshintergrund. Die Forschungsinfrastruktur wie auch die Qualität der Forschung würden international geschätzt. Nicht zuletzt fänden Pharmaunternehmen hier gut ausgebildete Fachkräfte.
Forderung nach besseren Rahmenbedingungen
Auch der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) weist darauf hin, dass Deutschland gute Voraussetzungen mitbringe, „eine globale führende Rolle als innovationsstarker und hochproduktiver Pharmastandort einzunehmen“. Das würden die Erfolge bei innovativen Impfstoffen und Medikamenten gegen das Coronavirus unterstreichen. Dennoch haben die Branchenkenner vom VFA einiges auszusetzen. Sie mahnen, dass Deutschland Stück für Stück den Anschluss an die globale Spitze verliere, sofern die Rahmenbedingungen nicht deutlich verbessert würden.
Insbesondere in den wichtigen Technologiefeldern Gen-/Zelltherapien, RNA-Technologie, Biologika, Small Molecules und Impfstoffe sei Deutschland nicht souverän aufgestellt. Die USA und China gingen bei der Entwicklung wichtiger Schlüsseltechnologien mit deutlich höherem Tempo voran und investierten große Summen in ihre technologischen Kapazitäten. Deutschland müsse daher seine technologische Souveränität in den Bereichen Pharma und Biotechnologie dringend stärken. Ansonsten könnten die wachsenden Abhängigkeiten in Forschung und Entwicklung (F&E) und in der Produktion von Arzneimitteln zu erheblichen Schwierigkeiten des Wirtschaftsstandorts führen – mit schmerzhaften Konsequenzen bei der Versorgungssicherheit.
Ein Bereich, in dem diese Schwächen offenkundig werden, sind die klinischen Studien. Hier hat Deutschland – einst weltweit die Nummer 2 nach den USA – in den vergangenen Jahren deutlich an Boden verloren und liegt aktuell global nur im Mittelfeld hinter Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Kanada und China.
Eine Mitte 2023 vom VFA und der Unternehmensberatung Kearney veröffentlichte Studie nennt die Gründe: So gebe es große Handicaps für das Organisieren klinischer Studien, beim Zugang zu Gesundheitsdaten und bei Kooperationen mit der akademischen Forschung.
Das Beispiel Spanien zeigt, dass es auch anders geht. Nach Angaben von IW-Expertin Kirchhoff hat das Land vor einigen Jahren entschieden, den Bereich der klinischen Studien zu stärken. Dazu hat Spanien einige relativ einfache Dinge umgesetzt und bspw. verbindliche Mustervertragsklauseln eingeführt – mit großem Erfolg: Die Zahl der klinischen Studien ist dort in den letzten Jahren stark gestiegen.
Ende März machte auch die Bundesregierung mit der Verabschiedung eines Entwurfs für das Medizinforschungsgesetz den Weg für eine wichtige Reform frei. „Das Medizinforschungsgesetz wird der klinischen Arzneimittelforschung hierzulande endlich wieder neuen Schwung geben, sagte VFA-Präsident Han Steutel.
Zu wenig Wagniskapital
Die Schwächen des deutschen Pharmamarktes zeigen sich auch bei der Finanzierung von Start-ups. Den im internationalen Vergleich nicht sehr ausgeprägten Wagniskapitalmarkt bekommen junge Unternehmen vor allem dann zu spüren, wenn sie in die Wachstumsphase geraten und entsprechende finanzielle Mittel brauchen, die Sie hier aber nur schwer bekommen. Die Gefahr: Die Firmen wandern etwa in die USA ab, weil dort die Forschungs- und Finanzierungsbedingungen besser sind. Wichtiges Wissen geht damit verloren. „Da können wir noch einiges besser machen“, sagt Kirchhoff.
Keine Renaissance bei Generika
Eine offene Flanke zeigt der hiesige Markt auch im Bereich Generika. Ein erheblicher Teil der Produktion ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten nach China und Indien verlagert worden. IW-Expertin Kirchhoff glaubt nicht, dass Deutschland so schnell wieder eine Renaissance der Generikaproduktion erleben wird, zumal abgewanderte Produktion nur schwer wieder zurückzuholen sei. Im Übrigen habe sich an der Struktur des Marktes nur wenig geändert.
Abwanderung gibt es aber auch im Bereich der forschenden Pharmaindustrie. So wird das Mainzer Unternehmen Biontech einen erheblichen Teil seiner Krebsmittelentwicklung künftig in England betreiben. Das Unternehmen sieht dort bessere Rahmenbedingungen: der Zugang zu Gesundheitsdaten ist im Vergleich zu Deutschland einfacher, klinische Studien können schneller umgesetzt werden.
Schwächen in der Translation
Keine gute Figur macht Deutschland auch bei der Translation, also im Übergang von der Grundlagenforschung in die angewandte und klinische Forschung bis zum innovativen Produkt. „Im Vergleich etwa zu den USA sind wir da gar nicht gut“, stellt IW-Frau Kirchhoff fest.
Dagegen zeigt sich auf globalem Level, dass die Produktivität von Forschung und Entwicklung nach der Coronapandemie zuletzt wieder zugelegt hat. Sichtbar wird dies nach einer Untersuchung des IQVIA Institute for Human Data Science in höheren Erfolgsraten, in der Einführung von daten- und technologiebasierten Innovationen, neuartigen Studiendesigns, aber auch in der optimierten Verwendung von Biomarkern sowie digitalen und dezentralen Methoden.
„Ermutigendes Signal“
"Wir müssen an Dynamik gewinnen. Es geht um die Technologiemärkte der Zukunft."
- Han Steutel, Präsident, VFA Verband Forschender Arzneimittelhersteller
Immerhin, auch in Deutschland scheint man auf politischer Ebene die Warnsignale erkannt zu haben. So stellt der VFA fest, dass die von der Bundesregierung beschlossene Pharmastrategie ein wichtiger Schritt sei. VFA-Präsident Steutel: „Es ist ein ermutigendes Signal, dass die Verbesserung des Pharmastandorts zur Chefsache gemacht und von der gesamten Bundesregierung getragen wird. Eine Politik aus einem Guss ist eine große Chance, die Standortbedingungen für die Schlüsselindustrie Pharma schnell und grundlegend zu verbessern.“ Dazu sei es notwendig, die Digitalisierung voranzubringen, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen und vor allem die seit Jahren bekannte Transferlücke zu schließen. Steutel wörtlich: „Die Lehren aus der Coronakrise sind ganz klar: Intensivere Kooperationen von Wissenschaft und Industrie, schnellere Zulassungsverfahren für klinische Studien und ein innovationsfreundlicher Gesundheitsmarkt führen zum Erfolg. Wir müssen an Dynamik gewinnen. Es geht um die Technologiemärkte der Zukunft.“
Thorsten Schüller, CHEManager
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Lesen Sie zu diesem Thema auch das Interview mit Jasmina Kirchhoff, Projektleiterin für die Forschungsstelle Pharmastandort am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW).