Anlagenbau & Prozesstechnik

Blaupause für nachhaltiges Bauen

Drees & Sommer praktiziert Cradle-to-Cradle im Gebäudesektor

16.08.2022 - Auch Gebäude sind wichtige Assets im Rahmen des Green Deal und der Kreislaufwirtschaft in der Chemie- und Pharmaindustrie – und haben im wahrsten Sinne einiges aus Lager.

Im Bestreben, die Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern, werden neue Gebäude häufig luftdicht gebaut, was sich negativ auf die Luftqualität in Innenräumen auswirken kann. Tatsächlich kann die Luftverschmutzung in Innenräumen bis zu fünf Mal höher sein als im Freien. Daher ist es besonders wichtig, auf die Materialgesundheit der Produkte im Innenraum zu achten – verbringen wir doch fast 90 % unserer Zeit in Innenräumen.

Problematische Inhaltsstoffe in Produkten können nicht nur die Umwelt beeinträchtigen, sondern sind immer häufiger auch im menschlichen Körper zu finden. Um ein gesundes Gebäude zu bauen, genügt es daher nicht, gesetzliche Grenzwerte einzuhalten. Stattdessen müssen die eingesetzten Materialien aus positiv definierten Inhaltsstoffen bestehen. Nur so können Gebäude geschaffen werden, die für Mensch und Umwelt vorteilhaft sind.

Wer eine Adresse für nachhaltiges Bauen sucht, wird bei den Oberen Waldplätzen 12, kurz OWP12, in Stuttgart fündig: Am Rande von Stuttgart hat das auf Bau und Immobilien spezialisierte Beratungsunternehmen Drees & Sommer sein neues Headquarter eröffnet, das Klima und Ressourcen schont und als Demon­strationsobjekt für Bauinteressenten dient.
Um mehr darüber zu erfahren, machte ich mich auf nach Stuttgart – natürlich mit meinem rein elek­trisch betriebenen Pkw, die Batterie mit grünem Strom meiner eigenen PV-Anlage vollgeladen.

Neue Fassade spart Platz und erzeugt Energie

Bei der Einfahrt in die Tiefgarage des OWP 12 empfing mich bereits Rino Woyczyk, Partner und Head of Life Sciences Division bei Drees & Sommer, um mir einen Platz an einer der zahlreichen Wallboxen in der Garage zuzuweisen – nicht dass es für mein Auto nötig gewesen wäre, aber eine vollgeladene Batterie ist ebenso wie ein gutes Gewissen ein sanftes Ruhekissen.

Schon bei der Anfahrt hatte ich bemerkt, was das Gebäude so besonders macht: Auf über 100 m2 – und über drei Stockwerke hinweg – erstreckt sich eine Grünfassade, die über das ganze Jahr hinweg verschiedene Pflanzen- und Insektenarten beherbergt. Dieser vertikale Garten filtert Schadstoffe, dämmt den Straßenlärm und wirkt sich positiv auf die Artenvielfalt und das Mikroklima aus. Da das System durch seinen Wasseranteil auch die Fassade kühlt, schirmt es das Gebäude zuverlässig vor Hitze ab. So bleiben die Temperaturen weit unter den Werten, die z.B. bei einer reinen Metallfassade erreicht werden. Bewässert wird die Grünfassade der OWP12 mit Regenwasser, das in drei Zisternen auf dem Gebäudedach gesammelt und über ein Freispiegelgefälle verteilt wird. Elf sommergrüne und weitere immergrüne Pflanzenarten sorgen für ein abwechslungsreiches Erscheinungsbild, unabhängig von der Jahreszeit. Um den strengen Anforderungen an den Brandschutz zu genügen, kommt bei der Grünfassade ein nichtbrennbares Spezialvlies aus Basalt-Glas-Gemisch zum Einsatz.

Kombiniert wird die grüne Außenhaut mit einer modularen Fassade, die gemeinsam mit dem Fassadenbauunternehmen FKN und Evonik entwickelt wurde. Sie braucht wenig Fläche, erzeugt dank Photovoltaikelementen selbst Energie und verfügt über hochleistungsfähige Dämmstoffe. Solche Eigenschaften in einer Fassadenkonstruktion zu vereinen, ist eine Marktneuheit. In der Regel wird Schallschutz nur durch massive und schwere Außenwandbauteile erreicht. Normalerweise kommen bei konventionellen Konstruktionen daher dickere Fassadenaufbauten zum Einsatz, die wiederum wertvolle Nutzfläche verbrauchen. Dank innovativer Materialien, darunter vor allem nachhaltige Dämmstoffe, weist die Fassade ausgezeichnete Wärmedämm- und Schalldämmwerte auf – und das mit einer thermischen Hülle von nur 90 mm Aufbau.

So ist die Fassade unter Berücksichtigung der Fotovoltaikelemente in Summe nur 210 mm dick. Zum Vergleich: Eine konventionelle Konstruktion hätte einen Gesamtaufbau von mindestens 400 mm. Die eingesparte Fläche kann sinnvoll anderweitig genutzt werden. Da die Paneele nicht brennbar sind, ist die Hochleistungsfassade nach Brandschutz-Klassifizierung sogar für den Einsatz im Hochhausbau geeignet.

 

Kreisverkehr statt ökologischer Einbahnstraße

Damit der Ressourcenverbrauch und das Abfallaufkommen möglichst gering ausfallen, verwirklicht Drees & Sommer mit dem Tochterunternehmen und Umweltberatungsinstitut EPEA für die OWP12 in weiten Teilen das Cradle-to-Cradle-Prinzip, einen Ansatz für eine durchgängige und konsequente Kreislaufwirtschaft: Die im Gebäude verbauten Materialien können bei Rück- oder Umbau in ihre Stoffkreisläufe zurückgeführt und in hoher Qualität für neue Bauvorhaben wiederverwertet werden. Voraussetzung ist dabei das richtige System- und Produktdesign der eingesetzten Materialien. Deren chemische Beschaffenheit muss so sein, dass später keine Schadstoffe in Rezyklate und Umwelt gelangen – sprich: gesunde Baumaterialien sind Voraussetzung für eine echte Kreislaufwirtschaft und kommen gleichzeitig den Nutzern im Gebäude zugute.

Ressourcenpass dokumentiert alle Bauteile

Welche Bauprodukte und -materialien genau eingesetzt werden, wie groß ihr ökologischer Fußabdruck ist und welchen Wert die eingesetzten Materialien haben, wird in einem Gebäude-Ressourcenpass festgehalten, der von EPEA entwickelt wurde. Er erfasst nahezu jede Schicht, jede Tür und jeden Balken und dokumentiert genau sämtliche Materialeigenschaften. Um diese Menge an Informationen beherrschbar zu machen, werden die Daten mit BIM (Building Information Modeling in einem digitalen Zwilling des Gebäudes verknüpft. Damit wird nicht nur der Planungs- und Bauprozess erleichtert: Wenn das Gebäude am Ende seiner Nutzungszeit um- und rückgebaut wird, liegt automatisch ein digitaler Plan mit allen wichtigen Informationen vor. Über den jeweiligen Wert der Rohstoffe gibt das Online-Materialkataster Madaster Auskunft, das mit internationalen Rohstoffbörsen vernetzt ist.

Schnell zum Gebäude durch modularen Bau

Zahlreiche Gebäudeelemente lassen sich in der Halle und in Serie vorfertigen. Wer auf ein solches modulares vorgefertigtes Bauen setzt, kann bei der Planung, Produktion und Montage erhebliche Zeit- und Kostenvorteile und bessere Arbeitsbedingungen und mehr Umweltfreundlichkeit realisieren. Im Bereich der technischen Gebäudeausrüstung (TGA) sind modulare Lösungen bislang allerdings rar. Statt heute 80 % der Bauteile vor Ort zu verarbeiten und nur 20 % vorzufertigen, muss sich das Verhältnis für mehr Effizienz künftig umkehren, um Bauprojekte schneller zu realisieren.

Gemeinsam mit Würth, dem Weltmarktführer für Befestigungs- und Montagetechnik, hat Drees & Sommer daher ein neuartiges Modul entworfen. Es beinhaltet Elemente der technischen Gebäudeausrüstung, wozu bspw. Heizungs-, Klima- und Elektrotechnik zählen. Alle Bauteile wie Rohre, Kanäle, Elektro-Trassen oder Ventile sind kreislauffähig und damit rückbaubar, lassen sich wetter- und ortsunabhängig in der Halle herstellen und können dann just in time zur Baustelle geliefert werden. Durch die vorgefertigten Technikmodule wird die Montage vor Ort auf ein Minimum reduziert und beträgt keine 30 Minuten mehr – eine herkömmliche Installation der Komponenten des TGA-Moduls dauert hingegen bis zu 12 Stunden.

Alles im grünen Bereich

Das Potenzial des nachhaltigen Bauens ist riesig und wird bisher noch kaum ausgeschöpft. Dabei sind Immobilien ein Kernpunkt, wenn es um das Thema Energieeffizienz geht – gemäß Umweltbundesamt zeichnen Gebäude für etwa 35 % des Endenergieverbrauchs hierzulande verantwortlich und verursachen rund 30 % des Kohlendioxidausstoßes. Weltweit geht der Weltklimarat IPCC gar davon aus, dass 40 % der Emissionen auf Immobilien zurückgehen. Dazu kommt die graue Energie, die beim Herstellen und Transportieren von Baumaterialien anfällt. Noch steckt die Bauwirtschaft in einem ökologischen Schneeballsystem fest – es werden Ressourcen der Zukunft benutzt, um für die Gegenwart zu bezahlen. Dass es auch anders geht, zeigen kreislauffähige Plusenergiehäuser wie das OWP12.

Autor: Volker Oestreich, CHEManager

 

Nachgefragt: Kurzinterview mit Rino Woyczyk, Partner und Head of Life Sciences Division bei Drees & Sommer.

 

Energiew(a)ende im Gebäudesektor

Neuartige Fassade erzeugt Energie und schluckt Schall

Der Neubau des Headquarters von Drees & Sommer soll allen modernen Anforderungen für Umweltfreundlichkeit und Digitalisierung gerecht werden. Ein Highlight ist die platzsparende und nach Prinzipien der Materialkreislaufplanung konzipierte Gebäudehülle, die den Energieverbrauch auf ein Minimum reduziert, selbst Energie erzeugt und zugleich den sehr hohen Anforderungen an den Schallschutz genügt. CHEManager-Redakteur Volker Oestreich sprach dazu mit Rino Woyczyk, Partner und Head of Life Sciences Division bei Drees & Sommer.

CHEManager: Was war der Grund für die Bauweise Ihres neuen Headquarters in Stuttgart?

Rino Woyczyk: Wir beraten Kunden wie man Gebäude digital, flexibel und effizient plant, baut und intelligent betreibt und dabei streng auf Umweltfreundlichkeit achtet. Was sich bewährt und wirtschaftlich rechnet, beweisen wir unseren Kunden am besten, indem wir es selbst testen und dann umsetzen.

Der Gebäudesektor hat eine besondere Verantwortung für Umwelt und Klima: Er ist für mehr als ein Drittel der CO2-Emissionen und rund 50 % des Ressourcenverbrauchs verantwortlich. Längst geht es nicht mehr nur um Rendite, sondern vor allem darum, welche Antworten wir unserer Umwelt geben. Ökonomie, Ökologie und Soziologie – das ist der Dreiklang, der die Zukunftsmusik bestimmt.

Was hat es mit Recycling im Gebäudesektor und Urban Mining auf sich?

R. Woyczyk: Nach Umbau- oder Abrissarbeiten landen wertvolle Materialien auf dem Müll, obwohl sie für neue Projekte dringend benötigt und teuer bezahlt werden. Mit unserem Tochterunternehmen, dem Umweltberatungsinstitut EPEA, konzipieren wir kreislauffähige Produkte und sogar ganze Gebäude. Cradle to Cradle heißt dieses Prinzip, das den Häuserbestand als ein riesiges Materiallager von Ressourcen versteht, die wiederverwertbar sind: Beton, Mauerstein, Stahl, Holz, Kunststoff. Bislang blieben diese verborgenen, aber recyclingfähigen Schätze in Konstruktion und Anlagentechnik weitgehend unberücksichtigt. Die Einstellung dazu ändert sich gegenwärtig. Neben dem gesellschaftlichen Druck macht auch der Gesetzgeber immer neue Auflagen wie beispielsweise künftig Materialausweise für Gebäude, die genau dokumentieren, welche Materialien verbaut werden. Diese Ausweise setzen wir heute schon ein.

Cradle-to-Cradle und Urban Mining – lohnt sich das?

Rino Woyczyk: Investitionen nach dem Cradle to Cradle-Prinzip mögen zunächst zwar höher ausfallen als bei konventionellen Gebäuden. Über den gesamten Lebenszyklus betrachtet rechnen sich die anfänglichen Mehrkosten jedoch und machen nach unseren Berechnungen sogar eine Wertsteigerung des Gebäudes von bis zu zehn Prozent möglich. Das für die Baustoffe gebundene Kapital geht nicht länger verloren, sondern wird ähnlich einer mittel- bis langfristigen Wertanlage bei Umnutzung oder Rückbau wieder freigegeben – zudem schon bilanzierbar mit der Baufertigstellung. Die Immobilie wird damit zu einer echten Materialbank, deren Wert in Zeiten einer sich verschärfenden Rohstoffknappheit zudem noch kontinuierlich steigen könnte – und zwar überinflationär.

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